Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XL.
Aristagoras an Aristipp.

Hoffentlich hat der weise Sokrates deine weltbürgerliche Filosofie von ihrem hohen Fluge der Erde wieder nahe genug gebracht, daß dir die Schicksale deines Vaterlandes nicht ganz gleichgültig seyn werden. Es ist freylich nur ein Ameisenhaufen, wenn du willst; aber uns Ameisen ist unsere Erdscholle eine Welt. Ich berichte dir also, lieber Aristipp, daß Ariston, dem du dich durch deinen kleinen Brief schlecht empfohlen hattest, deine Weissagung bald genug erfüllt, und mich und meine Mitarbeiter von dem undankbaren Frohndienst, seine Thorheiten, wo nicht immer zu vergüten, wenigstens zu verschleiern und den Übermuth seiner Günstlinge in Schranken zu halten, befreyt hat. Selten ist ein Mensch von den zufälligen Umständen mehr begünstiget worden als Ariston; und wie wenig er auch des Diadems würdig war, hätte er nur so viel Thätigkeit und Gewalt über seine Leidenschaften besessen als nöthig war, die schwärmerische Zuneigung der untern Volksklassen eine Zeitlang zu rechtfertigen, so säß' er jetzt ruhig auf dem Fürstenstuhl der Battiaden; seine Feinde hätten den Muth verloren; der Bürgerkrieg wäre in der Geburt erstickt worden, und die üppigen, Ruhe und Vergnügen über alles liebenden Cyrener, durch seine Popularität, Prachtliebe und Freygebigkeit bestochen, hätten sich unvermerkt gewöhnt, seine Indolenz und Verdienstlosigkeit für Tugenden eines milden friedeliebenden Fürsten anzusehen. Aber sein böser Dämon gewann gleich in den ersten Wochen seiner Regierung die Oberhand. Anstatt die Verwirrung und Schwäche seiner Feinde zu benutzen, und die Flüchtigen ohne Verzug bis in ihren letzten Schlupfwinkel zu verfolgen, überließ er sich seinen dir wohlbekannten Neigungen, ordnete Feste an, affektierte von dem Bürgerkriege als einer geendigten Sache zu reden, und theilte die eingezogenen Güter der Proscribierten unter seine Parasiten aus. Die Vorstellungen seiner getreuesten Räthe wurden nicht gehört, und alles was ihm die Leute riethen, denen er folgte, war zu seinem Verderben. Dennoch hätte alles noch leidlich ablaufen mögen, wenn er uns nur erlaubt hätte, gegen die (sogenannten) Rebellen, die sich in einen haltbaren Posten an den Grenzen der Cesammonen geworfen hatten, auszurücken, bevor sie Zeit gewannen, die übrigen Flüchtlinge, Mißvergnügte und Verbannte, an sich zu ziehen und unvermerkt zu einem Heer anzuwachsen. Aber Ariston wollte die Ehre, seine Truppen in eigner Person anzuführen, keinem andern abtreten, und glaubte sogar seine Sache sehr politisch anzustellen, wenn er seinen Feinden Zeit ließe, sich alle in einen Haufen zusammen zu drängen, damit er der Rebellion mit Einem Schlag ein Ende machen könnte. Und so mußte das Einzige, was allenfalls an ihm zu rühmen war, seine persönliche Tapferkeit, durch die Unklugheit, womit er sie handhabte, die Ursache seines Verderbens werden. Die republikanische Partey hatte durch sein Zögern Luft bekommen, und durch die rastlose Thätigkeit ihrer Anführer Mittel gefunden, etliche Tausend Messenier, die, von den Spartanern aus Naupaktos und Kefalonia vertrieben, sich an die Cyrenische Küste geflüchtet hatten, unter dem Versprechen, ihnen die Ländereyen der Königlichen und das Bürgerrecht von Cyrene zu schenken, an sich zu ziehen, und durch diese Verstärkung zu einem furchtbaren Heer anzuschwellen. Denn die Messenier wurden von jeher unter die tapfersten und streitbarsten Völker Griechenlands gezählt, und was konnte man nicht von solchen Kriegern in einer Lage erwarten, worin sie außer einem elenden Leben nichts zu verlieren, hingegen wenn sie siegten, ein neues Vaterland, reiche Vergütung alles Verlornen, und die völligste Sicherheit vor ihrem ewigen Todfeinde, den Spartanern, zu gewinnen hatten? Die Republikaner