Ferdinand Gregorovius
Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter
Ferdinand Gregorovius

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Siebentes Kapitel

1. Avitus Kaiser 455. Panegyricus des Apollinaris Sidonius und dessen Ehrenstatue. Sturz des Avitus durch Rikimer. Majorianus Kaiser 457. Sein Edikt wegen der Monumente Roms. Beginnender Vandalismus der Römer. Sturz Majorians im Jahre 461.

Auch die Einnahme Roms durch Geiserich hinterließ keine nachdrücklichen politischen Folgen. Sie war nichts gewesen als eine afrikanische Razzia, die glückliche Ausführung eines kühnen Seeräuberzuges, was in späteren Jahrhunderten Sarazenen von eben jenen Küsten mehr als einmal zu wiederholen versuchten.

Der Thron des Abendlandes, von keinem erblichen Kaisergeschlecht mehr beansprucht, wurde jetzt wieder die Beute ehrgeiziger Generale. Bald nach dem Tode des Maximus nahm ihn ein Edler aus Gallien ein. Die Wünsche dieser damals noch sehr wohlhabenden und mächtigen Provinz und die eigennützige Freundschaft des Westgotenkönigs Theoderich erhoben den General Avitus in Toulouse zur höchsten Würde. In Arles legte er vor dem zustimmenden Heer und Volk den Purpur an, am 10. Juli 455. Der römische Senat hütete zwar sein Wahlrecht noch mit Eifersucht, aber er war doch gezwungen, die vollendete Tatsache anzunehmen; er lud Avitus ein, nach Rom zu kommen. Der Gallier, ein Mann von feiner Bildung, empfing hier seine Bestätigung, und sein eigener Schwiegersohn, der berühmte Apollinaris Sidonius, las am 1. Januar 456 vor den versammelten Vätern den altgebräuchlichen Panegyricus auf den neuen Imperator, was ihm die Ehre einer Statue von Erz im Trajansforum eintrug. Der beglückte Poet selbst hat erzählt, daß »die purpurtragenden Quiriten«, das heißt der Senat, nach einmütigem Richterspruch ihm diese Auszeichnung zuerkannten, und er schmeichelte sich mit dem Gedanken, daß Trajan es gesehen habe, wie man ihm, dem Dichter, unter den Autoren der griechischen und lateinischen Bibliothek ein dauerndes Standbild aufstellte. So hielten die Römer selbst noch damals, unmittelbar nach den schrecklichsten Plünderungen, an den edlen Gewohnheiten ihrer Ahnen fest; zugleich aber haben wir mit dieser Stelle des Sidonius den Beweis in Händen, daß die Vandalen sich weder an den Ulpischen Bibliotheken noch an den Statuen vergriffen hatten, die jene Hallen zu zieren fortfuhren.

Der römische Senat konnte es indes nicht verschmerzen, einen Kaiser anerkannt zu haben, welcher mit Hilfe von Provinzialen und Barbaren den Thron eingenommen hatte. Ein geheimes Verständnis mit dem Grafen Rikimer, einem zur Macht gelangten Fremden, wurde zu seinem Sturze eingeleitet. Rikimer stammte aus dem spanisch-suevischen Herrscherhause, da der Vater seiner Mutter der König Wallia gewesen war. In der Schule des Aëtius hatte er sich zum Kriegsmanne ausgebildet und dann der Reihe nach unter Valentinian, Maximus und Avitus mit Auszeichnung gedient. Kühnheit, Verschlagenheit und Ehrgeiz befähigten ihn, wie ehedem Stilicho, zu einer ungewöhnlichen Laufbahn in dieser Zeit des untergehenden Römerreichs, wo germanische Krieger erst die Gewalt und dann auch den Thron Italiens an sich rissen. Er war General des Reichs und eben erst durch einen Sieg über die Vandalen im Korsischen Meere zu hohem Ruf gelangt. Mit dem Senat einverstanden, rebellierte er gegen Avitus. Der wehrlose alte Kaiser entwich aus Rom, nachdem die Senatoren seine Entsetzung ausgesprochen hatten; auch in Placentia, wohin er sich begab, um den Purpur mit dem Gewande des Bischofs zu vertauschen, war er nicht mehr sicher; vom Senat geächtet, floh er nach seinem Vaterlande Auvergne und fand auf der Straße den Tod, im September 465.

