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In wie fern ihn diese Betrachtungen rechtfertigen oder entschuldigen können, lass' ich dahin gestellt seyn; mir ist wenigstens gewiß, daß er in allem, was uns an seinem idealischen Sparta am anstößigsten ist, treulich und ohne Gefährde zu Werke ging, und z. B. auf unsre Bedenklichkeit, der abgezweckten höhern Vollkommenheit seiner Republik alle Jahre etliche hundert neugeborne Menschlein zum Opfer darzubringen, mit eben dem naserümpfenden Mitleiden herabsehen wird, womit sein Sokrates sich über »die lächerliche Weisheit« derjenigen aufhält, die das Ringen nackter Mädchen mit nackten Jünglingen auf der Palästra ungeziemend finden. Ich zweifle daher auch keinen Augenblick, daß er wenig verlegen seyn würde, für jeden andern Einwurf, der ihm gegen seine Erziehungs- und Begattungsgesetze gemacht werden könnte, auf der Stelle eine Antwort zu finden; wiewohl er es nicht der Mühe werth gehalten zu haben scheint, die mancherley Schwierigkeiten voraus zu sehen, welche sich der Ausführung dieser – der Natur, dem sittlichen Gefühl und den Grazien zugleich Hohn sprechenden – Gesetze entgegen thürmen. Bey einem Filosofen, der seine Geistesaugen immer nur auf die ewigen und unveränderlichen Urbilder der Gattungen und Arten geheftet hält, kommen die Einzelnen Dinge, als bloße vorübergleitende Schemen oder unwesentliche Wolken- und Wasserbilder, in keine Betrachtung; und da er alle die Knoten, in welche die Meinungen, Neigungen, Bedürfnisse und Leidenschaften der Menschen im gesellschaftlichen Leben sich unaufhörlich verwickeln und durch einander schlingen, immer mit einem einzigen Grundsatz wie mit einem zweischneidigen Schwert zerhauen kann, warum sollte er sich die Mühe geben sie auflösen zu wollen?
Etwas, worüber er indessen nicht so leicht zu entschuldigen seyn dürfte, sind die kleinen Widersprüche mit sich selbst, die seinem redseligen Sokrates hier und da in dem Feuer, womit er seine Behauptungen vorträgt, zu entwischen scheinen. Hierher gehört (um nur ein paar Beyspiele anzuführen) wenn er, um die gymnastische Nacktheit seiner künftigen Soldatenfrauen zu rechtfertigen, sich auf Einmahl in die Moral der Sofisten verirrt, und kein Bedenken trägt, den Satz »alles Nützliche ist auch ehrbar und anständig, und nur das Schädliche ist schändlich,« für eine ausgemachte Wahrheit zu geben. Unglücklicher Weise begegnet ihm diese Verirrung eine Weile hernach noch ein Mahl, da von den Belohnungen die Rede ist, wodurch die Beschützer des Staats aufgemuntert werden sollen, im Kriege sich durch tapfere Thaten auszuzeichnen. Wer, der den ehrwürdigen Sohn des Sofroniskus gekannt hat, muß sich nicht in Platons Seele schämen, wenn er seinen untergeschobenen Sokrates zum Gesetz machen läßt: »daß es, so lange ein Feldzug daure, Niemanden erlaubt seyn solle, sich den Küssen eines ausgezeichneten Braven zu entziehen, damit dieser, der Gegenstand seiner Leidenschaft möge nun ein Mann oder ein Weib seyn, desto mehr angereitzt werde, nach dem ersten Preis der Tapferkeit zu ringen?« – Dieß ist doch wohl eine von den Stellen, deren ich oben erwähnte, wo der verkappte Sokrates seines angenommenen Karakters plötzlich vergißt, und in den sich selbst spielenden Plato zurück sinkt?
