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1. Charakter des sechsten Jahrhunderts. Mohammed und Gregor. Religiöse Zustände. Reliquiendienst. Wunderglaube. Gregor weiht die Gotenkirche S. Agata auf der Suburra.
Dieses Kapitel ist gleichsam die Kehrseite des vorigen. Wenn wir dort die hohe Gestalt Gregors im hellen Licht seines durchdringenden Verstandes und einer vielseitigen Tätigkeit ohnegleichen gesehen haben, so wird ihn hier das Dunkel seines Jahrhunderts umgeben. Der Geist dieses großen Mannes war von manchem Aberglauben umfangen, den er dann durch einige seiner Schriften über Länder und Völker verbreiten half. Das Genie kann sich in einigen Dingen über seine eigene Zeit erheben, in anderen nicht, und jeder menschliche Geist wird von der Strömung der Bedürfnisse, Empfindungen und Vorstellungen seiner Gegenwart getragen, die ihn als eine elementarische Luft umgeben.
Das sechste Jahrhundert ist eins der merkwürdigsten in der Geschichte überhaupt. Die Menschheit erlebte in ihm den Zusammensturz einer alten, großen Kultur und glaubte deshalb auch, daß das Ende der Welt gekommen sei. Eine dichte Wolke der Barbarei wie vom Schutte des Einsturzes lagerte sich auf dem Römischen Reich, welches die Würgengel der Pest und anderer Plagen durchzogen. Die Welt trat in eine Krisis neuer Entwicklung; auf den Trümmern des alten Reichs, über denen als verfrühte Sendlinge Germaniens die Goten gefallen waren, bildeten sich bereits frische Gestaltungen des nationalen Lebens aus. Italien erneuerte sich durch die Langobarden, Gallien durch die Franken, Spanien durch die Westgoten, Britannien durch die Sachsen. Die katholische Kirche erkannte sich als Lebensprinzip dieser konzentrisch werdenden Völkerkreise und zog sie allmählich durch Überwindung des Arianismus zu einer Einheit zusammen, welche sich früher oder später in einem neuen abendländischen »Reich« die politische Form geben mußte. Dies geschah in derselben Zeit, als der Orient von ähnlichem Entwicklungsdrange erfüllt war, und Mohammed eine neue Religion stiftete, welche auf den östlichen Trümmern des Römischen Imperium die Völker bezwang und vereinigte und das Byzantinische Reich zuerst zum Rückzuge aus Italien nötigte und dann zu einem noch jahrhundertelang mit Heldenmut verteidigten Bollwerk des Abendlandes und der hellenischen Kultur machte. Gregor und Mohammed waren die zwei Priester des Westens und des Ostens, die auf den Ruinen des Altertums jene beiden Hierarchien errichteten, durch deren feindlichen Zusammenstoß die ferneren Schicksale Europas und Asiens bestimmt worden sind. Rom und Mekka, die Basilika des St. Petrus hier und dort die Kaaba, wurden die symbolischen Bundestempel der europäischen und der asiatischen Welt, während das Wunderwerk des Byzantinischen Reichs, jene von Justinian der heiligen Sophia erbaute Kirche, das Zentrum des fortlebenden Griechentums blieb.
