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In dem letzten Jahrfünft vor dem Kriege, als in den Gängen des Reichstags von den Möglichkeiten eines parlamentarischen Regimes noch so vorsichtig gesprochen wurde, als handle es sich um eine nicht ganz einwandfreie utopische Lockung, regierte unten in Baden der Großblock, die Allianz von Nationalliberalen, Fortschrittlern und Sozialisten. Es war die erste organisch gewachsene parlamentarische Koalition in Deutschland. Sie richtete sich gegen die reaktionären Mächte: Konservative und Zentrum und sicherte ein für die damalige Zeit ungewöhnliches Maß von Fortschritt und bürgerlicher Freiheit. Neiderfüllt blickte man aus dem Norddeutschland der Klassenwahlrechte auf das kleine badische Land, wo sich zum ersten Mal ein demokratischer Gedanke als Wille stabilisierte.
Der Großblock ist viel gescholten worden. Liberale Angstbürger lehnten ihn ab als leichtfertiges Zugeständnis an eine der Ernstheit deutschen Wesens fremde Asphaltdemokratie. Ärgernis nahmen auch die dogmentreuen Sozialisten, und auf mehr als einem Parteitag wurde mit jener der alten Sozialdemokratie eignen Vivazität um die Blockpolitik gerauft. Passé, passé. Weihen wir dem Großblock ein pietätvolles Gedenken. Denn bei einem Minimum an Zugeständnissen aus der Sphäre des Charakters bedeutete er in einer Zeit lauter und leerer Protestiererei den Versuch, alle liberalen und demokratischen Gruppen gemeinsam zu praktischem Handeln zu bringen. Auf den Parteitagen, wo der alte Bebel die Badenser als Kompromißler und Schlappmacher abkanzelte, saß auch ein junger Novize des Parteivorstandes, Hermann Müller mit Namen, den der Alte, ebenso wie Fritz Ebert, aus dem Dunkel der Provinz geholt hatte, um nach seinem Scheiden die Schätze radikaler Überlieferung zu verwalten und zu mehren. Lächelt nicht der heutige Präses der Sozialdemokratie, wenn er angesichts des gigantischen parlamentarischen Schachergeschäfts, das von ihm verlangt und erwartet wird, an die Munitionsmenge zurückdenkt, die damals um einen so kleinen Handel alljährlich verfeuert wurde?
Eine Phrase war allerdings damals noch nicht erfunden: – die Politik der Mitte. Sprach man 1910 bei Liberalen und Sozialisten von einem Kartell, so war es ein Linkskartell. Erst seit 1914, mit dem Ausbruch des Burgfriedens, kommt das Zentrum mit an die Partie. Damit ist der Gedanke der deutschen Linken unterhöhlt. Alle Koalitionen, die von jetzt ab gebildet werden, haben nicht mehr den Sinn, gemeinsam irgend Etwas erzwingen zu wollen, sondern gemeinsam allen Unannehmlichkeiten auszuweichen. Das mag für eine bürgerliche Partei ein Verzicht auf manche Forderung für die Dauer eines Ministeriums bedeuten. Für eine sozialistische Partei bedeutet es hingegen den Verzicht auf sozialistische Wirksamkeit überhaupt. Sie opfert am meisten und muß deshalb rechtens auch die weitgehendsten Forderungen stellen. Denn es ist für den Sozialisten dabei immer etwas von einem Seelenverkauf, während der Liberale höchstens seine Uhr versetzt.
Die Politik der Mitte schließt große Umformungen von vornherein aus. Sie bedeutet nicht Änderung, sondern Kontinuität. Man nimmt einfach die Plätze ein, die ein paar Andre eben verlassen haben und sitzt dort so lange, bis man durch ein neues Wahlergebnis wieder abkomplimentiert wird. Diese Politik raubt der Linken jede Aktivität, denn sie zwingt sie fortzusetzen und von den Vorgängern geschaffene Zustände zu verantworten. Die Wahlen vom 20. Mai aber sind eine klipp und klare Absage an alles, was seit vier Jahren zusammenregiert worden ist. Es waren Linkswahlen, und die Wähler erwarten neue, von der Linken ausgehende Kräfte. Die Deutschnationalen tragen zwar die Kosten der Niederlage, aber die geistig Geschlagenen sind die Marx und Scholz, die die Deutschnationalen, ebenfalls mit der Begründung, Politik der Mitte zu machen, herangeholt haben.
