Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Kreml und Vatikan

Zeitungen kolportieren ein moskauer Gerücht, daß Tschitscherin amtsmüde sei und demissionieren wolle. Klatsch oder Tatsache?

Die feinste aller politischen Künste wird in Moskau ausgeübt von einem stillen Arbeitsmenschen, der die auswärtigen Angelegenheiten dieses ganz isolierten Staates zu führen hat, dessen Tendenz ist, seine frisch erlebte Revolution durch die ganze Welt zu tragen, der aber andrerseits Verträge schließen, um wirtschaftliche Annäherungen, um Sympathien werben muß wie andre, wie kapitalistische Staaten auch. Das ist eine in ihrer Zwiespältigkeit aufreibende Aufgabe, die oft zu Ränke, oft zu falschen Freundschaftsgrimassen, aber öfter noch zu ehrlichen Seufzern zwingt, wenn der revolutionäre Elan der Dritten Internationale grade dann ein Feuerwerk abbrennt, wenn der Diplomat mit Brustton Ruhe garantiert hat.

Das ist lange Zeit bald richtig, bald schief gegangen, und heute gelingt den Russen nichts mehr. Der innere Unfriede zwingt zu sehr lauter Sprache; um die radikalere Opposition zu depossedieren, wird ein revolutionärer Taumel entfacht, der störend in die Zirkelzüge der Außenpolitik tritt. Es ist bezeichnend, daß an die Stelle Tschitscherins immer mehr der geräuschvollere und witzigere und zum Affichieren von Propagandaparolen weit besser geeignete Litwinow in den Vordergrund tritt. England und Frankreich sind, einstweilen, verloren. Um jede einzelne Macht hat Tschitscherin mit Herkuleskräften gekämpft. Erfolglos. Und wenn nicht alles trügt, kann er jetzt auch Deutschland auf die Verlustliste schreiben. Seit der Verhaftung der deutschen Ingenieure, in Verbindung mit dem Donez-Komplott, folgt eine Absage der andern. Den Reaktionären, die seit dem Sturze Seeckts und der Aufdeckung geheimer militärischer Manipulationen den Spaß an der russischen Freundschaft ohnehin verloren haben, folgen jetzt die Liberalen. Die Politik von Rapallo, der sie einst Hymnen sangen, wird gründlich abgebaut. Die prominentesten demokratischen Vertreter dieser Richtung verkünden heute enttäuscht, daß ihre Hoffnungen nicht erfüllt seien und es überhaupt unmöglich wäre, mit den Russen Politik zu machen.

Die Klagelieder sind nicht klüger als einst die Jubelchöre. Rapallo war keine staatsmännische Leistung, sondern ein Bluff, ein fehlgeschlagener Versuch, die Westmächte durch Verbrüderung mit dem roten Mann zu schrecken. Erster Effekt war damals, daß Lloyd George willkommenen Vorwand fand, Wirth-Rathenau die Verantwortung für das Scheitern der Konferenz von Genua aufzuladen. In Deutschland aber entstand ein neues gefährliches Gefühl, bei den Versuchen, die Friedensverträge zu zerreißen, sekundiert zu sein – die Politik, die zum Ruhrkrieg führte, ist an einem frostigen Morgen in einer Villa von Santa Margerita geboren worden. Während in der Folge die äußern Beziehungen zu Rußland demonstrativ gepflegt wurden – immer um die Westmächte zu ärgern–, wurde innenpolitisch der Kurs gegen Moskaus linksradikale Freunde immer bösartiger. Während man um Moskau glühend warb, nannte Reichsrichter Niedner, auf dem curulischen Sitz thronend, Rußlands Fahne »Sowjetlappen«. Heute blasen die demokratischen Blätter, die eigentlich Herrn Tschitscherin erst entdeckt und seinen Weltruf gemacht haben, zum Rückzug. Jetzt scheinen ihnen alle Bemühungen vergeudet, die wirtschaftlichen Ergebnisse und die Chancen für die Zukunft gleich Null. Und alles wegen der Verhaftungen am Don. Ferdinand Timpe hat hier im vorigen Heft den russischen Standpunkt dargelegt. Man mag den für unberechtigt halten, aber braucht deswegen den Russen den guten Glauben nicht abzusprechen. Denn schließlich liegt über keinem andern Land ein so enges Spionagenetz, und Sabotage ist kein leerer Wahn bei einer jungen, schwachen, von aller Welt befehdeten Wirtschaft, die noch dazu auf ausländische technische Instruktoren angewiesen ist. Existiert das ganze Industriekomplott aber nur in gewissen neurasthenischen Vorstellungen der G.P.U., so sollte doch nicht vergessen werden, daß auch bei uns eine sehr vornehme Behörde der Verratriecherei manisch verfallen ist, und daß man billigerweise von den russischen Inquisitoren nicht mehr Klugheit, Einsicht, Weitläufigkeit und Gefühl für außenpolitische Zusammenhänge verlangen kann als etwa von Herrn Jörns.

