Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Ernst Glaesers erster Roman

Ernst Glaesers Roman »Jahrgang 1902« ist in diesen Tagen bei Kiepenheuer in Potsdam herausgekommen. Die Leser der ›Weltbühne‹ haben im Laufe dieses Jahres zwei Kapitel daraus kennengelernt: »Pfeiffer« und »Das Schützenfest«. Vielleicht bin ich nicht der rechte Mann, um das fertige Buch zu beurteilen, von dem mir vor Monaten schon Bruchstücke vorgelegen haben, Bruchstücke, in die ich mich hemmungslos verliebt habe, weil mir dieser Klang einzig schien in jener Generation, die heute gemütlich über die Schwelle der Literatur säuselt und den Eindruck erweckt, als lebten wir schon in einem neuen Biedermeier.

Jener Glaeser ist vor ein paar Jahren durch ein frühes Drama bekannt geworden, das die kasseler Richter in Bewegung setzte, aber die berufenen Kunstrichter ziemlich unbewegt ließ. Sturm und Drang; eine mit Explosivstoff bestrichene Visitenkarte, die bei der Berührung etwas knatterte, aber nicht sehr viel. Bald darauf traf man ihn im Feuilleton der ›Frankfurter Zeitung‹ wieder und zweifelte zunächst ein wenig an der Identität. Denn nichts erinnerte hier mehr an die dramatische Insurrektion, die, wenn mich mein Gedächtnis nicht verläßt, dem Herrn Ankläger Gelegenheit gab, darin Gotteslästerung, grobe Unzucht oder ähnliche Leckerspeisen von der juristischen Frühstückskarte zu entdecken.

»Jahrgang 1902«, das ist ein programmatischer Titel, denn es geht hier um diejenigen, welche zunächst dran gewesen wären, wenn der Krieg etwa noch weitergegangen wäre. Sie waren 1914 zwölf Jahre, ihr gehirnliches Erwachen, ihre Pubertät fällt in den Krieg. Als sie sich erstmalig umblickten, war Deutschland eine blockierte Festung, ihre Lebensfreude war auf Kohlrübenfutter standardisiert, und als sie in das Alter kamen, wo die Jungen sonst, des häuslichen Alltags und der Schule überdrüssig, planen, nach Amerika auszurücken, siehe, da trat Amerika in den Krieg ein. Von ihren Erschütterungen, ihren frühen Ernüchterungen, von dem kalten Paroxysmus des Hungers, der schließlich den heißen des Patriotismus abgelöst hatte, handelt Glaesers Roman.

Der Vergleich liegt nahe mit dem andern Kriegsroman, der vor Jahresfrist von ganz Deutschland als ein spätes Hochgericht über die »große Zeit« empfunden wurde: mit Arnold Zweigs »Grischa«. Beide Bücher treffen sich im sittlichen Empfinden, in der Abneigung gegen den Krieg. Aber sonst sind sie grundverschieden. Bei dem Jüngern fällt der Verzicht auf die Arabeske in die Augen; er unterstreicht oder verwischt nicht, er egalisiert, es ist kein Verweilen, der Blick ist gradeaus aufs Ziel gerichtet. Aber der Wille, der diese Galoppade, dies unermüdliche Vorwärtssprengen aushält, ist großartig. Der Stil ist scharf und schnell. Es gibt kein Pathos, keine anklägerischen Tiraden, aber so wie die Erwachsenen, die diese Welt angerichtet hatten, in Großmäuligkeit und Kleinmut, in ihrer seelischen Zwitterhaftigkeit festgehalten werden, das ist viel schrecklicher als Karikatur oder gewollte Verzerrung: das ist eben die Wahrheit, wie sie ein paar unbestechliche Knabenaugen sahen.

»Wir waren ganz unsern Augen ausgeliefert. Was wir sahen, haben wir behalten«, schreibt Glaeser. Er beansprucht nicht, einen Roman geschrieben zu haben. Vielleicht hat er recht, und es ist nur eine Folge von Bildern und Charakteristiken. Aber ich glaube es ist mehr: nämlich eine Bestandsaufnahme der Figuren und Gesichter seiner Phantasie. Niedergeschrieben, um selber einmal klar zu sehen. Es ist schwer, solche Fragen zu beantworten und vor allem bei einem jungen Autor voll von Möglichkeiten, und wir wollen uns nicht bei Formproblemen aufhalten. Roman oder nicht, man müßte plumpe Sinne haben, wenn man hier nicht den Dichter ahnte. Dies Buch, manchmal abrupt, manchmal gehetzt, ist ein junges Meisterstück. Es holt nach, was die deutschen Romanschreiber bisher übersehen haben: wie die Heimat im Krieg war.

Die Weltbühne, 2. Oktober 1928


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