Zwei Wochen hat Hermann Müller jetzt ergebnislos hin und her verhandelt. Die Einigung mit der Deutschen Volkspartei ist mißlungen. Es zeigt sich immer deutlicher, daß die Große Koalition nur eine Erfindung der demokratischen Blätter ist, um ihrer Partei die letzte Chance für ein paar Ministersitze zu retten. Jedenfalls wird die Große Koalition nicht von der Partei betrieben, auf die es ankommt, nämlich der Deutschen Volkspartei. Es hat keinen Sinn, für diesen Mißerfolg allein Herrn Scholz zu perhorreszieren, der außer einer beträchtlichen Dickfelligkeit gewiß keine Qualitäten aufweist, aber grade wegen dieser einen Qualität zum Torwächter seiner Fraktion bestimmt worden ist. Diese Partei der wendigsten Talente hat nicht ohne Absicht den Ungelenkigsten zum Unterhändler bestallt. Was Herr Scholz als Bedingung aufstellte, gewährt eine herrliche Anschauung dessen, was man sich in der Stresepartei unter einer Politik der Mitte vorstellt. Die Sozialdemokraten sollen nicht nur das Panzerschiff A bauen – wer A sagt, muß auch B sagen –, sie sollen neben vielem Andern auch augenblicklich die Große Koalition in Preußen einführen. Es wird Zeit, endlich offen auszusprechen, daß hier eine perfide Falle gestellt wird. Denn sollen Reich und Preußen homogene Regierungen haben, dann fällt auch automatisch die preußische Regierung Braun, wenn das Reichskabinett der Großen Koalition etwa nach kurzer Zeit straucheln sollte, und der Bürgerblock würde nicht nur im Reich, sondern auch in Preußen, dem viel heißer ersehnten Ziel, einziehen. Die Große Koalition ein taktisches Manöver, um endlich Preußen zu erobern! Seht ihr nicht die Falltür mitten in der Politik der Mitte? Herr Scholz ist mit andern Granden seiner Fraktion geschätztes Mitglied im Stahlhelm, und wenn einer der Angeklagten im Don-Prozeß, der Ingenieur Otto, dem moskauer Ankläger treuherzig erzählte, er sei nur zum Stahlhelm gegangen, weil sich dadurch Gelegenheit zum Tanzen geboten hätte, so braucht für diese Herren nicht dasselbe zuzutreffen. Otto Brauns Veto hat wenigstens die akute Gefahr abgeschlagen.
Die Große Koalition ist gescheitert. Das liegt nicht an der Verhandlungsmethode Hermann Müllers, statt mit einzelnen Personen zunächst mit den Fraktionen gesprochen zu haben, sondern weil die Volkspartei der Sozialdemokratie zumutet, das Ergebnis des ganzen Wahlkampfes zu ignorieren. Man verlangt von ihr die Durchführung dessen, was der Rechten, inklusive Volkspartei, die Niederlage eingetragen hat. Diese Taktik zielt ganz deutlich auf Bürgerblock und Ausschaltung der Sozialisten. Was hier von Stresemanns Partei gefingert wird, ist eine Mißachtung des Volkswillens, wie man sie sich rabiater schwerlich vorstellen kann. Jetzt allerdings, nachdem den Sozialdemokraten haargenau bekanntgegeben ist, wie wenig ihr Sieg den Geschlagenen imponiert – jetzt allerdings soll durch einen taktischen Dreh der gefährliche Eindruck nach außen ausgelöscht werden. Jetzt soll mit einem Mal ein »Kabinett der Köpfe« gebildet werden, jetzt soll mit »Persönlichkeiten« verhandelt werden, nicht mehr mit den Fraktionen. Als ob das etwas änderte! Denn auch die über Nacht zu Persönlichkeiten avancierten Herren werden wohl nicht ohne Marschroute beurlaubt werden.