Darf man sich wundern, daß jene Zeit des Zusammensturzes der Völker und des Überganges zu neuen Bildungen vorzugsweise die religiöse Phantasie aufregte? Wenn in krankhaften Krisen alle positiven Kräfte der Seele stillstehen, so wuchern Einbildung und Wahn unbestritten im Reich des Traumlebens fort. Es bemächtigte sich der Gesellschaft wieder, wie zur Zeit Constantins, eine mystische Ekstase; wir sahen auch eben erst in Benedikt den Stifter eines neuen Mönchtums sich erheben, welches aus Rom hervorging. Von tiefen Leiden krank, versenkte sich das Gemüt der Menschen in finstere Schwärmerei. Man darf es für eine sehr bezeichnende Tatsache in bezug auf das religiöse Leben der damaligen Römer halten, daß sie in jenen von uns beschriebenen Pestprozessionen ihr Ziel nach der Kirche der Jungfrau Maria nahmen. Nicht der Heiland, sondern seine Mutter wurde als Retter angerufen; so zeigte sich der Mariendienst, der noch heute in Italien und Griechenland der Hauptkultus ist, schon damals herrschend. Vor Constantin würde eine ähnliche Prozession, wenn sie stattfinden konnte, ihren Ausgang zu Christus, dem Stifter der Religion, in den Vandalen- und Gotenzeiten zum Apostel Petrus genommen haben; aber jetzt war die Mutter Jesu der Phantasie des Volks näher gerückt als der Sohn, dessen furchtbar ernste Majestät aus den Musiven dem Blick des Schutzsuchenden nur in der Erscheinung eines schrecklichen Weltrichters begegnete. Darf man behaupten, daß die Veränderung des einst jugendlichen, fast apolloartigen Christusideals in diese finstere, greisenhafte Gestalt auf Mosaiken dazu beigetragen hat, das Gemüt des Volks mit ehrfürchtiger Scheu vom Kultus des Heilands zu entfernen? Der reine Dienst der Gottheit war überhaupt schon lange in eine neue Mythologie zersplittert worden; die Verehrung der Heiligen, das Zeremonienwesen, der Meßgebrauch und der in pomphaften Formen sich darstellende Kirchendienst entwickelten sich, nachdem die Epoche der Kirchenväter und der dogmatischen Kämpfe um die Grundlehren des Christentums beendigt war. Von Christus zu den Aposteln als den Fürsten der Hierarchie berabsteigend, hatte sich die Andacht der Gläubigen zu der großen Schar von Märtyrern oder Kämpfern für Christus hingewendet. Ihre Kirchen erfüllten die Städte, ihre Gebeine und Altäre die Kirchen. Das sinnliche Volk der Lateiner war des Monotheismus zu allen Zeiten unfähig; die Römer waren nicht sobald Christen geworden, als sie fortfuhren, ihre Stadt, seit altersher ein Pantheon der Götter, mit neuen Heiligen aus allen Provinzen, mit deren Reliquien und Kirchen zu erfüllen. Die Schule der weltlichen Wissenschaft, Kritik und Urteil erloschen und machten mehr als je der mystischen Schwärmerei und dem materiellen Kultus Platz. Nur die Malerei, eine Kunst, deren Wichtigkeit für jene Epochen nicht hoch genug kann angeschlagen werden, erhielt noch ein schwaches ideales Vorstellen in der barbarisch gewordenen Menschheit.
Der Reliquiendienst war zur Zeit Gregors so völlig ausgebildet, wie er es heute ist. Die Römer behaupteten, vor allen andern Heiligtümern die Reste der Apostel Petrus und Paulus zu besitzen, und eher würden sie ihre Stadt den Langobarden überliefert, als einen Teil jener preisgegeben haben. Die Kaiserin Constantina machte dem Papst das arglose Anmuten, ihr für die Konfession einer Kirche, welche sie im Palast zu Byzanz erbaute, den Kopf des Apostels Paulus oder sonst ein Glied von dessen Leibe zu schicken; Gregor schrieb ihr einen Brief, in welchem er Mühe hatte, seine Entrüstung zu bemeistern. Er sagte ihr, daß es ein todwürdiges Verbrechen sei, die heiligen Leiber zu berühren, ja nur mit dem Blick der Augen ihnen zu nahen. Er selbst habe am Grabe St. Pauls eine geringe Änderung vornehmen wollen und könne versichern, daß einer von den Beauftragten, der es gewagt, einige nicht einmal dem Apostelleibe angehörige Gebeine zu berühren, jählings vom Tode getroffen worden sei. Pelagius habe das Grab des St. Laurentius öffnen lassen, während er am Bau seiner Kapelle beschäftigt war, und alle Mönche und Aufseher der Kirche, die den Leichnam gesehen, seien innerhalb zehn Tagen gestorben. Es sei hinreichend, wenn man ein Stück Tuch, welches das Grab des Apostels bedeckt gehabt, in eine Büchse tue, um seiner Wunderkräfte zu genießen; und solche gleichsam magnetisierte Tuchlappen, die man Brandea nannte, oder etwas von den Ketten des Apostels Petrus wolle er der Kaiserin schicken, wenn es nämlich gelinge, davon abzufeilen. Denn der damit beauftragte Priester, so setzte er schlau hinzu, bringe das nicht für alle darum Bittenden zustande, sondern oft feile er an den Ketten, ohne auch nur ein Spänchen davon zu erhalten.
