Carl von Ossietzky
Sämtliche Schriften – Band IV: 1927–1928
Carl von Ossietzky

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Fahne und Kreuz

Während alle Welt Hilfsexpeditionen ausrüstet, um Roald Amundsen zu retten, häufen die norwegischen Zeitungen Verwünschungen auf das ingeniöse Haupt des Herrn Nobile und werfen wehklagend die Frage auf nach dem Sinn eines Unternehmens, das, wie sie sagen, mit großem Aufwand schließlich doch nur bewerkstelligt hat, am nördlichsten Punkt der Erdkugel eine Fahne und ein Kreuz zu deponieren. Kleines Resultat bei so hohem Einsatz. Kreuz und Fahne, treffliches Symbol für alle, die, von der leeren Gebärde des Ruhmes verführt, blind ins Feuer rennen, oder, wie Prinz Hamlet meditiert: »zum Grab gehn wie ins Bett.« Vielleicht ist diese Symbolik um einiges zu gewichtig für die Dreiwochenfarce dieser Kabinettsbildung, ein Feld also, auf dem es von vornherein mehr Schläge zu ernten gab als Ruhm. Aber um was für Attrappen von Prinzipien hat man sich gezankt! Um was für gespreizte Velleitäten! Ranküne, die auf Holzpantinen mitten durch die deutsche Gegenwart klapperte, Intrige, die sich durchs Megaphon ausgröhlte, – das alles in einem Lande, wo der Parlamentarismus ohnehin nicht mehr viel Beliebtheit zuzusetzen hat und wo ein solcher Spagatregen von Unzulänglichkeit doppelt abschreckend wirkt nach einem Wahlergebnis, in dem doch die Hoffnung von Millionen ausgedrückt war. In diesen drei Wochen hat der Klüngel der Fraktionsführer, der das parlamentarische Monopol innehat, seine letzte Kümmerlichkeit enthüllt. Denn es ist gewiß ein unbestrittener Erfahrungssatz, daß man wohl für längere Zeitdauer mit etwas angelerntem Phrasenputz Charakter heucheln kann, selbst Wissen, aber niemals Talent. Wenn Einer, der den Wohllaut einer verstimmten Nebelkrähe im Kehlkopf führt, immer wieder erzählt, wie herrlich er singen kann, muß er des Augenblicks gewärtig sein, wo sich jemand ans Klavier setzt und sagt: »Nun los!« Über diesen Augenblick haben sich die Herren republikanischen Führer, die seit einem Jahr und länger davon reden, wie heftig sie gewillt seien, die Macht zu ergreifen, scheinbar keine Gedanken gemacht. Denn sonst hätten sie nicht ihre Talentlosigkeit so eklatant enthüllt und mindestens Vorsorge getroffen, die engere Auswahl unter den Ministrablen nicht, wie geschehen, in einen Boxkampf durcheinandertobender Aspirationen ausarten zu lassen. Zum Gelächter der ganzen Welt.

