Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Die pariser Niederlage

Herr Kellogg hat den gespendeten goldnen Füllfederhalter eingesteckt und ist wieder abgefahren. Die Unterzeichnungszeremonie ist vollzogen. Die Welt hat ein feierliches Dokument mehr. Der Krieg ist exkommuniziert, gehört jetzt den Vögeln in der Luft, den Fischen im Wasser. Die Kriegsministerien aller Länder werden schon dafür sorgen, daß dieser Outlaw heil und nicht allzu hungrig über den ersten Schrecken kommt.

Für die meisten der Staaten war die Unterzeichnung nur ein Höflichkeitsakt, nachdem das mächtige Amerika die Anregung gegeben, und erst Rußlands Anmeldung verleiht weltpolitische Wichtigkeit. Nur in Deutschland erwartete man mehr als moralische Fruktifizierung. Der Erfolg ist ausgeblieben. Deutschlands Zustimmung zum Pakt geschah mit überschneller, fast gewaltsamer Geste. Die zum Brudergruß (oder zum Heimsen?) ausgestreckte Hand blieb leer. Die Niederlage ist eklatant.

Es war bei alledem nicht überflüssig, daß Stresemann den französischen Ministerpräsidenten aufgesucht und seiner körperlichen Beeinträchtigung diese anderthalb Stunden schärfster Konzentration abgezwungen hat. Gewiß dürfte grade Poincaré für den deutschen Kollegen Verständnis haben, der ja, wie er selbst, erst spät seine nationalistischen Anschauungen moderiert und den Weg zur europäischen Versöhnung mehr aus realpolitischer Kalkulation denn aus brennender Überzeugung sucht. Aber diese gewiß recht sympathischen Gefühle für einen von Sorgenbürde bedrückten Kollegen haben Herrn Poincaré nicht konzessionsbereiter gemacht. Er denkt nicht daran, in eine frühere Rheinlandräumung ohne Gegenleistung einzuwilligen, und positive Angebote dürfte Stresemann, der in Deutschland vorwiegenden Stimmung entsprechend, kaum gemacht haben.

Es läßt sich nicht verschweigen: die deutsche Politik hat sich wieder einmal totgelaufen. Die vor dem Eintritt in den Völkerbund erträumte Arbiterrolle bleibt den bewährten Stars unter den Nationen vorbehalten. Im Gewimmel von Genf wird regelmäßig die in Berlin zurechtgebügelte Haltung zerknittert. Auch Herr Hermann Müller, ein umsichtiger Fraktionspapa, aber als Kanzler ein Stück Malheur, wird nicht reüssieren, wo Stresemann und Schubert nicht durchdrangen.

Der pariser Besuch ist eine diplomatische Schlappe. Deutschland steht wieder isoliert. Nirgends denkt man an Abrüstung. Nirgends sieht man im Völkerbund oder im Kelloggpakt verläßliche Stützen, überall sucht man Schutz in Sonderverträgen und Allianzen. Während die Interparlamentarier in Berlin tagten, brach verstörend die Nachricht von dem englisch-französischen Marineabkommen herein. Die Kommentare aus Downing Street suchen abzuschwächen. Danach soll der Vertrag nur eine Defensivmaßnahme sein und im Endzweck sogar der Abrüstung dienen, aber was nicht offiziös erzählt wird, klingt fataler. Da ist die Rede von einer Einigung über die maritime Kontrolle auf allen Meeren der Welt. Gemeinsam wollen beide arbeiten im atlantischen und pazifischen Ozean, besonders auf der Route Rotes Meer – China. Das bedeutet Ankoppelung Frankreichs an Englands überseeische Schicksale. Geteilt werden soll die Bewachung des Mittelmeeres, und da Frankreich die westliche Hälfte zufällt, so heißt das nicht weniger als die Ausschließung Italiens aus der Gemeinde der Heiligen. Auch ohne diese pessimistischen Gerüchte hat man den neuen Flottenvertrag in Rom so verstanden und mit erschrecklichen Verwünschungen auf das rote Frankreich beantwortet. In England ist die Opposition nicht wenig erregt und verlangt Veröffentlichung des Textes, da sie in dem Abkommen die offene Affrontierung Amerikas sieht. Daß die Möglichkeit eines englisch-amerikanischen Krieges nicht nur zu den Angstvisionen vereinzelter Schwarzseher gehört, beweist das unlängst auch deutsch erschienene Buch des sehr nüchternen Labourabgeordneten Kenworthy »Vor kommenden Kriegen«, wo dieser trüben Eventualität ein paar aufschlußreiche Kapitel gewidmet sind.