Das Ausgehen des Stammes des Theodosius und die anarchischen Zustände des Staats hatten dem Senat, der höchsten legitimen Körperschaft des Reichs, eine vorübergehende Kraft gegeben. Auch die Stadt Rom, die schon seit Valentinian III. wieder öfters kaiserliche Residenz war, wurde sich ihrer Stellung als Haupt des Reiches neu bewußt. Freilich lag jetzt in den Händen des Fremdlings Rikimer alle Gewalt. Mit diesem kühnen Emporkömmlinge begann die Herrschaft des Söldnertums in Italien, wodurch das Römische Reich nach zwei Dezennien greuelvoller Verwirrung unterging. Vergebens hatte sich schon seit Honorius die national-römische Partei angestrengt, den Barbaren ihren Einfluß zu entreißen und das überhandnehmende Germanentum zurückzudrängen: denn der Verfall der römischen Verfassung und das unentbehrlich gewordene Söldnerwesen machten alle Anstrengungen des Senates scheitern. Trotzige Barbaren, Generale des Heers im Dienste schattenhafter Kaiser, bildeten jetzt die Aristokratie des Schwertes, einen fremden Kriegeradel neben dem stark geminderten Geschlechteradel Roms, und es bedurfte nur eines besonders günstigen Zufalles, um den Kühnsten von ihnen zum Herrn Italiens zu machen. Rikimer war noch nicht dieser Mann der germanischen Zukunft; er bahnte sie an, indem er selbst sich damit begnügte, Rom als Tyrann der von ihm eingesetzten oder geduldeten Kaiserpuppen zu beherrschen.

Sechs Monate lang blieb der Cäsarenthron unbesetzt, indem Rikimer allein Gebieter war. Vom Senat ließ er sich am 24. Februar 457 zum Patricius ernennen, während er seinem ehemaligen Waffengefährten unter Aëtius, dem Julius Valerius Majorianus, die Würde des Magister Militum erteilte. Sodann erlaubte er diesem seinem Günstlinge, den Thron zu besteigen, und Majorianus wurde am 1. April 457 im Lager bei Ravenna zum Kaiser ausgerufen. Die Wünsche des Volkes, des Staats und des Senats, ja selbst des morgenländischen Kaisers Leo I. waren durch diese Wahl befriedigt. Seltene Tugenden schmückten den neuen Kaiser. Die Lateiner begrüßten ihn mit Jubel. Er erinnerte alsbald seine erstaunte Mitwelt an die besten Fürsten Roms, in deren Zeiten zu herrschen er würdig gewesen wäre, und mit Anteil betrachtet noch die späte Nachwelt in Majorian das allerletzte Bild eines edlen römischen Imperators. In seinem Schreiben an den Senat glaubt man die Stimme Trajans zu hören. Das Programm eines Fürsten, der noch unter Trümmern in so unseliger Zeit nach den Gesetzen des Reichs mit Gerechtigkeit zu regieren beschloß, erfüllte Rom mit Freude, und alle folgenden Edikte Majorians nötigten das Volk zur Bewunderung seiner Weisheit und Menschenliebe.

Unter diesen Gesetzen betrachten wir ein die Stadt Rom betreffendes mit besonderer Aufmerksamkeit. Der edelmütige Kaiser, welcher das zerrüttete Reich wiederherzustellen, die Finanzverwaltung zu bessern und den verknechteten Kurien der Städte neues Leben einzuflößen suchte, nahm auch die Stadt in seine Obhut. Ihr ödes Ansehen, der schnelle Verfall ihrer Monumente, welche der Staat zu erhalten aufgehört hatte, und noch mehr die gewaltsame Zerstörung alter Gebäude durch die Habsucht der Römer selbst erfüllten ihn mit Scham. Er erließ folgendes Edikt:

»Wir, Regierer des Staats, wollen dem Unwesen ein Ende machen, welches schon lange unsern Abscheu erregt, da ihm gestattet wird, das Antlitz der ehrwürdigen Stadt zu entstellen. Wir wissen, daß hie und da öffentliche Gebäude, in denen aller Schmuck derselben besteht, mit sträflicher Gewähr der Obrigkeit zerstört werden. Während man vorgibt, daß ihre Steine für öffentliche Werke nötig seien, wirft man die herrlichen Gefüge der alten Gebäude auseinander und zerstört das Große, um irgendwo Kleines herzustellen. Daraus erwächst schon der Mißbrauch, daß selbst, wer ein Privathaus baut, sich unterfängt, aus Gunst der städtischen Richter das nötige Material von öffentlichen Orten zu nehmen und fortzutragen, da doch, was den Städten zum Glanze gereicht, vielmehr von der Liebe der Bürger sollte durch Wiederherstellung erhalten werden. Deshalb befehlen wir durch ein allgemeines Gesetz, daß alle Gebäude, welche von den Alten zum öffentlichen Nutzen und Schmuck errichtet worden sind, seien es Tempel oder andere Monumente, von niemandem dürfen zerstört noch angetastet werden. Welcher Richter dies zuläßt, soll um fünfzig Pfund Goldes gestraft werden; welcher Gerichtsdiener und Numerarius seinem Befehle gehorsamt und ihm nicht Widerstand leistet, dem sollen nach erlittener Peitschung auch die Hände abgehauen werden, weil sie die Denkmäler der Alten, statt sie zu schützen, verunglimpft haben. Aus den Orten, die bisher Bewerber durch ungültige Erschleichung an sich gebracht haben, darf man nichts veräußern, sondern wir gebieten, daß alles wieder dem Staat zurückgegeben werde; wir ordnen die Wiederherstellung des Entfremdeten an und heben für die Folgezeit die licentia competendi auf. Sollte aber irgend etwas entweder wegen des Baues eines andern öffentlichen Werks oder wegen des verzweifelten Gebrauchs der Reparation abzutragen nötig sein, so soll der erlauchte und ehrwürdige Senat davon gehörige Kenntnis nehmen, damit, wenn er solches nach reiflicher Erwägung für nötig befunden hat, dieser Fall unserer gnädigen Einsicht vorgelegt werde. Denn was auf keine Weise wiederhergestellt werden kann, soll wenigstens zum Schmuck irgendeines andern öffentlichen Gebäudes verwendet werden.«

