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Jeder Präsident der Vereinigten Staaten fühlt eine pazifistische Sendung. Das war schon vor 1914 so, wo von Washington aus die liebenswürdigen Mahnungen an die Welt gingen, sich doch hübsch zu vertragen und alle Streitereien durch Schiedsgerichte fromm zu schlichten. Darüber wurde die eigne maritime Wehrhaftigkeit nicht vernachlässigt, und die Union entwickelte sich im Laufe eines Jahrhunderts von einer kleinen behenden Eidechse zu einem schwer gepanzerten Leviathan. Der Widerspruch zwischen dem friedetriefenden Wort und der imperialistischen Handlung mochte die Mac Kinley, Roosevelt und Taft nicht arg belästigen – ein gutmeinender Präzeptor wie Woodrow Wilson mußte daran tragisch scheitern. Denn er verstand nicht die Sprache des Augurenlächelns.
Cal Coolidge ist weder ein hochgespannter Idealist noch ein kleinkalibriger Amateur machiavellistischer Kniffe. Wenn er jetzt die so oft gehörte Friedensbotschaft wieder an die Welt ergehen läßt, so bleibt er dabei ein besonnener, reputierlicher Politiker, der weiß, daß man nach abgeblasenem Kriegslärm einen beschwichtigenden Kontrast bieten muß. Das mögen die Leute gern. Wie lange ist es her, seit Admiral Latimers Marinetruppen in Nicaragua landeten und der Kreuzzug antipapistischer Presbyterianer gegen Calles, den Feind der römischen Kirche, gepredigt wurde? Der bellikose Vorstoß hat mit einer klaffenden Wunde der Regierungsmacht geendet, für die jetzt ein Pflaster gesucht wird. Und mag diese Methode nicht mehr recht zugkräftig sein: die Andern sträuben sich, krümmen sich jedes Mal in äußerster Verlegenheit. Das allein rechtfertigt den Schritt: die Abwehr der andern Mächte illuminiert die eigne Tugend. Aus dem Schwefeldampf der bösen Militaristen Europas bildet sich eine kostenlose Gloriole um Calvin Coolidges schmuckbedürftiges Staatsmannshaupt.
Besonders lebhafter Widerspruch kommt dies Mal aus Frankreich. Dort hat man noch von der ersten Washingtoner Abrüstungskonferenz genug und fühlt sich schon im voraus über die Löffel barbiert. Natürlich ist man wieder um die Sicherheit besorgt. Morgen wird das selbstverständlich erledigt sein. Morgen wird man sich dieser zur Schau gestellten Bangigkeit schämen und die neue Form für den hübschen, glättenden, egalisierenden Friedensschwatz gefunden haben, und der Komplimenteaustausch mit dem Weißen Haus kann beginnen. Vor ein paar Jahren noch konnte man sagen: es ist nützlich, daß über ein so platonisches Ding wie Abrüstung überhaupt gesprochen werde. Heute ist es gefährlich: denn diese emphatischen Unverbindlichkeiten lullen ein, beduseln Die, die immer betrogen sein wollen und cachieren Tatsachen. Seit Locarno ist jeder aus rauher Kehle kommende Kriegsruf wertvoller als das Europäischparlieren der Patriotarden von gestern: denn es gilt, einen Zustand zu entlarven und die Dämmernden aus den Daunen zu jagen.
Auch Aristide Briand, der Polyglott Kuntze aller beflissnen Kosmopolikanten, hat so seine Momente. Am 6. Februar präsidierte er zum Beispiel einem Bankett des Verbandes ehemaliger Orientkämpfer, und hielt, von zwei Generalen flankiert, dem Genius der Tafel entsprechend, eine Rede, wie sie Stresemann etwa in Chemnitz gehalten haben könnte. Eine Rede, die von der deutschen Presse nur knapp berührt worden ist und auf deren Verbreitung der beliebte Nobelpreisträger wohl selbst nicht viel Wert gelegt haben wird. Briand begann damit, sich gegen den Vorwurf des Messianismus zu verteidigen, den ihm irgend ein psychologiefremder Militarist gemacht hat. Mit großem Humor, berichten die pariser Blätter, habe Herr Briand gesagt: er habe sich selbst genau untersucht und kein Symptom von Schwäche gefunden. Dann erinnerte Briand daran, was er so im Laufe der Zeit alles zur Kräftigung der militärischen Energie Frankreichs unternommen habe. Er sei es gewesen, der 1912 als Ministerpräsident auf Nachrichten, die ihm von auswärts zugegangen waren, die Verantwortung für die Vorlage über die dreijährige Dienstzeit übernommen habe, auch sei es ihm damals gelungen, außerhalb des Budgets eine Ausgabe von achtzig Millionen durchzudrücken, um die Zahl der Geschosse der 75-mm-Batterie von sechshundert auf fünfzehnhundert zu erhöhen. Und Herr Briand krönte seine Erinnerungen mit dem Ausruf: was wohl passiert wäre, wenn er damals diese Initiative nicht ergriffen hätte. Ja, was wohl passiert wäre, wenn er damals diese Initiative nicht ergriffen hätte? Ja, was wohl passiert wäre, ruhmumglänzter Laureat des Nobelpreises? Vielleicht ... vielleicht wäre der Weltkrieg nicht ausgebrochen.