Die deutsche Politik ist wieder zwischen sämtliche vorhandenen Stühle geraten. Die englische Regierung hat ihr die eilfertige Zustimmung zu Kelloggs Vorschlag als pressierend verübelt. Man sah darin eine Option für Amerika, und es scheint überhaupt, als habe Herr Schurmann die Nachfolge Lord d'Abernons in der höhern Beratung der Wilhelmstraße übernommen. Man wirft sich in Berlin immer der jeweils größten Macht an den Hals. Rußland dagegen ist durch Aufbauschung der Donezaffäre verstimmt worden, während sich Frankreich durch die Anschlußpropaganda chokiert fühlt und kaum in die frühere Rheinlandräumung einwilligen wird, ehe nicht ein Ost-Locarno die Beziehungen zu Polen saniert. Grade hier aber wird die deutsche Politik obstinat, und auch die gewieftesten Rapprocheure kriechen wieder in die muffigen Unterstände des Nationalismus zurück. Man wird um eine Auseinandersetzung über diese Frage nicht dauernd herumkommen. Die heutige deutsche Ostpolitik ist unmöglich: bald wird der kleine Woldemaras stark gemacht, bald werden Projekte ausgeheckt, ihn gegen territoriale Gegenleistung an Warschau auszuliefern. England und Frankreich haben sich wiedergefunden, nicht nur im Flottenabkommen, sondern auch auf dem trockenen Boden eines gemeinsamen Rheinlandmanövers. Das ist die Auferstehung der Entente cordiale, und ihr Patron ist Sir Austens Stellvertreter Lord Cushendun, ein Diehard mit dem verbissenen Jingotum des irischen Orangeman, der zwar als Person antiquiert wirkt und in seiner Sprache wie eine Reliquie aus der Zeit Paul Cambons und Lord Fishers, der aber immerhin die Leitung des Auswärtigen Amtes in der Hand hat. Da man ihn gewähren läßt, ist doch wohl anzunehmen, daß er sich in der Linie der allgemeinen Kabinettspolitik hält.

So bleibt augenblicklich nur noch die diplomatische Chance, sich bei Italien und seinen Satelliten anzusiedeln, neben Horthy und Achmet Zogu. Damit kämen wir wieder in die Nachbarschaft der weißen Diktaturen, und darin mag wohl eine tiefere Bedeutung liegen. Die nationale Presse unterdrückt denn auch wieder mannhaft die Tränen um Südtirol. Daneben läuft noch die kleine private Spekulation des Herrn von Seeckt, der gern als Nachfolger Sthamers nach London gehen möchte. Das hieße: Eingliederung Deutschlands in Englands antirussisches System. Der Geschlagene von Münsingen hat seinen Feldherrnruf durch einen Zeitungsaufsatz rehabilitiert, in dem er seine besondere Methode entwickelte, Krieg zu machen, ohne die rote Revolution in den Nacken zu bekommen. Wer einen so begehrten Artikel führt, kann auf internationale Sympathien auch dort rechnen, wo man den frühern kaiserlichen General und Organisator der Schwarzen Reichswehr nicht liebt. Er geht im Auswärtigen Amt ein und aus, behandelt dort als Supernumerar militärische Fragen und lernt nebenbei Botschafter. Seeckt, der Ehrgeizige und Revanchelustige, deutscher Vertreter beim Kabinett von St. James? Eine halsbrecherische Übung. Seit Delcassé nach Petersburg ging, hat es keine diplomatische Mission mit verhängnisvolleren Aspekten gegeben.

Die Weltbühne, 4. September 1928


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