Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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5. Unwissenheit in Rom. Der Liber Pontificalis des Anastasius. Seine Entstehung, sein Charakter. Übersetzungen des Anastasius aus dem Griechischen. Das Leben Gregors des Großen von Johannes Diaconus.

Wenn der Anonymus von Salerno zur Zeit Nikolaus' I. nach Rom gekommen wäre, so hätte er hier nimmer eine Schar von zweiunddreißig Philosophen zu entdecken vermocht, wie er sie im Jahre 870 in dem blühenden Benevent will gezählt haben. Wenn Erchempert, der Fortsetzer der Geschichte der Langobarden des Paul Diaconus, aus seinem gelehrten Kloster Monte Cassino (es blühte damals darin der ausgezeichnete Abt Bertarius) nach Rom gekommen wäre, so würde ihn die Unwissenheit der Mönche und Kardinäle erschreckt haben; und wäre hier Photius, jener von Nikolaus I. exkommunizierte griechische Patriarch, erschienen, so hätte das Licht seines Wissens wie ein Wunder in Rom geleuchtet, wo kaum ein Scholast mehr die Statuen der Weisen und Dichter zu benennen wußte, welche noch schwarz und verstümmelt in dem zerfallenen Forum des Traianus standen.

Die Stadt des Cicero wurde nicht durch die wissenschaftliche Bildung der Byzantiner allein beschämt; denn dieselben Araber, welche die Schätze St. Peters und Pauls plünderten, konnten sich ihrer Universitäten und Philosophen, ihrer Theologen und Grammatiker, Astronomen und Mathematiker rühmen, welche Kairawan, Sevilla, Alexandria, Bassora und Bagdad, das mohammedanische Athen des Ostens, zierten. Konstantinopel, die große Weltstadt der Theologen und Sophisten, der Grammatiker und gelehrten Pedanten, fand in demselben Cäsar Bardas, welcher den Patriarchen Ignatius gestürzt hatte, einen mächtigen Mäzen, in ihren Prinzen, wie Leo Philosophus und später dessen Sohn Constantin Porphyrogenetus, eifrige Schüler der Wissenschaft, und in Photius einen neuen Plinius oder Aristoteles barbarischer Zeit, welcher nur einen kleinen Teil seiner Belesenheit, Auszüge von 280 Autoren, in seine berühmte »Bibliothek« niederlegte.

Im Bewußtsein der noch verhältnismäßigen Reinheit der griechischen Sprache, welche ihr wissenschaftliches Leben noch jahrhundertelang erhielt, blickten die Byzantiner mit Geringschätzung auf Rom. Der Kaiser Michael verhöhnte in einem Brief an den Papst Nikolaus I. die Römer wegen ihres Lateins, welches er eine Sprache der »Barbaren und Skythen« nannte, und wie sie damals vom Volk gesprochen, von den Notaren, selbst von den Chronisten geschrieben wurde, gab sie den gelehrten Griechen zum Spotte Grund genug. Der Papst antwortete in einem sehr guten Latein, womit er oder seine noch immer stilgeübte Kanzlei sich zusammennahm; und dies war die beste Art der Verteidigung. Er konnte dem Kaiser passend antworten, daß es von ihm lächerlich sei, den Titel eines Imperators der Römer zu beanspruchen, deren Sprache er nicht zu reden wisse und deshalb barbarisch nenne, aber die Gründe, mit denen er die Sprache des Caesar, Cicero und Virgil in Schutz nahm, sind nur von der christlichen Religion und dem Kreuze hergenommen, dessen Titel I. N. R. I. lateinisch sei.

Selbst die von den Römern Barbaren gescholtenen Völker Deutschlands und Galliens fuhren fort, durch ihre Bildung in der Sprache und Wissenschaft der Lateiner sich hervorzutun. Ein Hinkmar von Reims war ein Mirakel in den Augen der Kardinäle der Stadt. Die Poesie, ob geistlicher oder weltlicher Art, war hier verstummt, aber in derselben Zeit, wo die Römer kaum soviel Talent besaßen, um einige Epigramme für ihre Kirchenmusive, ihre Stadttore oder Grabsteine in barbarischen Rhythmen und Worten zusammenzusetzen, schrieben fränkische Chronisten wie Ermold Nigellus in lateinischen Versen ihre Geschichten, und dichteten deutsche Poeten, deren Väter noch Heiden gewesen, in der kraftvollen Ursprache unseres Volkes Evangelienharmonien, deren Originalität wir noch heute bewundern. Kein theologisches Werk wurde mehr in Rom verfaßt. Die Geschichte der Stadt, ihre so denkwürdige Umwandlung seit Pippin und Karl, fand nicht einen einzigen Annalisten, und während Deutschland und Frankreich, selbst Unteritalien, wo das ehrwürdige Monte Cassino die Geschichtschreibung pflegte, eine große Zahl von Chroniken hervorbrachten, hat die Trägheit der römischen Mönche die Ereignisse der Stadt in ein tiefes Dunkel begraben.

