Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Die Schuldebatte

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Reichskanzlers Doktor Marx, im Reichstag nicht das Wort zu nehmen, wenn es sich um die politischen Herzensangelegenheiten seiner Person und seiner Partei handelt. Das Schund- und Schmutz-Gesetz, ein schwarzes Dekokt mit dem sichtbaren Firmenstempel des Zentrums, mußte der Herr Doktor Külz verteidigen und bei der Gelegenheit die unansehnlichen Reste seiner liberalen Reputation einbüßen. Für das Schulgesetz steht der kurmärkische Protestant v. Keudell gerade. Herr Doktor Marx hat sich in der ganzen Kampagne bisher darauf beschränkt, auf dem Katholikentag von Dortmund seinem Volke den Wunsch der Herren Bischöfe mitzuteilen. Einen politisch-religiösen Kompetenzkonflikt gibt es für den gewesenen republikanischen Präsidentschaftskandidaten nicht. Roma locuta, causa finita.

Man kann eine schlechte Sache mit schlechtem Gewissen geistvoll verteidigen. Das sind welsche Advokatenkniffe, für die kein Raum ist in deutschem Gemüt. Der Herr v. Keudell hat die schlechte Sache sicherlich mit dem allerbesten Gewissen vertreten, aber, by Jove, wie hat er sie vertreten! Ein ungewandter Redner mag stottern – auch Camille Desmoulins hat gestottert – aber trotzdem kann in seiner Art sich zu geben oder in seiner Gedankenführung etwas sein, was zum Aufmerken zwingt. Doch hier stotterte nicht nur der Mann, hier stotterte schon das Manuskript, aus dem er vorlas. Der sachliche Teil dieser, sagen wir mal ... Rede war kaum ein Achselzucken wert, während die Schlußpartie mit ihren hilflosen Versuchen, das Gesetz weltanschaulich zu fundieren, ein Bombardement mit faulen Eiern rechtfertigte. »Die rechte Entwicklung eines Menschen ist nur möglich, wenn sie zurückgeht auf die Quellen des Ewigen. Dieser Grundgedanke hat die Reichsregierung bei ihrem Entwurf geleitet ... Das Volk hat einen Anspruch auf ein erneutes Bekenntnis seiner Regierung zu den Grundgedanken der christlichen Kultur. Wahre Freiheit besteht nur da, wo der Mensch gebunden ist an Gott.« Welches Parlament auf der Welt ließe sich so ranzige Traktätchen vorsetzen, ohne mit knallenden Türen zu reagieren? Und unter den 50 Millionen Deutschen sind mindestens 25, die es sich nach Art ihrer Schulbildung oder legitimiert durch persönliches Bemühen um bessere Bildung, Wissen, gestuften Geschmack durch Lektüre verbitten können, von Regierungsseite mit dem Abfall von pietistischen Abfällen regaliert zu werden.

Herr v. Keudell jedoch erhielt »Beifall rechts und in der Mitte«, und ihm folgten Fraktionsredner, die sich eifrig mühten, auf das also gedrückte Niveau niederzusteigen. Welch eine Debatte! Welch ein Parlament! In jedem andern bemüht man sich, wenn es um die Schule geht, die besten Köpfe vorzuschicken und den Feinden der Bildung des Volkes die Erlesensten, die Kultiviertesten, die unbestrittensten Repräsentanten des Geistes entgegenzustellen. Hier im Reichstag brannte keine Fackel, da war nicht einmal ein raketenspritzendes Lästermaul. Welch ein Genuß ist es heute, die Rededuelle zwischen Bismarck und Windthorst in den Kulturkampfdebatten nachzulesen. Welch reiche und anspruchsvolle Form, und wie stark das Streben nach äußerster Transparenz des Ausdrucks! Kampf zweier blanker Intellekte, die hier sogar auf sonst geübte demagogische Tricks verzichten, auf die Taschenspielereien alter Berufspolitiker, dafür aber Fechtkunst zeigen, gewählte Fechtkunst mit edlen Damascenerklingen. Und zwanzig Jahre liegen die Kämpfe zurück, bei denen Adolph Hoffmann, mit zweifelhafter Deklination zwar, aber mit unbezweifelbarem Witz und lachender Helligkeit des Verstandes die Talare und Bratenröcke von der Rechten heimschickte. Welch Abstieg gegen damals selbst!

Die Sozialdemokraten betrauten den Genossen Schreck aus Bielefeld, der schon lange kein Bürgerschreck mehr ist und ein bißchen über Kulturreaktion lamentierte; aber auch dieser Sprecher der stärksten Oppositionspartei fand kein klares Bekenntnis für die weltliche Schule, sondern beschränkte sich auf Verlangen nach Anerkennung der »Verfassungsschule«. Hier ahnt man bereits die Konturen künftigen Kompromisses ... Denn die vom Genossen Schreck bekämpfte »Kulturreaktion« ist ja anderswo bekanntlich noch immer umworbene Regierungspartnerin. Wie denn auch die Rede des Zentrumsvertreters, Herrn Rheinländer, Hoffnungen auf Ausgleich durchblicken ließ. Aber auch dieser Verfechter der klerikalen Interessen exponierte sich nicht sehr; die Frömmigkeit hatte die katholische Partei vorsichtigerweise ausschließlich dem Protestanten v. Keudell überlassen.

