Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Ich bin mit deinem Freund Aristipp, wie in vielem andern, auch darin einverstanden, daß jeder Mensch, so bald er Verstand genug hat eine Filosofie, d. i. eine mit sich selbst übereinstimmende Lebensweisheit nach festen Grundsätzen, zu haben, in gewissem Sinn seine eigene hat. Das was den Unterschied macht, ist nicht die Richtung: wir gehen alle auf eben dasselbe Ziel los. Eudämonie ist der Preis, nach welchem wir ringen; und wie gern der stolze Plato (der, wenns möglich wäre, gar nichts mit uns Andern gemein haben möchte) sich auch die Miene gäbe, als ob das übersinnliche Anschauen der formlosen Urwesen und die geistige Vereinigung mit dem Auto-Agathon, ohne alle andere Rücksicht das einzige Ziel seiner Bestrebungen sey, so soll er mich doch nicht bereden, daß sie es auch dann noch seyn würden, wenn er sich in diesen – geistigen oder fantastischen? – Anschauungen nicht glücklicher fühlte als in jedem andern Genuß seiner selbst. Der Unterschied wird also in dem Wege und den Mitteln bestehen. Wir Cyniker, z. B. wählen uns, mehr oder weniger freiwillig, den kürzesten Weg, unbekümmert daß er ziemlich rauh und steil ist und hier und da von Disteln und Dornhecken starrt. Aristipp wählte sich einen weitern, aber ungleich ebenern und anmuthigern Weg, nicht ohne Gefahr unversehens auf diesen oder jenen Abweg zu gerathen, der ihm das Wiedereinlenken in die rechte Bahn mehr oder minder schwer machen könnte. Andere haben sich zwischen diesen beiden, oft ziemlich weit aus einander laufenden Wegen, mehrere Mittelstraßen gebahnt. Plato nimmt den seinigen sogar, wie Ikarus, durch die Wolken; unleugbar der sanfteste und nächste, wenn es nicht der gefährlichste wäre. Noch verschiedener sind die Mittel, wodurch jeder auf seinem Wege sich zu erhalten und zu fördern sucht. Tausend innere und äußere, zufällige und persönliche Umstände, Temperament, Erziehung, geheime Neigungen, Verhältnisse, kurz das Zusammenwirken einer Menge von mehr oder minder offen liegenden oder verborgenen Einflüssen auf Verstand und Willen, ist die Ursache der verschiedenen Gestalten und Farben (wenn ich so sagen kann) worin sich eben dieselbe Lebensweisheit (ich erkenne keine Filosofie die nicht Ausübung ist) im Leben einzelner Personen darstellt, und worin eben das Eigenthümliche derselben besteht. Denn, wie gesagt, im Hauptzweck, und selbst in solchen Mitteln, welche, als zu jenem unentbehrlich, selbst wieder zu Endzwecken werden, stimmen Alle überein. Von dieser Art ist z. B. die Befreyung der Seele von Wahn und Leidenschaft, ohne welche schlechterdings keine Eudämonie denkbar ist. Alle Filosofen, von Thales und Pythagoras an, bekennen sich zu diesem Grundsatz: aber wie weit gehen sie wieder aus einander, so bald es zur Anwendung kommt! Wir können von den Wahnbegriffen, Fantomen und Vorurtheilen, die unsern Verstand benebeln und irre führen, nur durch die Wahrheit frey werden. Aber was ist Wahrheit? Der Eine behauptet die Ungewißheit aller Erkenntniß; ein Anderer erklärt alle sinnlichen Anschauungen und Gefühle für Täuschung und Betrug und sucht die Wahrheit in einer übersinnlichen Ideenwelt; ein Dritter läßt im Gegentheil keine Erkenntniß für zuverlässig gelten, die uns nicht durch die Sinne zugeführt und durch die Erfahrung bestätigst wird, u. s. w. Eben so ist es mit der Befreyung von der Herrschaft der Triebe und Leidenschaften. Der Eine will alle Begierden an die Kette gelegt, und den Leidenschaften alle Nahrung entzogen wissen; ein Anderer läßt nur die reinen Naturtriebe gelten, und verwirft alle durch Verfeinerung und Kunst erzeugte Neigungen; ein Dritter will die natürlichen Triebe und Leidenschaften weder ausgerottet noch gefesselt, sondern bloß gemildert, verschönert, und durch die Musenkünste mit Hülfe der Filosofie in die möglichste Harmonie und Eintracht gesetzt sehen. Alle diese Verschiedenheiten sind in der Ordnung, so lange die Leute keine Sekten stiften wollen. Jeder hat für seine eigene Person Recht; aber so bald sie mit einander hadern, und sich um den ausschließlichen Besitz der Wahrheit, wie Hunde um einen fetten Knochen, herum beißen, dann haben sie alle Unrecht; – und in diesem einzigen Punkt wenigstens ist Diogenes, der mit niemand um Meinungen hadert, vollkommen gewiß daß er Recht hat.

