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In Genf beginnt Anfang Mai wieder eine jener internationalen Konferenzen, die eigens dazu erfunden zu sein scheinen, um öffentlich darzutun, wie sehr alle Internationalität noch in den Kinderschuhen steckt. Während Handel, Industrie und Technik übernationale Verbindungen geschaffen haben, die auch der rabiateste vaterländische Stammtisch nicht übersehen kann, humpeln die Führer von Politik und Wirtschaft hinterdrein, um Das, was ohne ihr Zutun geworden ist, nunmehr zu Nutzen des Friedens zu kodifizieren. Da aber grade die Herren der erdkreisumfassenden Wirtschaft im eignen Kral die schofelsten nationalistischen Krähwinkeleien aushecken und die dümmsten Chauvinblätter auf die Menschheit loslassen, so sind sie auf internationalem Forum am gehemmtesten, und wo die schlichte Vernunft in unverbogenen Worten den Ausschlag geben könnte, da muß eine wässerige Diplomatik des Ausdrucks, die kein positives Ergebnis aufkommen läßt, Rückversicherungen gegen die Geister schaffen, die sie zu Haus selbst bezahlen. Deshalb wird auch diese sogenannte Weltwirtschaftskonferenz im günstigsten Fall nicht über unverbindliche Konversationen hinausführen. Unter den deutschen Delegierten befindet sich auch Herr Hermes, der gekippte Finanzengel von 1923, dem inzwischen die Schwingen wieder nachgewachsen sind. Jedes andre Land hätte diesen Unglücksvogel zur Warnung kommender Geschlechter ins Panoptikum gestellt. Deutschland schickt ihn als Repräsentanten ins Ausland. Und vielleicht werden wir ihn bald als preußischen Minister wiedersehen.
Vor ein paar Jahren hätte so eine internationale Wirtschaftsbesprechung noch als Auftakt und Verheißung eine gewisse Bedeutung gehabt. Gut, hätte man gesagt, wenn schon nichts Praktisches dabei herauskommt, so lernt man sich doch kennen, Vorurteile werden abgeschliffen und, vor Allem, es wird eine bestimmte, für die Zukunft günstige Atmosphäre erzeugt. Heute genügt das aber nicht mehr. Denn man hat sich inzwischen so gut kennen gelernt, daß man sich schon fast wieder satt hat, und was die Atmosphäre anbelangt, so haben ein halb Dutzend reisender Breitscheide verschiedener Nationen davon so viel entwickelt, daß es eigentlich dringend nötig ist, mal wieder die Fenster zu öffnen. Gebot grade dieser Wochen ist nicht koulantes Verschleiern von Tatsachen, sondern dürre Konstatierung. Aus London prasselt ein Nachrichtenhagel über eine neugeplante englisch-französische Entente unter Patronanz der Vereinigten Staaten und der Besuch des Präsidenten Doumergue in England soll zur Einweihung bestimmt sein. Das würde eine völlige Umgruppierung in der Konstellation der Mächte, eine kleine Eindämmung von Mussolinis außenpolitischer Aktivität bedeuten, aber auch eine neue Koalition gegen Rußland und ein englischer Versuch zudem, Teilhaber für ein schlechtes Chinageschäft zu gewinnen. Wird Frankreich, das sich in den chinesischen Fragen bis jetzt weise zurückgehalten und gegen Moskau zu seinem Nutzen nur seinen eignen Interessen gemäß gehandelt hat, wirklich auf diesen Leim kriechen? Es ist kein Zweifel, daß England in der Gesellschaft Mussolinis und einiger Randstaatenbravos sich auf die Dauer weder einladend noch vorteilhaft flankiert sieht und wieder Anschluß an eine europäische Großmacht sucht. Es ist auch kein Zweifel, daß die Baldwinregierung, die vielleicht schon im Herbst in sehr erregten Wahlen vor dem Volke nicht nur das Chinaabenteuer, sondern auch eine wahrhaft katastrophale Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verantworten haben wird, nach einem außenpolitischen Erfolge Ausschau hält. Aber es darf dabei eines nicht vergessen werden: in all diesen Jahren hat bei jedem wichtigen Anlaß der alte englisch-französische Gegensatz sich immer stärker erwiesen als die papiernen Stipulationen oder der offizielle Komplimentenaustausch. Mag England wirklich versuchen, zur Wahrung seines Besitzstandes in der Welt die französische Diplomatie zu einer Art von Heiliger Allianz zu verpflichten; grade der