Noch ein Beyspiel von Widerspruch mit sich selbst ist mir im sechsten Buch aufgefallen, wo er über die parasitische Gefälligkeit der Sofisten gegen die Vorurtheile, Neigungen und Unarten des großen Haufens, (d. i. dessen, was man in demokratischen Staaten den Pöbel, oder mit einem urbanern Wort das Volk nennt) und die schädlichen Eindrücke, die dadurch auf die Jugend gemacht würden, viel Wahres sagt, und bey dieser Gelegenheit von dem besagten großen Haufen unter dem Bild eines großen und starken Ochsen oder Bullenbeissers eine wahrlich nicht geschmeichelte Schilderung macht, sondern ihm ohne alle Schonung so viel Böses nachsagt, daß Timon der Menschenhasser selbst damit hätte zufrieden seyn können; bald darauf aber, da seine Konvenienz erfordert die Sache von einer andern Seite in einem mildern Lichte zu sehen, die Partey des nehmlichen großen Haufens nimmt, von ihm als einem gar sanften gutartigen Thiere spricht, und alle Schuld seines Hasses gegen die ächten Filosofen auf die unächten schiebt.
Übrigens ist es eine glückliche Eigenheit unsers Filosofen, daß er nach jeder beträchtlichen Verfinsterung, die er, so oft seine Fantasie zwischen seinen Verstand und seine Leser tritt, zu erleiden scheint, sich sogleich durch irgend eine desto glänzendere Ausstrahlung wieder in die ihm gebührende Achtung zu setzen weiß. Ein Beyspiel hiervon ist in diesem fünften Buch die Vorschrift, wie seine Staatsbeschützer sich im Kriege gegen den Feind zu verhalten haben; eine Gelegenheit, die er mit eben so vieler Feinheit als Freymüthigkeit benutzt, um den Griechen seiner Zeit einen Spiegel vorzuhalten, worin sie vor ihren eigenen Augen als eine rohe Art von Barbaren erscheinen müssen, deren gewohntes Verfahren in ihren ewigen Fehden unter einander mit den Regeln einer gesunden Staatsklugheit nicht weniger als mit den Gesetzen der Gerechtigkeit und Menschlichkeit in dem auffallendsten Widerspruch steht. Diese Stelle ist, meines Erachtens, eine der schönsten in diesem ganzen Werke, und du wirst mir hoffentlich zugeben, Eurybates, daß die Schuld nicht an Plato liegt, wenn er durch die heilsamen Wahrheiten, die er Euch darin stärker und einleuchtender als irgend einer von euern Rednern ans Herz legt, seiner Vaterstadt und der ganzen Hellas nicht den wesentlichsten Dienst geleistet hat. Daß dieß wenigstens seine Absicht war, ist um so weniger zu bezweifeln, da dergleichen Seitenblicke auf seine Zeitgenossen und Mitbürger in diesem Dialog häufig genug vorkommen, um uns über einen der wichtigsten Zwecke des Ganzen einen bedeutenden Wink zu geben.
Was ich gleich Anfangs meiner Briefe über die Republik Platons gegen den Vorwurf, daß es diesem Werk an kunstmäßiger Anordnung fehle, erinnert habe, scheint sich unter andern auch durch die feinen Wendungen zu bestätigen, womit der Verfasser gegen das Ende des fünften Buchs dem Dialog unvermerkt eine solche Richtung giebt, daß er eine (dem Anschein nach) ungesuchte Gelegenheit erhält, in den beiden folgenden Büchern die Grundlehre seiner ganzen Filosofie auf eine faßlichere und poetischere Art, als in andern seiner frühern Dialogen, vorzutragen; eine Gelegenheit, die er, wiewohl sie ihn von dem Hauptgegenstand entfernt, und zu einer weitläufigen episodischen Abschweifung verleitet, um so weniger aus den Händen läßt, weil die Abschweifung in der That bloß anscheinend und vielmehr das einzige Mittel ist, seiner Republik eine Art von hypothetischer Realität zu geben, woran wenigstens alle die Leser sich genügen lassen können, die der magischen Täuschung eben so willig und zutraulich als die beiden Söhne Aristons entgegen kommen. Daß er uns übrigens auch auf diesem Spaziergang, den wir mit ihm machen müssen, durch eine Menge unnöthiger Krümmungen in einem unaufhörlichen Zikzak herumführt, der uns das Ziel, worauf wir zugehen, immer aus den Augen rückt, ist nun Einmahl die Art des Platonischen Sokrates, die man sich, in so fern sie zuweilen das Interesse des Dialogs unterhält und erhöht, recht gern gefallen ließe, wenn er nur einiges Maß darin halten wollte; denn wirklich ist es oft schwer sich einer Anwandlung von Ungeduld zu erwehren, wenn er bald einen Satz, wie z.B. »Seyn ist von Nichtseyn verschieden« in eine oder zwey Fragen verwandelt, bald die schlichtesten Fragstücke auf eine so spitzfündige und verfängliche Art vorbringt, daß man sich keine andere Absicht dabey denken kann, als das schale Vergnügen, den Gefragten in Verlegenheit zu setzen und zu einer einfältigen Antwort zu nöthigen. Bey allem dem muß ich gestehen, daß etwas Attisches in dieser Art sich in Gesellschaften mit einander zu unterhalten ist, und ich zweifle nicht, Eurybates, daß dir die Pseudo-Sokratische Manier, wie Plato diese neckische Art von Ironie in seinen Dialogen behandelt, wenn gleich nicht immer angenehm, doch gewiß bey weiten nicht so auffallend vorkommen wird als mir. Dieß sey also das letzte Mahl daß ich darüber wehklage, wiewohl in den fünf Büchern, die ich noch vor mir habe, die Anreitzung dazu oft genug vorkommen wird. Und nun wieder in unsern Weg!