Wenn man den Berichten der großen demokratischen Zeitungen Glauben schenken will, bedeuten die Ausführungen der Frau Doktor Bäumer den geistigen Alpengipfel der Diskussion. Das mag sein. Zugegeben, daß diese sehr belesene Dame engere Beziehungen zu Kant und Hegel unterhält als die Herren vor und nach ihr, was will das besagen? Denn diese guten Beziehungen zur klassischen deutschen Philosophie und zu den alten liberalen Maximen gedanklicher Freiheit haben die Dame nicht gehindert, sich vor einem Jahre mit aller Energie für das Zensurgesetz zu engagieren, das, wie festgehalten werden muß, die Arrangierprobe zu dieser Schulvorlage war. Damals klappte die blau-schwarze Belle-Alliance zum ersten Mal, und damals rieb man sich links noch sehr erstaunt die Augen. Heute sind die Herrschaften lange eingespielt. Und damals waren es in der liberalen Ecke grade die gebildeten Leute, die mit dem deutschen Geist und der klassischen Philosophie legal Vermählten, die ihren Liberalismus in den Wind schlugen; es waren die Heuß und Bäumer, denen die Humboldt- und Fichte-Zitate sonst nur so aus dem Schnabel laufen, die den Parteien von Marx und Keudell freiwillig Sukkurs leisteten. Ein Jahr später darf die Frau Doktor Bäumer wieder die Seele der Demokratie, den deutschen Geist und weiß Gott, was sonst noch repräsentieren. Und in den Parteien und Blättern der Opposition ist nicht Einer, der ihr wenigstens mit der Narrenpritsche über den zitatvollen Mund fährt.

Das Ergebnis? Das Zentrum wird schließlich, von unbeträchtlichen Konzessionen abgesehen, seinen Willen bekommen. In den Ausschußberatungen wird schon was gedeichselt werden. Bemerkenswert, daß keiner von den Streitern wider Kulturreaktion die Fiktion vom christlichen Staat grundsätzlich abgelehnt hat. Das Zentrum, unterstützt von der schmalen aber lauten evangelischen Orthodoxie, hat seine These so gründlich in die Köpfe gehämmert, daß sie überall mindestens im Unterbewußtsein herumgeistert. Und doch wäre grade da ein festes Wort vonnöten. Wann wäre dieser Staat jemals christlich gewesen? Wann hätte er sich jemals ganz primitiv nach der Moral der zehn Gebote gerichtet? Dieser Staat tötet, stiehlt, läßt durch seine Vertreter falsch Zeugnis ablegen und neidet seines Nachbarstaates Gut. Dieser Staat ist nicht christlich, kann es nicht sein, sonst läge sein Apparat am ersten Vormittag still. Man soll diesem Staat überhaupt nicht mehr Ethik aufpacken als er verarbeiten kann. Der moderne kapitalistische Staat ist eine Kinderfibel, eine Gendarmenfaust, ein Paragraph, eine Kehrichtschaufel, eine Steuerkarte und bestenfalls eine Bettelsuppe. Ihn zum Träger sittlicher und religiöser Gedankenkreise zu machen, ist eine ideologische Verblasenheit und führt zur Heuchelei.

So wars früher und ists geblieben, die sogenannte Revolution hat »das morsche, alte Ding, den Staat« nicht, wie Freiligrath hoffte, jung gehämmert, sondern nur vorübergehend jung geschminkt, und heute täte wieder dringend etwas Rouge not.

 

Vielleicht trug zur Unergiebigkeit der Kulturdebatte bei, daß bald Schatten aufstiegen, die sie verdunkelten. Es krachte im Gefüge der Koalition. Aus den bayrischen Finanzforderungen an das Reich wuchs ein Konflikt. Während Keudell sein schlechtes Manuskript schlecht ablas, der Genosse Schreck seine Donnerkeile schleuderte, die Bäumer ihre letzten Zitate zusammenklaubte, unterhielt man sich draußen in den Wandelgängen über Geldsorgen.

Das Beamtenbesoldungsgesetz, das der Regierung stramme Wählerkolonnen liefern sollte, hat sich als Niete erwiesen. Zuerst stieg eine kleine Teuerungswoge, dann trat ein, was jeder Vernünftige voraussehen konnte: die Erhöhung der Beamtengehälter wurde für viele unterbezahlten Arbeiter- und Angestelltenkategorien das Signal, die lange zurückgehaltenen Forderungen endlich zu stellen. Das aber bedeutete auch das Ende des angeblichen Wirtschaftsfriedens und die Eröffnung einer neuen Ära von Lohnkämpfen. Und dann kam der Reparationsagent. Nun sucht der Herr Reichsfinanzminister die Gemüter zu beruhigen, indem er von einem versteckt gehaltenen Sparstrumpf erzählt, der zwar bisher für die Deckung der durch das Schulgesetz entstandenen Mehrkosten reserviert gewesen sei, jetzt aber an die Länder gehen könne, um die Aufstockung der Beamtengehälter programmgemäß durchzuführen. Das hat wieder zu erbitterten Auseinandersetzungen im Zentrum geführt. Die Instanz, die etwa dreinreden und ein paar aufschlußbegehrende Fragen stellen könnte, das Parlament, hat man in die Vertagung geschickt. Nicht einmal die Streikinterpellation kam zur Verhandlung. Das Kabinett Marx aber hat seine Katastrophe nicht abgewendet, sondern nur gestreckt.

Merkwürdig, daß noch keine Rechtsregierung in der Republik bisher selig gestorben ist. Auch um diese, obgleich sie nach Herrn v. Keudell mit den Quellen des Ewigen sozusagen auf bestem Fuße steht, riecht es schon vor dem Exitus bedenklich nach Schwefel. Wenn die Regierung klug wäre, schaffte sie sich ein wenig Erleichterung durch Ausbootung einiger beschwerlicher Kollegen. Doch das wäre wohl zu viel verlangt von einem Kabinett, in dem zwar ein paar Gerissene sitzen, aber nicht ein Kluger.

Die Weltbühne. 25. Oktober 1927


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