Herr Scholz intrigierte gegen seinen Meister Stresemann, dieser wieder gegen ihn sowie gegen Herrn Wirth. Das Ende ist, daß Herr Wirth grollend draußen geblieben ist und das Zentrum auch seinen unauffälligsten und gefährlichsten Mann, Herrn Brauns, geopfert hat. Eine magere, verbrannte Omelette nach so viel Geschrei. Nicht nur, daß die Koalition an der Volkspartei scheiterte, jetzt ist auch das Zentrum noch böse und beteiligt sich sozusagen nur auf Spekulation. Wie schließlich diese ganze unmenschliche Verknotung von Ehrgeizen und Interessen doch so weit gelöst wurde, daß nur ein Fall Wirth übrig blieb und alle fascinierte, das deutet auf einen großen Regisseur der politischen Komödie hin, auf eine Meisterhand, hinter der man wohl den Rekonvaleszenten von Bühlerhöhe vermuten könnte, wenn der Verdacht nicht eher in die eigne Fraktion Josef Wirths führte. Aber vielleicht darf man auch bei den Herren nicht so viel Teufelei voraussetzen, und das Geheimnis liegt bei dem immer zufrieden lächelnden Hermann Müller, der es aus dem Palais des Herrn Reichspräsidenten brachte ... Wenn wir uns recht erinnern, sollte dem Zentrum doch zunächst in Herrn von Guérard das Vizekanzleramt zufallen, und erst als Herr Wirth plötzlich, wie aus dem Ärmel gezaubert, an der Rampe stand, regte sich Protest. Fragt sich, wer den Protest zuerst ausgesprochen hat. Der alte Herr ist gewiß recht wacker republikanisch, doch mit Maß; und Herr Wirth hat es wirklich allzu republikanisch getrieben, und der alte Herr liebt mehr die stillen Bekenner, die es im Herzen tragen und hinter den Ohren, und nicht die eifernden Diener am Wort. Das alles weiß gewiß Herr Müller am besten. Aber der lächelt versöhnlich und schweigt. Und daß er sich so verhält, graduiert ihn gewiß zu einem erstklassigen Sicherheitskommissar, wenn auch nicht grade zum Volkstribun. Doch wie und wo der Einspruch auch geformt wurde, tragikomisch bleibt, wie Herr Wirth reagierte. Er übersah, daß er, soeben in der Partei gründlich durchgefallen, abgelehnt in zwei Wahlkreisen, kümmerlich mit einem Freibillet für die Reichsliste ausgestattet, kaum zum ersten Rang prädisponiert war, und begann wie ein rasender Ajax unter den schon an andre Republikaner vergebenen Ressorts zu wüten. Dabei geriet er zur Verstimmung aller Koalitionsfreunde auch an Herrn Severing, den andern republikanischen Heiligen, und zur Nervenstärkung der gesamten Reaktion stieß ein Heiliger den andern öffentlich vor den Schein. Herrn Wirths Griff nach dem Vizekanzler war um so überflüssiger, da Herr von Guérard auch ohne großen Titel sowieso der oberste Minister für alle vom Zentrum in diesem Kabinett besetzten Gebiete geworden wäre. Jetzt hat sich alles in den tiefsten Ärger hineinmanövriert und am meisten Herr Wirth selbst, der sich in einem langen und dies Mal sehr vielsagenden Kommentar Arm in Arm mit Stegerwald zeigt, dem alten Feind, zwar beruhigend versichernd, sie hätten sich lange ausgesprochen und sich gegenseitig nichts geschenkt. Aber jetzt werden sie wohl einig sein und in Zukunft den Andern nichts schenken. Der große Cid der Republikanischen Union findet plötzlich wieder urtümliche Zentrumstöne, sogar ein großartiges Kompliment für Herrn Brauns, den Antipoden, und eine ernste Warnung vor einem liberal-sozialistischen Block. Das sind alles nur so die Nebenwirkungen einer richtigen deutschen Kabinettsbildung. Das Eigentliche kommt erst, wenn die Herren regieren.

Auf der rechten Seite wäre der Profit davon gewiß größer, wenn nicht im Augenblick dort gleichfalls Querelen losgebrochen wären, die die Aktionsfreiheit einengen. Schon bald nach dem 20. Mai konnte man ahnen, daß sich die Deutschnationalen nicht weiter kritiklos dem Leader Westarp anvertrauen würden. Nur wußte man nicht, in welcher Ecke der Aufruhr losgehen und wer beginnen würde. Nun hat der Abgeordnete Walter Lambach das Signal gegeben, und zwar überraschenderweise mit einem harten Coup gegen den Monarchismus, den er für ihn überaltert und nicht mehr attraktionsfähig erklärt. Herr Lambach tut das mit der schnoddrigen Sicherheit eines Mannes, der nicht nur von seiner bessern Logik überzeugt ist, sondern sich auch als Haupt einer großen Berufsorganisation im Besitz der erforderlichen Rückendeckung fühlt. Wenn er schroff ausspricht, daß für die junge Generation die Könige nur noch Gestalten von Bühne und Film sind, so fegt er damit Westarps Legitimismus einfach in die historische Rumpelkammer, und der Stoß ist so rücksichtslos, daß der alte Graf sehr leicht selbst mitwandern kann. Neue Aktivität, pietätlos, aber wirtschaftlich gut geschult und mit viel Realsinn, steht auf gegen konservative Ideologie, die nur noch von den immer schwächer werdenden Strömen kleinbürgerlicher Kaisersehnsucht gespeist wird. Der Graf aber ist ein ehrwürdiges Fossil aus der Periode der versunkenen preußischen Herrenhausgranden, aus seinen Reden kräht das Hipp-Hipp-Hurra! der wilhelminischen Verkafferung von 1910. Was soll man mit einem Führer, den man westlich vom Korridor nicht zeigen kann, ohne eine Pfeiforgie herauszufordern! Die Jüngern Herren aber sind von einem Liberalismus angeweht, nicht grade von einem geistigen, aber doch von einem geschäftlichen, sie betrachten den städtischen Kommerz nicht unbedingt vom Kassenschalter des Landbundes aus. Sie sehen das Weltnetz der Industrie, sie ahnen auch, was Stresemann will. Sie halten es weniger mit dem alten Tirpitz als vielmehr mit den Jüngern Marineoffizieren, die ihre navigatorischen Fähigkeiten einstweilen in Filmbureaus erproben und ihre konservativen Überlieferungen mollig mit neuem Stoff durchtränken. Wäre Helfferich am Leben geblieben, hätte die Partei schon lange den Führer für die Zeit der Mauserung gehabt. So hat sie vier Jahre unter Westarp brach gelegen, der niemals begreifen wird, daß eine wehende Fahne zwar ein schönes Symbol ist, daß es aber auch Zeiten ruhiger geschäftsträchtiger Windstille gibt, wo man sie am besten zusammengerollt läßt. Auch in der französischen Republik waren die Royalisten eines Tages nicht mehr da, bis auf ein paar Unerbittliche, die sich noch mit der königlichen Lilie garnierten.

