Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Cachin und Trotzki

Es gibt kein trüberes Schauspiel, als wenn ein Parlament mit demokratischer Mehrheit sich selbst zum Instrument antidemokratischer Gewalten degradiert. Herr Barthou, der französische Justizminister, forderte von der Kammer die Auslieferung der kommunistischen Deputierten Cachin und Vaillant-Couturier zur Abbüßung einer Gefängnisstrafe. Die Parteiführer drehten und krümmten sich, auch Poincaré und den radikalen Ministern war dabei nicht wohl, doch Louis Barthou, der alte Bürgerblockspezialist, bestand auf seinem Schein. Es war auch eine wunderbare Gelegenheit, die Radikalen, die grade ihre tönenden Wahlkampfparolen memorieren, sich öffentlich kompromittieren zu lassen. Es gelang über die Maßen gut.

Dabei darf zugegeben werden, daß die äußern Formen dieses parlamentarischen Dramas recht würdig waren. Poincaré zeigte sich gar nicht als vom Rotkoller besessener Ordnungshüter, sondern erkannte mit viel Noblesse die Qualitäten des Gegners an. Dieser Gegner war allerdings auch kein X-beliebiger, sondern Marcel Cachin, ein erfahrener, alter Politiker aus der Schule des großen Jaurès, der bedeutendste Kopf heute im nichtrussischen Kommunismus. Wie Albert Thomas oder Marcel Senbat gehörte er im Kriege zum patriotischen Flügel, bis man ihn 1918 mit Marius Moutet als Beobachter nach Moskau schickte. Moutet referierte unfreundlich, doch Cachin sprach für Lenin, für die Unterstützung der Bolschewiken. Der Konvertit wurde der eifrigste Verkünder der neuen Lehre. Daß Marcel Cachin nicht einfach eine radikale Maultrommel ist, sondern ein wirklicher, ein taktisch überlegener Führer, bewies er erneut in dem Verzicht, seinen Fall als agitatorisches Spektakelstück aufzuziehen. Wie leicht wäre es gewesen, mit einem Coup à la Daudet die Lacher auf seine Seite zu bringen oder eine jener Hinauswurfkomödien zu provozieren, wie sie in deutschen Parlamenten üblich sind. Er, der Verfolgte, das Opfer, verhinderte, daß ein törichtes Intermezzo zur Affäre wurde. Die Blamage klebt an dem einzigen Aufgeregten, dem einzigen Unhöflichen bei so viel Politesse auf allen Seiten, dem Herrn Justizminister Louis Barthou.

Frankreich hat die Schrecken der Inflation durchgemacht, und da niemand der neuen Stabilität des Geldes recht trauen will, hat sich auch das Gemütsleben noch nicht konsolidiert. Die öffentliche Nervosität sucht nach immer neuen Objekten, sich zu entzünden. Früher war es die deutsche Gefahr, jetzt ist es die kommunistische. Das hat unter dem Bürgerblockregime zu einer Omnipotenz der Polizei geführt, die einmal abzubauen sehr schwer sein wird. Der Fall Cachin ist von Barthou und der politischen Polizei arrangiert und der Regierung wie der Kammer aufgenötigt worden. Die Kompromittierung der radikalen Partei, deren innere Zerfahrenheit so unbarmherzig aufgezeigt wurde, bedeutet für die Reaktion eine sehr erwünschte Nebenwirkung.

»Da habt ihr eure liebe Demokratie!« rufen die Kommunisten hohnlachend und verweisen auf Frankreich. Gewiß, es geht den Kommunisten sehr schlecht. Sie sind überall für Polizei und Justiz Outlaws, Freiwild. Und in China, wo sie noch vor einem Jahre die Siegesfahnen hißten, werden sie wie Hunde erschlagen. Und ist ihnen selbst Rußland noch ein Refugium? Mag der Genosse noch so tapfer gekämpft haben, erlaubt er sich etwa eine bescheidene Abweichung von der vom Heiligen Synod der Dritten Internationalen zur Zeit als orthodox erklärten Lehre, läuft er in Gefahr, nach Sibirien, nach dem Weißen Meer, nach Astrachan verschickt zu werden. Wie Trotzki, Rakowski, Radek und die Andern.

Ich möchte nicht mißverstanden werden: mir scheint Stalins Programm viel vernünftiger, viel wirklichkeitstreuer zu sein als das der Opposition. Käme Die jetzt ans Ruder, würde sie entweder das Selbe tun oder die U.S.S.R. ins Unglück kutschieren. Aber will Stalin mit Pobjedonozew wetteifern? Der Opposition fehlen alle Mittel, die Macht an sich zu reißen, ihr Einfluß reicht nicht weit, ihr Gefolge ist zahlenmäßig gering. Was sie verlangt, ist nicht mehr als das Recht zu kritisieren, ist das freie Wort. Das soll ein Verbannung rechtfertigendes Verbrechen sein? Brave Parteikommunisten, die seit zehn Jahren alles und jedes nachgebetet haben, was aus Moskau kam, sagen jetzt mit überlegen geschürzten Lippen: »Bürgerliche Sentiments, das ist eben Kollektivismus, daß der Führer ersten Ranges, wenn er nicht pariert, ebenso behandelt wird wie der einfache Arbeiter!« Ahnen die Kindsköpfe denn nicht, wie sehr sie damit einen Arbeiterstaat kompromittieren, wo man den »einfachen Arbeiter« so, so behandelt? Knebelung des Wortes, administrative Verschickung in Steppen, Eiswüsten und Pestgestank ... ist das eine Waffe gegen Genossen? Und es gibt auch ganz Schlaue, welche sagen: »Das versteht ihr nicht. Rußland darf nicht den Maßen des Westens unterworfen werden, es hat seine eignen Gesetze.« Das ist nicht neu. Das haben wir alles schon von den Henkern und Prügelmeistern des Zarismus gehört, wenn sie bei der verachteten westlichen Zivilisation Visite machten. Gewiß hat Rußland sein Eigentümliches und Unbegreifliches, wie jedes andre Land auch. Aber niemand kann mir einreden, daß Rußland ein eigner Kosmos sei, mit eignen Sonnen und Sternen, von andern Wesen bewohnt, infolgedessen mit andern Lust- und Schmerzgefühlen. Das bißchen Freiheitsgefühl in jeder atmenden Brust kennt auch der geschundenste Muschik, es ist allgemeines Teil der Menschheit und es in unterdrückten Klassen und Völkern neu geweckt zu haben, ist ja grade die historische Leistung der Moskauer.

Stalin hat die Macht. Er ist gegen Trotzki und die Seinen sachlich wahrscheinlich sogar im Recht. Doch er gefährdet sein Recht, wenn er, wie der Großinquisitor, das, was nach Freiheit verlangt, lieber der Verwesung hingeben will. Er mag in seinem Kreml Sieger bleiben, draußen in der Welt wird er den Kürzern ziehen. Die in Moskau erstickte Parteiung wird in jeder kommunistischen Sektion auf dem ganzen Erdenrund aufflackern und die Genossen zerreißen. Wo der russische Agitator gestern noch von Gelben, Braunen, Schwarzen als Lichtbringer umjubelt wurde, wird er morgen nur ein Bote der Zwietracht, also der Ohnmacht sein. Etwas so angenehmes wie Stalins jäher Cäsarenwahn ist dem englischen Imperialismus seit Jahren nicht widerfahren.

Die Weltbühne, 17. Januar 1928


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