fühlten sich nun stark genug, etwas zu unternehmen, wozu der Mangel an Lebensmitteln sie ohnehin bald gezwungen haben würde; sie verließen ihre Verschanzungen, unterwarfen sich das platte Land umher, und gingen muthig auf Cyrene los. Jetzt erwachte Ariston plötzlich aus seiner bisherigen Unthätigkeit. Aber der Fanatism des Volkes für ihn hatte sich abgekühlt, und es kostete Mühe, bis er mit Hülfe seiner Getulischen Leibwache so viele bewaffnete Bürger und Landleute zusammen brachte, daß er dem Feinde, den er noch immer verachtete, die Spitze bieten zu können wähnte. Es kam einige Meilen von der Stadt zu einem entscheidenden Treffen; beide Theile fanden einen stärkern Widerstand als sie erwartet hatten, und fochten mit desto größerer Erbitterung; es war vielleicht der blutigste Tag, den Cyrene je gesehen hatte. Eine Menge angesehener Bürger, eine große Anzahl der vornehmsten Befehlshaber, und alle Messenier, die als Verzweifelte fechtend weder Quartier gaben noch annahmen, auf der feindlichen Seite, – und ein großer Theil Volks auf der unsrigen, blieben auf dem Platze; Ariston selbst stürzte mitten unter seinen für ihn kämpfenden und um ihn her fallenden Getulischen Löwen, tödtlich verwundet zu Boden, und wurde am folgenden Tage unter einem Haufen Erschlagener hervorgezogen. Das Gemetzel währte so lange, bis die Nacht den Überrest beider Heere zum Rückzug zwang. Brauchte es nun etwas weiters als auf beiden Seiten wieder zur Besinnung zu kommen, um aufs lebendigste zu fühlen, daß Friede und Mäßigung der einzige Weg sey, alles Unheil, das Zwietracht und ungezügelte Leidenschaften über unser blutendes Vaterland zusammen gehäuft hatten, so viel möglich wieder gut zu machen? Friede, Aussöhnung, Verzeihung, war jetzt das allgemeinste und dringendste Bedürfniß. Demokles, der beliebteste unter den übrig gebliebenen Anführern der Demokratischen Partei, und ich, von Seiten derer, die es mit Ariston gehalten hatten, wurden also bevollmächtiget, in Unterhandlung zu treten, und das Resultat war: daß beide Parteyen einander ewiges Vergessen alles Vergangenen zuschwören, die Verbannten zurück berufen, die eingezogenen Güter zurück gegeben, und von jeder Seite fünf Männer ernannt werden sollten, um den gesammten freyen Einwohnern von Cyrene eine Regierungsform vorzuschlagen, durch welche die Republik zugleich vor allen künftigen Fehden zwischen den alten Familien und dem Volke, und vor der Gefahr, wieder in die Gewalt eines Einzigen zu gerathen, sicher gestellt würde. Diese neue Regierungsform liegt noch auf dem Amboß; alles übrige ist bereits vollzogen. Da die Wahl der Zehnmänner auf lauter redliche und staatskundige Bürger gefallen ist, und unser Volk zum voraus geneigt scheint, sich jeder neuen Ordnung der Dinge zu fügen, so ist nicht zu zweifeln, daß Cyrene in kurzer Zeit von den Wunden wieder geheilt seyn wird, die ihr der thörichte Ehrgeitz einiger ausschweifenden und übelberathenen Schwindelköpfe geschlagen hat. Es giebt Fälle, wo eine starke Verblutung einem Staate, so wie gewissen menschlichen Körpern, heilsam ist, und bey vorsichtiger Behandlung den Grund zu einer bessern Gesundheit legen kann.

Möchte ich nicht genöthigt seyn, mein Bruder, dir diese tröstliche Nachricht durch eine andere zu verbittern, die uns beide unmittelbar betrifft. Unser guter alter Vater verspricht sich selbst die Freude nicht, die bessern Zeiten, die uns bevorstehen, zu erleben. Er verlangt sehr, dich noch zu sehen, und vielleicht würde die Erfüllung dieses Wunsches zu Verlängerung seiner Tage beytragen. Ich bitte dich also, deine Hierherkunft, so sehr du immer kannst, zu beschleunigen. Mögen die Gelübde, die wir alle um Begünstigung deiner Reise thun, dem Ohr einer freundlichen Gottheit begegnen!


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