Glaukon scheint von der Schönheit der neu errichteten Republik so bezaubert, daß er sich nicht enthalten kann, den Filosofen, der die Miene hat als ob er von der innern Verfassung derselben und von ihren unendlichen Vorzügen vor den gewöhnlichen noch viel zu sagen gedächte, etwas rasch zu unterbrechen. Von allem diesem, meint er, wüßten sie bereits genug, um sich das, was etwa noch zurück geblieben sey, selbst sagen zu können; die große Frage, auf welche Alles ankomme, sey itzt bloß: ob diese herrliche Republik unter die möglichen Dinge gehöre? Sokrates stellt sich, nach seiner Gewohnheit, als ob ihm diese Frage sehr ungelegen komme; er spricht von dem Unternehmen sie zu beantworten als von einem halsbrechenden Wagestück, und sucht das Ansinnen seines jungen Freundes dadurch von sich abzulehnen, daß er ihn bereden will, seine Republik könnte als Ideal und Kanon, woran man die Grade der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit aller gegenwärtigen und künftigen Republiken messen könne, immer noch gute Dienste thun, wenn gleich ihre Möglichkeit nicht erwiesen werden könnte. Meinst du etwa (fragt er den Glaukon) ein Mahler, der das Modell eines vollkommen schönen Mannes oder Weibes in der höchsten Vollendung seiner Kunst aufgestellt hätte, würde darum ein schlechterer Mahler seyn, wenn er nicht zu zeigen vermöchte, wie es möglich sey, daß ein Mensch so schön seyn könnte? Diese Ausflucht ist, mit Platons Erlaubniß, ein bloßer Taschenspielerkniff; denn es ist ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen dem Mahler, von dem er hier spricht, und zwischen ihm selbst als Mahler der vorgeblichen vollkommensten Republik. Freylich braucht z. B. Zeuxis die Möglichkeit seiner Helena nicht zu beweisen; aber warum dieß? Weil er sie uns unmittelbar vor die Augen gestellt hat, und (voraus gesetzt ihre Schönheit sey in der That untadelig) Jedermann, der sie anschaut, sich selbst gestehen muß, er verlange nichts Schöneres zu sehen. Damit ist denn auch Jedermann zufrieden, und kümmert sich wenig darum, ob jemahls ein sterbliches Weib eine so schöne Tochter geboren hat oder künftig gebären wird; genug, daß uns der Mahler von der Möglichkeit einer so hohen Schönheit durch den Augenschein überzeugt hat. Es fehlt aber viel, daß es mit Platons Republik derselbe Fall sey; der Augenschein ist nicht zu ihrem Vortheil; die Stimmen der Anschauer sind wenigstens sehr getheilt, und gegen einen, der sie so herrlich findet als sie unserm in sein eignes Werk verliebten Pygmalion vorkommt, sehen wir zwanzig, denen sie ein sehr unvollständiges, übel mit sich selbst übereinstimmendes, überladenes und unnatürliches Fantom von einer Republik scheint, von welcher der Stenge nach zu beweisen ist, daß ihres gleichen unter den Menschen, so lange sie ihre dermahlige Natur behalten werden, weder entstehen, noch, wofern sie auch (wie andere Mißgeburten) durch eine zufällige Verirrung der Natur jemahls ans Tageslicht kommen sollte, lange genug leben könnte, daß es der Mühe werth wäre zu sagen sie sey da gewesen. Der Platonische Sokrates kann sich also der Pflicht, die Möglichkeit seines politischen Kanons darzuthun, mit Recht nicht entziehen; und er selbst scheint dieß so gut zu fühlen, daß er