Es fehlt übrigens neuerdings auch nicht an Versuchen, die deutsche Rechte zu intellektualisieren. (Vor ein paar Jahren lag die deutschnationale Geistigkeit noch in den Händen von Adolf Bartels und Artur Dinter.) Es entstehen Zeitschriften, die nicht mehr unbedingt zeitscheu sind, sondern sich freimütig mit Themen befassen, die den Menschen von Heute betreffen. Hier ist alles noch recht ungeklärt; durchweg wollen die Herren so viel, daß sie selbst nicht recht wissen, was sie wollen, aber den strammen, bierfrommen Monarchismus der alten Garde, den wollen sie nicht. Sie stellen den Nationalismus in den Vordergrund. Aber es ist nicht mehr der alte Pangermanismus mit seiner krankhaften Magenerweiterung; es finden sich unbefangene Beurteiler der Freiheitskämpfe in Asien und Afrika, und auch die besondern deutschen Interessen werden nicht mehr durch die verschobenen Brillen der Claß und Reventlow betrachtet. Es laufen zwar noch immer viel große Worte von Heroismus und Opfer unter – ein kleiner Krieg muß eben mitgenommen werden – und man denkt da manchmal an den von Chamfort wiedergegebenen Dialog zwischen einem englischen Cavalier und einem Gastwirt: »Mylord haben heute nacht im Rausch den Kellner erschlagen ....« – »Setzen Sie ihn auf die Rechnung!« Die Herren sind großzügig und setzen bei ihren gottseidank vorerst nur literarischen Waffenspielen allzu leicht das Volk auf die Rechnung. Aber durch diese Turniere ist in die deutsche Rechte wieder einmal Bewegung gekommen, und Lambachs Emeute, auch wenn sie nicht gleich Revolution werden sollte, hat die Frage mitten auf den Tisch geworfen: konservative Mumienkammer oder demagogische Massenpartei?

Es ist wohl zu viel verlangt und würde gewiß übel aufgenommen werden, grade in diesem Augenblick der nunmehr regierenden Linken so einen Lambach zu wünschen, der ihren Hausrat einmal kritisch abklopft! Denn das Kabinett Hermann Müller startet, und niemand weiß, ob es eine glückliche Fahrt sein wird oder ein kurzer Nobileflug mit jubilierenden Funksprüchen und bösem Ende. Aber eines ist gewiß: wenn das Zentrum auch nur einen einzigen Herrn mit auf die Reise gegeben hat, es wird nicht vergessen, sein Kreuz zu deponieren. Ob von dem Wirken der Sozialisten dagegen auch nur ein paar Ellen Fahnentuch zurückbleiben, braucht nach frühern Erfahrungen nicht als sicher angenommen werden. Wir werden das erst wissen, wenn sich die beiden großen Gegner vom 20. Mai bei Philippi wiedergesehen haben. Und Pessimisten meinen, daß der Weg bis dahin gar nicht mehr weit ist.

Die Weltbühne, 3. Juli 1928


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