Jedoch das Papsttum hat gerade in dieser Epoche seine uralte Chronik eifrig fortgesetzt. Seit der Ausbildung des Kirchenstaats, seit dem Anwachsen der Macht nicht nur der Päpste, sondern auch der Bischöfe, deren Sprengel reiche Immunitäten wurden, machte sich das Bedürfnis fühlbarer, die Geschichte der Kirchen in geordneter Reihenfolge ihrer Vorsteher und als deren Lebensbeschreibung der Nachwelt zu überliefern. Solches Bedürfnis war nicht vereinzelt, denn dieselbe Zeit erzeugte mehrere Sammlungen dieser Art, welchen allen Kataloge der Bischöfe, ihre Briefe oder Regesten und sonstige Akten zugrunde lagen. Außerhalb Roms sammelte und schrieb Agnellus die barbarische, doch schätzbare Geschichte der Metropoliten Ravennas, und der neapolitanische Diaconus Johannes verfaßte die Lebensbeschreibungen der Bischöfe seiner Vaterstadt. So glaubt man auch, daß in derselben Zeit der Liber Pontificalis gesammelt und redigiert worden sei, und zwar durch Anastasius; denn dem Buch der Päpste überhaupt ist sein Name angeheftet worden, obwohl ohne Grund.

Dieser Anastasius mit dem Titel »Bibliothekar« lebte unter Nikolaus I. und Johann VIII. Es ist ungewiß, ob von seiner Hand auch nur die Lebensbeschreibungen der Päpste seines Zeitalters herrühren. Biographien der Päpste waren schon seit dem II. und III. Jahrhundert in Form kalendarischer Aufzeichnungen und Kataloge über ihre Regierungsjahre und Handlungen zusammengestellt worden. Seit Gregor dem Großen benutzte man dazu auch ihre Briefe und Akten. So entstanden aus solchem immer vollständigeren Material die amtlich fortgeführten Lebensbeschreibungen der Päpste, welche in der karolingischen Periode am reichhaltigsten sind. Ihr Charakter hat nichts Annalistisches, was ihren Gebrauch erschwert; sie sind ein ungeschicktes Gemenge sehr genauer Notizen über Bauten und Weihgeschenke und wirklich historischer Ereignisse. Ihr schlechter Stil ist von der römischen Kanzleisprache weit verschieden, deren Gewandtheit, Sicherheit und Kraft uns noch in den Regesten Nikolaus' I. und Johanns VIII. in Erstaunen setzt, welche glücklicherweise auf unsere Zeit gekommen sind. Ihr Wert aber ist unschätzbar, weil sie aus den zuverlässigsten Quellen geschöpft sind, und selbst manche absichtliche Entstellung von Tatsachen zugunsten des Papsttums kann ihn nicht verringern. Die Kenntnis dieses Papsttums und auch der Stadt Rom in langen Jahrhunderten wäre ohne sie in völligem Dunkel geblieben. Da nun der Liber Pontificalis nach der Biographie Nikolaus' I. für lange Zeit aufhörte, in traditioneller Art fortgeführt zu werden, so werden wir bald genug für die Geschichte der Stadt das Versiegen dieser Quelle zu beklagen haben.

Der Bibliothekar Anastasius war übrigens der griechischen Sprache mächtig; er übersetzte die Chronographie des Nikephorus, Georg Syncellus und Theophanes und andere Werke griechischer Kirchenliteratur. Auch sein Mitbürger, der Diaconus Johannes, verstand Griechisch. Er schrieb das Leben Gregors des Großen mit Benutzung der Akten des lateranischen Archivs. Daß eine solche Monographie gerade in der karolingischen Zeit entstand, und nachdem der Verfasser den Pontifikat Nikolaus' I. erlebt hatte, eines Papsts, der an die Tätigkeit und Größe Gregors erinnerte, ist der Bemerkung wert. Seine Schrift ist eine selbständige Arbeit und von dem dürren Charakter aller Lebensbeschreibungen der Päpste auffallend verschieden. Sie zeigt einen rhetorischen Autor von beweglicher Phantasie, welcher in freilich unglücklicher Weise nach Eleganz und Fülle strebt und einige Kenntnis alter Literatur verrät.


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