dem ehrlichen, durch seine Indukzion zu schnell irre gemachten Glaukon von freyen Stücken einen Vorschlag zur Güte thut, indem er ihn fragt: ob er zufrieden seyn wollte, wenn ihm gezeigt würde, wie eine seinem Ideale wenigstens sehr nahe kommende Republik zur Wirklichkeit gelangen könnte? Glaukon ist so billig sich diesen Vorschlag gefallen zu lassen, und Sokrates rückt, nach mehrmahligem Achselzucken, dem vorgeblichen halsbrechenden Wagestück so nahe, daß er bekennt: um allen unsern Republiken eine andere ungleich bessere Gestalt zu geben, bedürfte es nur einer einzigen Veränderung, aber freylich wäre dieses Einzige weder etwas Kleines noch Leichtes, wiewohl nichts Unmögliches. – »Und was ist es denn?« fragt Glaukon. – Weil es doch Einmahl heraus muß, erwiedert Jener, will ich es ja wohl sagen, wiewohl ich Gefahr laufe, von dem ausgelassensten Gelächter, wie von einer ungeheuren Welle, überschwemmt und in den Grund gelacht zu werden; – es ist: »So lange nicht entweder die Filosofen die einzigen Regenten der Staaten sind, oder diejenigen, die man gegenwärtig Könige und Gewalthaber nennt, wahrhaft und in ganzem Ernst filosofieren, so daß die höchste Gewalt im Staat und die Filosofie in einem und eben demselben Subjekt zusammen treffen, und alle, die sich nur auf eine von beiden beschränken, schlechterdings von der Staatsverwaltung ausgeschlossen werden: so lange, lieber Glaukon, ist gegen die Übel, welchen die bürgerliche Gesellschaft, ja das ganze Menschengeschlecht unterliegt, kein Rettungsmittel, – und bis es dazu kommt, wird auch die Republik, von welcher bisher die Rede zwischen uns war, weder möglich werden, noch das Licht der Sonne sehen!« In der That hatte der verkappte Plato hohe Ursache, ungern mit einer Behauptung heraus zu rücken, von welcher so leicht voraus zu sehen war, daß sie eben so stark gegen alle herrschende Begriffe und Vorurtheile als gegen das Interesse der jetzigen Machthaber anrannte, und wenn sie gleich bey den Meisten nur ein lautes Gelächter über ihre Ungereimtheit erregen würde, von den dermahligen Regierern selbst, als eine gefährliche und nur durch die politische Nullität unsers Filosofen verzeihlich gemachte Lehre, mit Unwillen angesehen werden müßte. Aber auf was für einen Empfang mußte er sich erst gefaßt halten, nachdem man aus dem folgenden sechsten und siebenten Buch verständigt worden war, was er unter dieser Filosofie und diesen Filosofen, welche die Welt ausschließlich regieren sollten, verstehe! Daß er nehmlich keine andre Filosofie für ächt gelten lasse, als seine eigene, und also sein großes politisches Geheimmittel gegen alle die Menschheit drückende Übel darauf hinaus laufe: daß alle Regenten zu Platonen werden, oder vielmehr (da dieß, wenn sie auch wollten, nicht in ihrer Macht steht) daß der einzige mögliche und wirkliche Plato, Aristons und Periktyonens Sohn, zum Universalmonarchen des Erdkreises erhoben werden müßte, wofern das Reich der Themis und die goldne Zeit des alten Kronos wiederkehren sollte? Wenn nun aber auch zu dieser einzigen kleinen Veränderung, wie heilbringend sie immer für das gesammte Menschengeschlecht wäre, nicht die mindeste Hoffnung vorhanden ist, wofür will er daß wir seine Republik ansehen sollen?