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Der Farmer Langkoop war gewiß sein Lebelang rechtschaffen wie Michael Kohlhaas und wäre doch beinahe wie dieser einer der entsetzlichsten Menschen seiner Zeit geworden. Sein Mißverständnis: er wollte einen Beamten entgelten lassen, was der Staat gesündigt. Von dem schrecklichen anonymen Etwas, Staat genannt, hatte er keinen Begriff. Daß der Staat, der Wahrer von Besitz und Schirmer der Ordnung, seit Jahren von Expropriationen lebt, das konnte er nicht wissen. So verkannte er, daß durch neue festgefügte Tatsachen sein guter Rechtsanspruch zum baren Unsinn geworden war. Und um diese Tragikomödie würdig zu schließen: – der Geheimrat, sonst Urtyp bibbriger Weltfremdheit, bleibt kühler, nervenstarker Realist, während der verzweifelte Kämpfer ums Recht in seiner Handtasche nicht nur Sprengstoff, sondern auch den Moder verjährter Texte und Titel mitschleppt, die besser in Ordnung sind als die Höllenmaschine, aber ebenso wenig funktionieren. Die geht nicht los, und der arme Höllenmaschinist wird abgeführt. (Ein Schmollis dem Herren Kollegen, der in einer Augenblicksbesichtigung frappante Ähnlichkeit des Attentäters mit Pirandello feststellte.)
Es gibt viele Liquidationsgeschädigte, und wir haben Wahlzeit, und die Parteien sind deshalb sehr beflissen, Anklagen zu rollen und Hilfe zu versprechen. Aber auch die Herren von Links, die heute anheimelnd die Arme ausstrecken, werden morgen als Regierende etwas von »tragischer Notwendigkeit« und »Opfer bringen alle« murmeln. So unerbittlich kann der Staat sein, der Panzerschiffe baut, zur Stärkung des Nationalgefühls Filme dreht und auf Kosten seiner Zensiten Speck räuchert. So bleibt dem armen Langkoop nichts als die allgemeine Sympathie. Handelte es sich um einen armen Erdarbeiter, so wäre nicht einmal die sicher, und die gleichen Blätter, die Langkoop melodramatisch exploitieren, würden über Proletenfrechheit und kommunistische Hetze greinen. Aber Farmer, das klingt so erzgermanisch, so beruhigend unproletarisch. Zudem wollte der Mann keine Bettelsuppe, sondern 100 000 Mark. Er verlangte kein Almosen, sondern ein rundes Stück Kapital. Ein selten stubenreiner Fall von sozialer Auflehnung also. Der Pirandellobart wächst zu Cheruskerlänge.
Möge der unglückliche Langkoop weder Richter finden, die ihn zum Anlaß für ein Exempel nehmen, noch solche, die die Urteilbegründung benutzen, um einen Sehnsuchtsschrei nach Kolonien in die Welt zu gellen.
Gemessen an den ungeheuren Umwälzungen der Zeit erleiden auch die Südtiroler nur ein Privatschicksal. Sie sind brave, fromme und sehr unrebellische Leute; ihr Verbrechen besteht darin, sich ihre Muttersprache nicht abgewöhnen zu können. Deshalb sollen sie zertreten werden. Denn der Fascismus lebt von imaginären Gegnern. Mussolini, dieser Napoleon des innern Krieges, braucht immer neue Gegner, um an innenpolitischen Marengos und Wagrams seine Sendung zu erhärten. Die Fiktion der ewigen Bedrohung gehört zu den Lebensnotwendigkeiten des Fascismus, grade so wie die Moskauer das weiße Gespenst über die rote Mauer huschen lassen, wenn irgend eine Bilanz schlecht aussieht.
Nicht verkannt soll werden, daß die Aufregung der klerikalen Partei in Österreich nicht viel mehr ist als ein Krakehl für die Galerie. Monsignore Seipel ist ein viel zu sicherer schwarzer Stein auf dem Felde der europäischen Reaktion, als daß er grade gegen Italien mehr als Verwahrungen deklamieren könnte. Das aber spricht wieder für Mussolinis unverfälschtes Cäsarentum: – den schwächlich gespielten Aufruhr seiner Trabanten dämpft er mit echten Tritten. Es ist wie bei der Komödie: die Statisten, die mit dem ersten Helden fechten, dürfen ihn um Himmelswillen nicht berühren, er aber versetzt richtige Stöße und Püffe, und die armen Teufel kriechen braun und blau in die Kulissen.