Die Sozialdemokratie würde einen verhängnisvollen Fehler begehen, sich darauf einzulassen. Aber was soll sie sonst tun? Die Weimarer Koalition zerschellt – Gottseidank! – an der Bayrischen Volkspartei. Also Resignation und die Andern murksen lassen? Nein. Noch bleibt die großartige propagandistische Chance des Minderheitskabinetts, des rein sozialistischen Kabinetts, das durch sorgfältig gewählte Spezialisten entsprechend zu verstärken wäre. Man wird sagen, daß dieses Kabinett schon in der ersten Sitzung stürzen kann. Gut. Aber das würde eine sehr wohltätige Klarheit schaffen. Die englische Arbeiterpartei steht nicht weiter rechts oder links als unsre Sozialdemokratie. Und trotzdem hielt sie es für Ehrensache, sich offen herauszustellen, ohne die Garantie sicherer Unterstützung durch die Liberalen. Zu diesem Entschluß muß die Partei sich aufraffen, wenn sie ihre Erfolge nicht ruhmlos verspielen will. Was bei dem »Kabinett der Köpfe« herauskommen kann, zeigen die vorläufigen Vorschläge. Zeugt es von einem Linksruck, den Intriganten und Unsozialpolitiker Brauns, den Manager des Rechtskurses, weiter im Arbeitsministerium zu lassen? Und das Ärgste: das Justizministerium soll Herrn Erich Koch ausgeliefert werden, und zwar nur, damit Herr Hilferding Finanzminister werden kann. Herr Hilferding, der ewige Ministrable, muß endlich untergebracht werden. Dabei ist das Justizministerium jetzt das entscheidende. Seit langem war Herr Landsberg designiert, und jetzt ist plötzlich Herr Koch an der Reihe, der sich schon im Innenministerium schreckerregend bewährt hat und von dem der ›Vorwärts‹ vor Jahren einmal schrieb, daß man nach den Erfahrungen mit ihm den Appetit verloren hätte, ihm künftig auch nur ein Landratsamt anzuvertrauen. Das ist der Justizminister der Großen Koalition! Ein Besen, nicht hart genug für eine Puppenstube.
Die letzten Jahre der deutschen Politik standen ganz im Zeichen Stresemanns. Mit dem außenpolitischen Monopol hielt Herr Stresemann alle Parteien rechts und links unter Druck. Genau so wie Poincaré mit dem finanzpolitischen Monopol die Radikalen und Sozialisten, seine Gegner, gefesselt hielt. Solche gut gespielten Unentbehrlichkeiten werden gewöhnlich in dem Augenblick überflüssig, wo man die Arbeit für vollendet hält. In Frankreich zeigt die Nationale Einigkeit bedenkliche Risse, und wenn nicht alles trügt, wird Poincaré, der Stabilisator, bald Anlaß haben, über den Undank der Menschheit zu jammern. Stresemanns Unentbehrlichkeit als Leiter der Außenpolitik ist fast zum Axiom geworden. Sehr richtig bemerkte die ›Germania‹, seine Partei führe die Koalitionsverhandlungen so, als läge ihr nichts daran, daß ihr Führer sein Amt behalte ...
Erscheinungen wie Stresemann und Poincaré sind wichtig in Zeiten, wo eine Frage herrschend in den Vordergrund tritt. Sie sind natürliche Figurationen einer Sammlung, die sich nicht aus einem Willen, sondern einem Zwang von Außen ergibt. Heute kann man den Regierungen der Nationalen Einigkeit keine günstigen Prognosen mehr stellen, weil sich neue Ansprüche melden, alte Grenzzeichen wieder sichtbar werden. Die Epoche der Koalitionen ist im Versickern. Die Millionen, die am 20. Mai sozialdemokratisch gestimmt haben, wollten ganz gewiß nicht, daß ihr Votum vor den Verhandlungskünsten des Herrn Scholz illusorisch werden soll. Aber von den Feueranbetern der Koalition sollte auch nicht übersehen werden, daß der Wähler nun einmal eine Partei wählt und nicht eine Allianz. Es heißt, sein Vertrauen unnütz auf die Probe stellen, seine Geduld mißbrauchen, wenn die Kontraste des Wahlkampfes schon ein paar Wochen später in Harmonien aufgelöst werden. Der Wähler entscheidet sich für eine Farbe; sein Wille ist, daß sie sich durchsetzt. Die Sozialdemokratie darf nicht zulassen, daß ihre Farbe auf einer schmierigen Palette verschwindet.