Eine Kriegervereinsrede. Eine französische Gambrinusrede. Wiegt sie schwerer oder leichter als die pathetischen Improvisationen auf der Rostra des Völkerbundes? Niederschlagendes Ergebnis solcher Exklamationen bleibt nur, daß die in Genf mit ausladender Geste zerschlagenen Kanonen zu Hause wieder zusammengelötet werden, und der gleiche Mund den Krieg preist, der in der Runde wissender Diplomaten auf den Frieden getoastet hat.
Der offizielle Pazifismus ist noch neuen Datums und doch schon so ausgeleiert. Das sei festgestellt, aber: wo wäre selbst dafür ein Ersatz? Wo sind die Sozialisten und Demokraten, das wahrzumachen, was die Briands behaupten? (Der dritte prämierte Friedenskünstler schickt grade Soldaten nach China.) Das Fähnchen von Bierville flattert verlassen im Wind; vereinsamte Schillerkragen diskutieren über das Dritte Reich, während die Führer der Demokratie es sich noch in diesem wohl sein lassen. Amerika kündet sein Weltfriedensmonopol an. Mit klaffenden Kiefern kriecht Leviathan aus dem Röhricht, um die Hut des Karpfenteiches zu übernehmen.
Ein großes Feuerwerk ist umsonst verknallt. Die meisten Raketen gingen gar nicht los; das Pulver war feucht, und statt eines sprühenden Flammenreigens am nächtlichen Himmel lohnte die Harrenden Gestank. Der republikanische Aufruhr ist abgebogen; der Olympier v. Keudell bleibt oberster Wächter der freiesten Verfassung der Welt.
Es mochte die Opposition gereizt haben, der Regierung gleich beim ersten Auftreten einen Eckzahn auszubrechen. Das hätte jede Opposition getan. Aber diese versuchte es mit verschmitztem Blinzeln, ohne Mut zu entschlossner Destruktion, immer mit dem verteufelt schlauen Hintergedanken, – es dem Zentrum doch noch beizubringen, daß mit den Deutschnationalen nichts zu machen sei und der Rückkehr in alte Freundesbeziehungen nicht das Mindeste im Wege stehe. Doch das Zentrum wollte eben nicht. Zwar wirkte die Enthüllung über v. Keudells kappistische Vergangenheit und olympische Gegenwart zunächst wie ein nasses Handtuch im Hochzeitsbett, aber bei eingehenderer Betrachtung mußte das Zentrum sich sagen, daß es wohl unter den Deutschnationalen überhaupt keinen Ministeranwärter mit republikanisch intaktem Lebenslauf gäbe und daß sich gegen jeden andern Kandidaten vielleicht noch Ärgeres vorbringen lasse. So erhielt der Beanstandete sein Visum und darf das von der freiesten Verfassung der Welt in Regie nehmen, was sein spitzbärtiger Vorgänger noch übrig gelassen hat. Den hat auch als derzeitigen Oppositionellen seine Besonnenheit nicht verlassen: vor der Abstimmung über das Mißtrauensvotum entfernte er sich schnell aus dem Saal. Die Demokratenblätter haben Das unterschlagen.
Übrigens gestehn die Entrüster selbst zu, daß Herr v. Keudell gesellschaftlich beliebt sei, sehr musikalisch und für einen Rechtsmann äußerst liberal. Warum also die Aufregung? Und wer war Mitte März 1920 ohne Fehl? Wenn empörte Republikaner nicht vergessen können, wer damals zu Kapp übergelaufen war, so brennt in unsrer Erinnerung, daß frisch nach Wiedereinsetzung der exmittierten Ebert-Regierung, die schleunigst wieder »regierungstreu« gewordene Soldateska auf die Arbeiter schießen durfte, die Kapp zu Tode gestreikt hatten. Waltete nicht damals Herr Severing als Zivilgouverneur im Ruhrgebiet, während das Gesindel des Generals v. Watter unter dem Proletariat Massakers anrichtete? Wurden nicht damals vor den Toren Berlins, unter den Augen der siegreichen Republik, Streikführer standrechtlich erschossen? Die sozialistischen Arbeiter haben das Säbelregiment der Lüttwitze niedergekämpft; die Republik, vor einer imaginären Roten Armee bibbernd, hat ihre Retter den enttäuschten Generalen bedingungslos ausgeliefert. Der damalige Landrat v. Keudell hat einen dummen Aufruf plakatiert und die Brücke von Zäckerick für den Verkehr gesperrt. Deshalb steht er heute im Steinbombardement von Leuten, die großtun dürfen, weil das Gesetz der Vergeltung bekanntlich nicht automatisch zu funktionieren pflegt. Und was »Olympia« betrifft und die kleinen militärischen Übungen auf seinem Gut: – soll man Herrn v. Keudell verdammen, weil er an diese Art von Wehrhaftmachung länger geglaubt als Herr Wirth oder die Demokraten?
Bald wird die Entrüstung verknallt sein. Wie lange noch, und die lautesten Oppositionshelden werden an dem verrufenen Kappisten v. Keudell nicht nur gesellschaftliche, sondern auch politisch angenehme Seiten entdecken. Alte Kenner der Wilhelm-Straße wissen: kein frischgebackner Minister, und würde er mit faulen Eiern empfangen, braucht vor dem ersten Pressetee zu verzweifeln.
Die Weltbühne, 15. Februar 1927