Daß Mussolini, immer für großzügige Expedition, auch den Völkerbund gleich mit abseifte, erweckte törichte Hoffnungen auf ein ernstes Wort in Genf. Man hat es nicht gehört, aber in den Couloirs, wird versichert, werde Italien scharf kritisiert. In den Couloirs! Auch unser Stresemann hält sich an das Wort Larochefoucaulds, daß sich nichts leichter ertragen läßt als das Mißgeschick unsrer Mitmenschen. Wo ist das vor dem Eintritt in den Bund verheißene machtvolle Wort für die unterdrückten nationalen Minderheiten geblieben? Heute tut man sich bramsig im Rat der Großen und überhört im Konzert der Mächte das kleine, hilfeheischende Kinderstimmchen von der Etsch. Nicht so viel Druckerschwärze hat die nationalste Presse dafür übrig, wie für den Autonomistenrandal von Hagenau. Alle Energien für leidende Minoritäten konzentrieren sich auf – Ungarn.
Die Regierung Bethlen zieht sich aus der Waffenschmuggelaffäre mit blauem Auge. Eine Untersuchung wird erfolgen, die keine »Investigation« sein soll und – was gilt die Wette? – kaum eine flüchtige Kontrolle werden wird. Der Optantenstreit aber ist wieder vertagt worden.
Wie dreist und gottesfürchtig spielt dieser kleine, eisenstarrende Raubstaat den armen Krüppel! Was für täuschende Herztöne zwischen unverschämten Provokationen! Dabei ist der Optantenkonflikt ein mindestens ebenso kräftiges Stück wie der Vorfall von Szent-Gotthard. Leider gibt der bisherige Verlauf den Budapestern Recht. Denn gegen Rumänien sind in Genf eigentlich alle gewesen. Es ist hier manches Unfreundliche gegen den rumänischen Staat und seine Gewalthaber gesagt worden, umso lieber soll anerkannt werden, daß Minister Titulescu dies Mal die bessere Sache vertrat. Denn die rumänische Bodenreform, typisch für die Agrarpolitik der Sukzessionsstaaten überhaupt, ist eine volkstümliche Maßnahme gegen den Großgrundbesitz. Deshalb die internationale Koalition. Deshalb auch die Animosität der deutschen Politik, die eben noch, den Großagrariern zu Liebe, eine ziemlich überflüssige harte Geste gegen das kleine, immer friedliche Estland unternommen hat. Herrn Titulescus Sträuben gegen ein Schiedsgericht mag taktisch falsch sein. Aber es heißt den großen Gedanken der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit um den Kredit bringen, wenn er dazu herhalten muß, volksfreundliche Gesetze eines Staates im Effekt zu schwächen. Daß Herr Stresemann, der ja ein Freund der Fürstenabfindung war, sich jetzt auch für eine besonders reichliche Entschädigung der durch die rumänische Agrarreform betroffenen ungarischen Herrschaften einsetzt, braucht nicht zu verwundern, obgleich er so viel Energie für die deutschen Liquidationsgeschädigten und Aufwertungsopfer noch nicht gefunden hat.
Der ungarische Delegierte Tanczos ist bei der M.G.-Affäre mit einer Offenheit, die die münchener Dorfpolitiker neidgelb machen könnte, herausgeplatzt, daß das Verhältnis Ungarns zu seinen Nachbarstaaten »keineswegs ausgezeichnet« sei. Eine plumpe Herausforderung, die Titulescu in Hitze brachte und die schwierigen Debatten erst entfesselte; man schien sich vorher unter der Hand schon einig geworden zu sein. Einen Versuch zur Sanierung des ungarischen Gefahrenherdes hat jetzt Herr Benesch unternommen mit dem Plan eines zentraleuropäischen Locarnos. Ein wenig aussichtsvoller Plan, in dem man in Deutschland, zum Beispiel, nur ein neues Attentat gegen den Anschluß sieht und mehr nicht. Unsre deutschen Linksleute täten gut, einmal ihre phlegmatische Auffassung von Horthys Ungarn etwas zu revidieren. Vor ein paar Tagen schrieb die ›Prager Presse‹: »Was vollends den letzten Zweifel an dem Wesen der politischen Orientierung Ungarns hinsichtlich seiner Nachbarn benimmt, ist die leidenschaftliche Unruhe, die in dieser Politik bemerkbar wird, so oft es im Völkerbunde oder in der europäischen Politik überhaupt zu einer breitern Lösung des Sicherheitsproblems kommt, und so oft die Möglichkeit in den Vordergrund tritt, daß irgendein Staat zu einem guten Verhältnis zu seinen Nachbarn gezwungen würde.