Die Römer hatten Grund, ihre Reliquien ängstlich zu hüten, denn sie wurden stark begehrt. Es gab damals viele Schatzgräber und vielleicht noch mehr Knochengräber, Leute, die zu ihrem Gewinn oder im Auftrage fremder Bischöfe reisten, um die Kirchhöfe der Märtyrer in der Stille zu durchwühlen und sich dann mit ihren Schätzen davonzumachen. Die Römer entdeckten eines Tages griechische Männer, die neben der Basilika St. Pauls Knochen ausgruben, und sie hüteten die Reliquien ihrer Stadt besser als ihre Mauern. Stolz auf den Besitz solcher Pfänder, die keine andere Kirche der Welt mit ihnen teilen durfte, sahen sie in ihnen die Palladien Roms und auch die Magnete, welche Pilger aus allen Ländern herbeizogen. Wenn der Papst Feilspäne von den Ketten des Apostels Petrus, denen man bereits im VI. Jahrhundert die Erhaltung Roms zuschrieb, austeilte, so galt dies als ein so hohes Geschenk, wie es später die geweihte Goldene Rose war. Es war Gebrauch geworden, Eisenteilchen von jenen Ketten in einen goldenen Schlüssel zu tun und diesen als Amulett am Halse zu tragen. Bisweilen fügte man auch Eisenspäne vom fabelhaften Rost des St. Laurentius hinzu und versendete goldene Kreuze, worin Spänlein vom Holz »des wahren Kreuzes« verschlossen waren. Solche Kreuze und Goldschlüssel galten als Schutzmittel gegen Krankheit und jegliches Übel. Gregor selbst weiß von ihrer Heiligkeit zu erzählen, daß einem langobardischen Soldaten, welcher ein erbeutetes Peterkreuz umändern wollte, zur Strafe dieser frechen künstlerischen Anwandlung die Klinge in die Kehle fuhr. Er schickte die Amulette nur an Personen höchsten Ranges, an Exkonsuln, Patrizier, Präfekten und Könige, wie Childebert von Franzien, Reccared von Spanien, Theodolinde. Entfernten Kirchen wurde vom Öl der Lampen gespendet, welche vor den Märtyrergräbern brannten. Man tauchte Baumwolle darein, tat es in Vasen, versah es mit dem Titel des Heiligen und versandte es hierauf. Die Berührung desselben reichte, wie Gregor versicherte, hin, Wunder zu tun. Es gab bestimmte Tage, an denen sich die Gläubigen mit solchem Reliquienöl zu salben pflegten. Dagegen war es Sitte, von dem Öl des Heiligen Kreuzes aus Jerusalem nach Rom Geschenke zu machen.