Aus diesem Edikt wird leicht erkannt, welche Barbaren ihre gewaltsamen Hände, und zwar schon seit den Tagen Constantins, an die Monumente der Stadt legten. Die verarmten Enkel des Trajan betrachteten mit immer stumpfer werdendem Sinne die verlassenen Denkmäler der Größe Roms, und hüteten auch edle Patrioten noch die Überlieferungen des Altertums, so war doch die Not stärker als ihre Tugend; die Beamten, unter denen viele ihre Ahnen am Ister oder am Rhein aufzusuchen Mühe hatten, blieben gleichgültig oder käuflich. Säulenhallen, Basiliken und Tempel, vielleicht auch schon hie und da ein Theater und ein Circus reizten das Verlangen nach dem Besitz ihres köstlichen Materials; auch schien es verständiger, die herrlichen Marmorplatten zum Privatgebrauch zu verwenden, als sie der Zerstörung durch die Elemente zu überlassen. Man durfte es freilich nicht wagen, die ausgezeichneten Gebäude anzutasten, aber man machte sich an minder große und mehr versteckte, und mancher verödete Tempel war mit dem Grund und Boden, worauf er stand, bereits in Privatbesitz übergegangen. Der Bau christlicher Kirchen seit Constantin hatte außerdem das erste lockende Beispiel zur Beraubung aller Monumente gegeben; die Priester (und auf sie mochte sich das Edikt zum großen Teil beziehen) entrafften Marmor und Gebilde mancher Art, um ihre Kirchen zu bauen oder zu verzieren. Die Zeit war gekommen, wo Rom, sich selbst zerstörend, als eine große Kalkgrube und ein öffentlicher Steinbruch ausgebeutet wurde; und als solche hat die Stadt den Römern selbst mehr als tausend Jahre lang gedient.

Welche weise Gesetze auch Majorianus erließ, er konnte weder den Verfall der Stadt noch des Reiches aufhalten; die schwere Last zerbrach ihn selbst, den letzten Pfeiler Roms. Sein höchstes Ziel war die Züchtigung Geiserichs und die Wiedereroberung Afrikas. Er bändigte erst eine Empörung in Gallien, schloß ein neues Bündnis mit dem Westgotenkönige Theoderich, rüstete eine Flotte und ein zahlreiches Heer und brach dann im Mai 460 von Gallien nach Saragossa zum Kriege gegen die Vandalen auf. Aber der Verlust eines Teils seiner Flotte im Hafen Cartagena, wo sie vielleicht mit dem verräterischen Einverständnis Rikimers überfallen wurde, nötigte den Kaiser, nach Gallien zurückzukehren, und bald darauf fand er selbst den Untergang. Rikimer hatte mit Unwillen erkannt, daß Majorian selbständig als Römer regierte; er stürzte den Wehrlosen ohne Mühe. Am 2. August 461 ließ er ihn zu Tortona festnehmen, wo er sich befand, um nach Rom zurückzukehren. Der hochherzige Kaiser tat, was der Tyrann verlangte: er legte den Purpur ab, und bald darauf (am 7. August) wurde er enthauptet. »Ein Mann«, so sagt der griechische Geschichtschreiber, »den Untergebenen gerecht, schrecklich den Feinden, und welcher alle, die zuvor über die Römer geherrscht hatten, in jeder Tugend übertroffen hat.« Die letzten Hoffnungen Roms wurden mit diesem edlen Kaiser begraben.


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