« Das ist sehr scharf und richtig ausgedrückt, wenn auch das offiziöse prager Blatt aus Gründen der Höflichkeit weder die Ursachen andeutet noch Konsequenzen zieht. Denn dies Ungarn Horthys und Bethlens treibt nicht für eignes Plaisir und Risiko eine Politik, die jedem andern der Besiegtenstaaten lange den Hals gebrochen hätte. Es ist heute der wichtigste und skrupelloseste Preisfechter der europäischen Reaktion, die hier für den in Mitteleuropa gottseidank allmählich aussterbenden nationalistischen Banditismus den letzten Naturschutzpark geschaffen hat und mit vielen Unkosten erhält. Deshalb muß Ungarn äußerlich isoliert bleiben, ein erniedrigtes, beleidigtes, wundenbedecktes Land. Rumänien verteidigt, und uns scheint mit Recht, seine Agrarreform als innere Angelegenheit. Bedeuten die Morde, die Gemetzel, die Notenfälschungen der ungarischen Tyrannis weniger als die Schädigungen einiger Grundbesitzer durch Geldentwertung? Zwischenstaatliche Organisation ist heute nicht mehr wegdenkbar. Aber sie wird zum Unfug und Unrecht, wenn das von einem Staat in eignem Haus vergossene Blut sie nicht in Bewegung setzen darf, wohl aber die fürs Gemeinwohl geschehene Zerschlagung von Latifundien. Der weiße Block, von London gestiftet, von Mussolini getragen, stellt sich schirmend vor Ungarn. Briand resigniert, und was er Kritisches einwendet, Unbehagliches fragt, ist mehr Neckerei als Ernst. Und Gustav Stresemann hält aus diesem Anlasse seine beste Rede für die Sicherung des Weltfriedens. Damit Ungarn in seiner heutigen Wohlgestalt erhalten bleibe, damit es weiter seine Nachbarn bedrohen, weiter Waffen verschieben kann. Dafür – dafür ...!
Wird die alte Methode der englischen Politik, sich Hetzhunde zu halten, um durch Uneinigkeit der Andern die eigne Allmacht zu sichern, nicht doch einmal irgendwo einen irreparablen Rückschlag erleiden? In China hat sich das Prinzip nochmals bewährt. Aber in Arabien beginnt jetzt eines der sonst gern gebrauchten Instrumente sich selbständig zu machen, jener Ibn Saud, der Wahabitensultan, Herrscher im Nedsch, durch Vertreibung König Husseins auch im Hedschas, Herr der arabischen Wüste also wie der Rotenmeerküste mit den heiligen Stätten. Ein durchtriebener Despot eines religiös fanatischen Wüstenvolkes, der sich im Krieg klug neutral hielt und nachher von der englischen Politik benutzt wurde, um die neuen unter ihrer Hoheit stehenden Reiche Hedschas und Irak in Schach zu halten. Jener geniale Abenteurer Lawrence, der den Aufstand der Wüste gegen das Osmanenreich organisierte, hatte auf ein Großarabisches Reich unter Feissals Führung mit Damaskus als Kapitale gesetzt. Doch England fand es besser, Arabien in Stücke zu schlagen, und Lawrence zog sich erbittert zurück. Nun droht die Saat aufzugehen. Der Mächtigste und Unabhängigste der Wüstenkönige droht gegen die kleinen, künstlich klein gehaltenen Konkurrenzen zu Felde zu ziehen, um mit Blut und Eisen den großarabischen Gedanken durch Eroberung der englischen Satrapien Irak und Transjordanien zu verwirklichen.
Und abermals Aufruhr in der Wüste. Und in Kairo wird auf den Straßen gekämpft. Auch dies Mal hat allzu brutales Vorgehen die Erhebung gespornt. Plänkelnde Nomaden, die sich um Dörfer balgen und von der Rigorosität moderner Grenzziehungen nichts wissen, haben wiederholt verbotene Zonen betreten. Dafür wurden zur Züchtigung Fliegergeschwader ausgesandt, die über die armen braunen Krieger und ihre Weiber und Kinder in elenden Lehmhütten gewiß herrliche Triumphe davongetragen haben. Das hat die Wahabiten zum Widerstand entflammt. Wer darf heute Erniedrigter, wer Besiegter sein? Die Ruhe ist aus der Welt, das Dulden nicht mehr da. Über den Kuppelhorizont des genfer Theaterhimmels flammt wieder Rot, und Verheißungen kommender Abrechnungen werden laut, gegen die das klassische Vae victis! wie ein Engelsgruß klingt.
Die Weltbühne, 13. März 1928