Indessen ist am Ende die Anzahl der Filosofen, denen dieser Nahme in der eigentlichsten Bedeutung zukommt, so klein, daß wahrscheinlich unter der ganzen übrigen Menschenmasse manche seyn müssen, die an Sinnesart, Gemüthsbeschaffenheit und äußerlichen Umständen mit irgend einem von Jenen mehr oder weniger übereinstimmen. Ich betrachte daher jeden unsrer Filosofen gleichsam als den Repräsentanten einer ganzen Gattung, und indem ich annehme, daß seine Filosofie einer Anzahl ihm ähnlicher Menschen als Ideal oder Kanon ihrer Denkart und ihres Verhaltens brauchbar seyn könne, berechne und schätze ich hiernach ungefähr den verhältnismäßigen Nutzen, den sie der Menschheit etwa schaffen könnte. So kann, z. B. meiner demüthigen Meinung nach, die Platonische Filosofie nur solchen Menschen verständlich seyn und wohl bekommen, denen zu einem schwarz gallichten Temperament ein hoher Grad von Einbildungskraft und Scharfsinn und eine nicht gemeine Kultur mit völliger Freyheit von Geschäften zu Theil wurde, d. i. sehr wenigen. Die Aristippische scheint auf den ersten Anblick weit mehrerern angemessen zu seyn: aber sie macht aus dem Wohl leben (aus dem, was sie Hedone nennt und worüber ich deinen Freund nie anfechten werde) eine so schöne und zugleich so schwere Kunst, daß, meines Bedünkens, nur ein besonders begünstigter Liebling der Natur, der Musen und des Glücks (schier hätte ich auch noch die schöne Lais hinzugesetzt) es darin zu einiger Vollkommenheit zu bringen hoffen darf. Wie die Platonische die Filosofie oder Religion der edelsten Art von Schwärmern ist, so sollte Aristipp das Muster und seine Hedonik die Lebensweisheit aller Eupatriden und Begüterten seyn; auf diese Weise würde die Schwärmerey unschädlich, Geburtsadel und Reichthum sogar liebenswürdig werden. Aristipps Filosofie, zum Nießbrauch solcher Leute, die das Glück vergessen oder übel behandelt hat, herabgestimmt, würde sich der Cynischen nähern, nach deren Vorschriften jeder glücklich leben kann, der in einem Staat, wo er als Bürger keinen Anspruch an die höhern und eigentlichen Vortheile des politischen Vereins machen will oder zu machen hat, wenigstens den Genuß seiner Menschheitsrechte in Sicherheit bringen möchte. Um ein Cyniker zu seyn, braucht man nichts als ein bloßer Mensch zu seyn; mit so wenig Zuthaten und Anhängseln als möglich, aber freylich ein edler und guter Mensch; und eben darum wird unser Orden, dem ersten Anschein zu Trotz, immer nur zwey oder drey Mitglieder auf Einmahl zählen. Sollte er (was die Götter verhüten mögen!) jemahls zahlreich werden, so könnt' es nur dadurch möglich seyn, daß seine Glieder den Geist desselben gänzlich verlören, und bloß das Kostum, die Sprache, und die übrigen Formen des Cynism zur Hülle und Larve der verächtlichsten Art von Schmarotzerey und Müßiggang herabwürdigten. Ein ächter Cyniker kann, vermöge der Natur der Sache, nicht anders, als eine Seltenheit seyn; und von einem Cyniker wie Krates wird schwerlich jemahls ein zweytes Exemplar erscheinen.

Die rein Sokratische Filosofie, welche, allen Ständen, Lagen und Verhältnissen gleich angemessen, dem Staat edle Menschen und gute Bürger bildet, wird also, die Wahrheit zu sagen, immer die gemeinnützigste unter allen, die aus ihr hervor gegangen, bleiben; und Wehe der, die sichs nicht zur Ehre schätzt ihre Tochter zu heißen, und einer solchen Mutter würdig zu seyn!

So viel, Freund Antipater, auf deine eigene Veranlassung davon, wie ich über Aristipp und seine Filosofie und die andern Masken denke, in welchen sich die menschenfreundlichste aller Himmlischen unter den Griechen sehen läßt. Lebe wohl, und sorge ja dafür, daß keine Abschriften von diesem langen Briefe genommen werden. Die Leute könnten sonst denken, ich habe ein Buch schreiben wollen, und das möchte sich Diogenes nicht gerne nachsagen lassen.


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