französische Geist ist für solche Metternichstreiche der ungeeignetste Partner, und ganz automatisch wird, wie immer, die Hemmung einsetzen, wenn die Probe aufs Exempel gemacht werden soll. Daß man dies projektierte Abkommen »Entente« nennen will, zeugt von keiner glücklichen Hand und kennzeichnet nur die innere Unsicherheit. Weil die Sache hohl ist, muß für den Namen eine glorreiche Reminiszenz herhalten. Doch das gefundene Wort riecht modrig, denn die Welt ist anders geworden. Als die alte Entente abgeschlossen wurde, waren mindestens zwei Kontinente noch voll von Freigut; da gabs noch etwas zu teilen. Und heute? Nein, dieser frische, frohe Imperialismus, wie er in der alten Entente verkörpert war, findet für seine Tüchtigkeit kein Feld mehr. Er ist ja längst defensiv geworden: er erobert nicht mehr, sondern muß sich selbst seiner Haut wehren. Deshalb berührt es auch ein wenig komisch, wenn aus London berichtet wird, Briand und Chamberlain seien sich darin einig, daß Mussolinis Tatendrang zur Entlastung Jugoslaviens vom Balkan abgelenkt und nach Kleinasien umgeleitet werden müsse. So einfach ist das doch nicht mehr. So einfach läßt sich die Vorkriegssprache doch nicht mehr anwenden. Denn es gibt, im Gegensatz zu früher, keine Ausbeutungssphären mehr, die sich stumpf und schweigend in Besitz nehmen und auspressen ließen. Auf ein Stück Landkarte in Afrika oder Asien ein europäisches Fähnchen pflanzen, das bedeutet nicht ruhigen Genuß, sondern: Rebellion, Krieg und nochmals Krieg! Frankreich hat das in Marokko, in Syrien erfahren, und nichts Bessres wird Mussolini erleben, wenn er seine durch leichte Siege über Redaktionen und Gewerkschaftshäuser verwöhnten Rizinussoldaten nach Arabien oder Syrien schickt. Der Imperialismus rechnet nur mit Erz- und Öllagern, und nicht mit den Menschen. Diese Menschen aber sind in Bewegung gekommen; die Sklaven haben ein Gesicht gewonnen, ein böses, revoltierendes Gesicht. Die europäischen Mächte aber möchten noch immer, wie einst, Weltverteilungssyndikat spielen. Doch ist ihre intuitive Kraft ebenso dahin wie die Forschheit der Muskeln.
Wieder eine Umgruppierung im Mächtesystem. Die wievielte seit 1918? Ja, die wievielte nur seit einem Jahr? Die letzte Entwicklung zeigte Frankreich isoliert, die kleine Entente im Zerfall, England an der Seite Italiens, bei wachsendem Einfluß in Polen und den Randstaaten und immer enger mit Amerika liiert. Jetzt soll wieder umrangiert werden. Selbstverständlich nur, um dem friedlichen Ausgleich zu dienen. Jetzt soll unter Englands Vermittlung Polen von Amerika Geld bekommen, in Ostasien durch geschlossenes Zusammenwirken der Großmächte ein Status geschaffen werden, der den Freiheitswünschen Chinas entspricht und zum Überfluß auch durch französisches Entgegenkommen eine englisch-russische Verständigung angebahnt werden. Damit wären alle zufrieden und dem definitiven Ausbruch des goldnen Zeitalters stände nichts mehr im Wege. Der Eine kriegt Geld, zwei Andre vertragen sich, und Mussolini wird nach Asien abgeleitet. (Zwar las man noch vor einer Woche, daß England über die französisch-russische Annäherung sehr verstimmt sei. Was tut das?) Mögen die Auguren aus den Vogeldärmen die Gründe für diese jähe Häufung von Glücksfällen erkunden, uns will scheinen, daß das Bündnissystem der letzten Jahre anfängt, in ein manisches Stadium zu treten. Die Verträge überpurzeln sich. Ihre Bedeutung scheint an die Saison gebunden und endet mit ihr. Diese Diplomatenarbeit diagnostiziert dem Erfahrenen nicht die Gesundung, sondern die schwere Erkrankung Europas. Denn die Verträge binden nicht, sie zersetzen; sie nehmen jedes Richtmaß für die Entwicklung; sie verpflichten jeden Partner auf so viel Kontrakte, daß er schließlich keinen mehr als Realität empfindet. Es gibt nur ein Bündnis, das gut und organisch gewachsen wäre: das deutsch-französische. Das wäre die erste und einzige unter allen alten und neuen Allianzen, die sich nicht gegen einen Dritten richtet. Es wäre die Allianz für Europa.
Die Weltbühne, 26. April 1927