Gregor, der das Haupt St. Pauls den Byzantinern verweigerte, hatte jedoch selbst aus dem Orient einen Arm des Apostels Lukas und einen des Andreas glücklich in die Stadt gebracht, welche eifrig darnach trachtete, noch mehr Reliquien von höchstem Ruf in sich zu vereinigen. Man sagt, der Papst habe auch den wundertätigen Rock des Evangelisten Johannes aufgetrieben und in der Lateranischen Basilika niedergelegt. Johann Diaconus versicherte drei Jahrhunderte später, daß diese Tunika bis auf seine Zeit nicht aufgehört habe, von Wundern zu glänzen, daß sie, zur Zeit der Dürre vor den Türen des Laterans ausgeschüttelt, Regen herabziehe, zur Zeit der Wolkenflut heitern Himmel mache; und somit hatten die Römer den lapis manalis oder Regenstein, welcher in heidnischer Zeit durch Umtragen auf der Via Appia jahrhundertelang dieselben Wunder bewirkte, glücklich ersetzt.
Im Zusammenhange mit diesem Kultus steht aller übrige Wahnglaube jener Zeit: Erscheinungen der Maria, des Petrus, Auferwecken der Toten, das Wohlriechen der Leiber, der Heiligenschein, das Auftreten der Dämonen; alles dies ist schon lange ausgebildet. Nur darf solcher Aberglaube bei einem Manne wie Gregor befremden, dessen hoher Sinn selbst die Juden vor der Verfolgung fanatischer Bischöfe in Schutz nahm. Er bekannte sich in seinen Briefen und Dialogen zu den Überzeugungen seiner Zeit; wir würden deshalb gern manche Erscheinung derselben wie eine längst überwundene Verirrung der menschlichen Phantasie betrachten, gäbe unsere Gegenwart uns das Recht dazu. Gregor weihte die Kirche in der Suburra, dieselbe, welche Rikimer gestiftet hatte, der heiligen Agata von Catanea, wo sie noch heute als Beschützerin vor den Flammen des Ätna Verehrung genießt. Seine lebhaften Beziehungen zu Sizilien waren wohl Ursache, daß er die Heilige dieser Insel in den römischen Stadtkultus aufnahm. Er wollte auch die letzte Erinnerung an den Arianismus in Rom vertilgen und machte daher jene bis zu seiner Zeit verschlossene Kirche wieder katholisch. Er erzählt ernsthaft, daß nach vollendeter Weihe der Teufel in der unsichtbaren, aber fühlbaren Gestalt eines Schweins hin und wieder zwischen den Beinen der Anwesenden und zur Türe hinausgelaufen sei. Drei Nächte lang habe man ein fürchterliches Gepolter im Dachstuhl gehört, bis sich endlich eine wohlriechende Wolke auf den Altar niedergelassen habe. Wir erzählen das weniger wie eine Anekdote, sondern aus historischem Interesse: die Duldung des arianischen Bekenntnisses hatte mit dem Falle der Goten aufgehört; die letzten Spuren ihrer Herrschaft in Rom hafteten noch an einigen verschlossenen Kirchen, und mehrere mußten den Arianern angehört haben, denn Gregor sagt, daß er auch eine arianische Kirche in der dritten Region am Palast Merulana reinigen und dem St. Severinus weihen wolle, dessen Reliquien er aus Kampanien verschrieb. Es ist überflüssig, hinzuzufügen, daß sich der Glaube an die Hölle längst ausgebildet hatte, während von Gregor selbst das Dogma vom Fegefeuer ( purgatorius ignis) herrührt. Nur eine Wahrnehmung ist des Bemerkens wert; obwohl als Aufenthalt der verdammten Seelen das Tal Gehenna galt, wurden doch auch andere Orte als Lokale der Unterwelt angesehen. So war die Seele des Königs Theoderich in den Krater des Vulkans in Lipari hinabgefahren. Den gichtbrüchigen Bischof Germanus von Capua hatten seine Ärzte in die Bäder zu Anguli, dem heutigen S. Angelo in den Abruzzen, geschickt; der ehrwürdige Prälat war dort kaum eingetreten, als er in nicht geringen Schrecken versetzt wurde, denn er sah mitten in den Dämpfen jener Bäder die Seele des Diaconus Paschasius schwitzen, und das Gespenst versicherte ihn, daß dies die Strafe für seine ketzerische Zustimmung zur Wahl des Gegenpapsts Laurentius sei.