So wird unter die östliche Orientierung ein Strich gesetzt. In Genf nur assistiert Bernstorff noch ein Mal Litwinow. Es ist das Abschiedsbenefiz einer Politik, die sich selbst ihren Lorbeer spenden mußte, weil sich kein andrer zahlender Bewunderer fand. Deutschlands Unterstützung der radikalsten Abrüstungsforderung, die je gestellt wurde, gilt nicht als Empfehlung. Es will die Ablehnung abwarten, um dann freie Hand für neue Aufrüstungswünsche zu haben, so munkelt man. Ist aber die östliche Orientierung erledigt, was dann? Wir werden auf der Hut sein müssen! Der Gedanke liegt nahe, daß das Foreign Office den aus der Rapallo-Trunkenheit Erwachenden mit Vergnügen ein kleines Katerfrühstück servieren wird.

Alles das ist für den Kreml nicht sehr glücklich. Dazu hat ihm die schroffe Behandlung der Opposition viel moralisches Gewicht geraubt. So kann sein Friedensangebot leicht als Impromptu mephistophelisch blitzenden Hohnes ausgelegt werden. Aber welcher Art die Motive auch sein mögen, nicht vergessen werden kann ein Satz wie der: »Im Laufe von vier Jahren nach dem Inkrafttreten dieses Übereinkommens werden alle organisatorischen Einheiten und der ganze Personalbestand der Landheere, Kriegsmarinen, Luftstreitkräfte, sowohl in den Mutterländern, wie in den überseeischen Besitzungen aufgelöst und ihre Existenz in Zukunft nicht mehr zugelassen, weder in offener noch in versteckter Form.« So und nicht anders wird die Schlußformel der Generalabrüstung einmal aussehen.

 

Zwei Gestirne sind auf ihrer engen Bahn zusammengestoßen: Mussolini und die Kirche. Die Tragödie der Kirche, daß ihre Strahlungen durch die Welt kreisen, daß sie durch den Wohnsitz ihres Oberhauptes aber eine Lokalangelegenheit der Stadt Rom und außerdem ein Gegenstand der italienischen Nationalpolitik ist. Vielleicht begreift bei diesem Konflikt auch der Nichtkatholik zum ersten Mal den Sinn ihres Verlangens nach einem weltlichen, staatsrechtlich beglaubigten Territorium. Und daß, immer von der katholischen Seite gesehen, das Wort von dem »Gefangenen im Vatikan« doch mehr bedeutet als eine weinerliche Phrase zur Füllung von Opferstöcken. Ein Mal mußten sie kollidieren, Vatikan und Fascismus. Sie wohnen auf zu schmalem Raum zusammen, und gleichen sich zu sehr in ihren Ansprüchen. Natürlich war der Anlaß klein. Der Papst sprach seine Mißbilligung aus über eine von katholischen Jugendverbänden unterlassene Devotion, und Mussolini reagierte sofort echt napoleonisch mit dem Verbot aller kirchlichen Jugendorganisationen und was etwa damit zusammenhängt.

Wahrscheinlich wird der Heilige Vater trotz des schweren Affronts sich zunächst darauf beschränken, gegen Mussolini zu beten. Denn der offene Konflikt würde bald zeigen, über wie viel reale Kraft die Römische Kurie noch verfügt, und dieser Probe dürfte sie ausweichen. Seit Jahrzehnten bestand ihre Stärke vornehmlich darin, sich bei weltpolitischen Komplikationen neutral zu halten. Das verlieh ihr gewaltige Autorität und hier konnte sie auch ihre genialen diplomatischen Fertigkeiten spielen lassen, sie, die über die älteste Diplomatie der Welt verfügt. Bricht der Kampf aber aus, so werden wir etwas namenlos Beispielhaftes erleben – den Kampf zwischen der absoluten Idee und dem absoluten Biceps. Dies Duell braucht für Mussolini nicht gut auszugehen, denn die heilige Kirche war in der Wahl der Verbündeten niemals sehr prinzipiell. So wie die Päpste der Renaissance die Küsten beider Sizilien von türkischen Galeeren brandschatzen ließen, so wird die Diplomatie ihres spätem Nachfolgers den Weg zu Freimaurern, Liberalen und Sozis finden.

Aber dennoch dürfte die Kirche versuchen, das Jusqu'au bout zu meiden. Nicht nur, weil das Dulden ihr immer besser stand als das Verfluchen, sondern auch, weil ... die Sache trotzdem nicht ganz sicher ist. Die Kirche hat nicht nur ihr triumphierendes Canossa erlebt, sondern auch Spaltung und babylonische Gefangenschaft, und mehr als ein Mal haben fremde Krieger die Engelsburg geplündert. Schließlich ist es auch den Konkurrenzen schlecht gegangen. Der griechische Patriarch mußte vor den Bolschewiken ducken, das Kalifat ist aufgeflogen. Kapitalismus und Sozialismus entgöttlichen die Welt gleichermaßen. Und wer weiß, ob nicht schließlich der Fascismus, der Konservator aller Reaktionen, durch eine jener nicht sehr seltenen welthistorischen Ironien dazu ausersehen ist, das zu vollenden, was den roten Jakobinern bisher nicht gelungen ist? Diese Ironie kennt die Kirche sehr wohl, und sie hat oft genug von ihr profitiert. Aber sie besitzt mehr Selbsterhaltungstrieb als Humor, und deshalb dürfte sie gern auf die Probe verzichten, ob der Geist der Geschichte auch in diesen prosaischen Zeiten noch zu einem witzigen Seitensprung zu haben ist.

Die Weltbühne, 3. April 1928


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