Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Laß uns die Welt nehmen wie sie ist, erwiederte der Eleer, denn sie ist doch wohl – wie sie seyn kann. Weisheit und Tugend belohnen sich selbst so reichlich, daß sie des Beyfalls der Menge und der Kronen, die zu Olympia ausgetheilt werden, leicht entbehren. Wer weiß, ob sie durch eine so öffentliche und geräuschvolle Auszeichnung nicht an innerm Werthe verlieren würden? Wenigstens zweifle ich sehr, daß die stillen unscheinbaren Tugenden, welche gewöhnlich die reinsten sind, sich gern aus ihrer Verborgenheit herausziehen und einer so großen vermischten Menge zur Schau ausstellen lassen würden. Übrigens scheint mir die lebhafte Theilnehmung, womit unsre Panegyrischen Spiele angesehen werden, so wenig gegen das sittliche Gefühl unsrer Nazion zu beweisen, daß ich mir eher das Gegentheil zu behaupten getraue. Die Kampfspiele zu Olympia, Delfi, Nemea und Korinth haben eben darum ein so lebhaftes und eigenes Interesse für unsre Nazion, weil sie uns, gleichsam durch den Augenschein, so wie durch die Siegesgesänge Pindars und seiner Nacheiferer, in die fabelhaften Zeiten jener Heroen versetzen, deren Andenken uns aus so vielen Ursachen heilig ist, die unsre meisten Städte gegründet haben, und von welchen unsre edelsten Geschlechter ihren Ursprung herleiten. Aber auch ohne diese Beziehung haben wir noch Ursache genug, sie als eines unsrer schönsten und wohlthätigsten Nazionalinstitute anzusehen. Kein anderes vereiniget eine so große Menge Griechen aus allen Städten und Landschaften der ganzen Hellas an Einem Orte zu gemeinschaftlichen Feierlichkeiten, Opfern, Gastmählern und Ergetzungen. Während ihrer Feier hören alle Feindseligkeiten auf, in welche die uralte Antipathie der Dorier und Ionier nur zu oft ausbricht. Wir vergessen in diesen halcyonischen Tagen aller Beleidigungen, aller Eifersucht und Rache, um uns bloß unsers gemeinsamen Ursprungs zu erinnern, und die Bande von neuem zusammen zu ziehen, womit gemeinschaftliche Götter und Tempel, eine gemeinschaftliche Sprache und das große Interesse unsre Unabhängigkeit gegen auswärtige Mächte zu behaupten, die in so viele Stämme und Zweige verbreitete Nachkommenschaft DeukalionsDie – Nachkommenschaft Deukalions. Die Hellenen oder eigentlich sogenannten Griechen erkannten den Deukalion (einen Thessalischen Fürsten, der ungefähr 1500 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung gelebt haben soll) oder, genauer zu reden, seinen Sohn Hellen (von welchem sie ihren allgemeinen Nahmen führten) für ihren gemeinsamen Stammvater. Hellens Söhne, Dorus und Äolus, und Ion, sein Enkel, gaben ihren Nahmen den drey Hauptästen, in welche die ältesten Hellenen sich theilten, und deren jeder in der Folge sich wieder in mancherley Zweige verbreitete. Dorus bemächtigte sich (alten Sagen nach) der am Fuße des Parnassus liegenden kleinen Landschaft Doris; Äolus und seine Nachkommen ließen sich in Elis, Arkadien und andern Gegenden der Halbinsel, die in der Folge den Nahmen Peleponnesus bekam, nieder; und nach Ion führten die Bewohner von Attika den Nahmen Ionier, der sich, nach Verlauf mehrerer Jahrhunderte in dem berühmtern der Athenäer (oder Athener) verlor. Diese drey hellenischen Stämme gaben, als sie sich in der Folge auch an der westlichen Küste von Asien anbaueten, den Provinzen Äolis, Ionia und Doris, so wie den drey Hauptdialekten der Griechischen Sprache, ihren Nahmen. Das Gewisseste von allem diesem ist, daß in den Zeiten, wo die Geschichte der Griechen aufhört, ein verworrenes und undurchdringliches Gestrüppe von Mährchen und widersprechenden Volks- und Stammsagen zu seyn, die ganze Hellas theils aus Dorischen, theils aus Ionischen Völkern und Städten bestand; daß unter jenen Lacedämon, unter diesen Athen als die ersten an Macht und Ansehen, gewöhnlich diejenigen waren, an welche sich die übrigen, freywillig oder gezwungen, anschlossen; und daß zwischen diesen beiden Hauptstämmen von jeher in Naturanlagen, Kultur, Mundart, Sitten und politischer Verfassung eine so auffallende Ungleichheit und eine so entschiedene Antipathie geherrscht hatte, daß sie höchst wahrscheinlicher Weise, ohne die wohlthätige Gegenwirkung der ihnen eigenen Nazional-Institute, einander selbst lange vorher aufgerieben haben würden, ehe sie die hohe Stufe von Kultur erreicht hätten, wodurch sie, sogar nachdem sie selbst eine Nazion zu seyn aufgehört haben, die Gesetzgeber, Lehrer und Bildner aller übrigen geworden sind. zu einem einzigen Volke verbunden haben, das durch seine Kultur das erste in der Welt ist, und durch Eintracht unüberwindlich und unvergänglich dem ganzen Erdboden Gesetze geben würde.«

Ich verschone dich, lieber Demokles, mit einer Menge anderer schöner Sprüche, welche der begeisterte Eleer mit einem großen Erguß von Redseligkeit hervorströmte, um dem kopfschüttelnden Filosofen eine höhere Meinung von den Olympischen Spielen abzunöthigen. Es versteht sich, daß jeder auf seiner eigenen beharrte; so wie ohne Zweifel diese Spiele selbst, allen Veränderungen der Zeiten und allen Einsprüchen der Filosofie zum Trotz, ihre ursprüngliche Form und Einrichtung, so lange Jupiter im Besitze seines Tempels zu Olympia bleibt, behalten werden, wie leicht es auch wäre, ihnen eine gemeinnützlichere und einem gebildeten Volk anständigere zu geben. Wir kamen indessen, da der Eleer ein sehr höflicher Mann war, noch ganz friedlich aus einander; denn die Höflichkeit hat dieß eigene, daß sie es dem Andern unvermerkt unmöglich macht, so grob zu seyn als er wohl Lust hätte. Doch muß ich es auch meinem bocksbärtigen Freunde nachrühmen, daß er sich beym Abschied mit mehr Urbanität betrug, als ich von seiner Freymüthigkeit erwartet hatte. Dieser Umstand und seine Mundart bestärkten mich in der Vermuthung, daß er ein Athener sey; und so fand sichs auch bey näherer Erkundigung. Man sagte mir, er nenne sich Antisthenes, und sey einer der vertrautesten Freunde des berühmten Sokrates Sofroniskus Sohn, den der Delfische Gott, oder (wenn du lieber willst) der eifrigste seiner Anhänger, Chärefon, durch den gelehrigen Mund der Pythia, für den weisesten aller Menschen erklärt haben soll. Da mein Verlangen, diesen merkwürdigen Mann persönlich zu kennen und durch seinen Umgang, wo möglich, selbst ein wenig weise zu werden, einer der ersten Zwecke meiner freywilligen Verbannung aus dem schönen und wollüstigen Cyrene war, so kannst du leicht urtheilen, daß ich mich auf diese Nachricht um so eifriger um die Gunst einer Person bewarb, die mir zu Beförderung meiner Absicht gute Dienste thun konnte. Ohne mir diese Bewerbung durch ein zuvorkommendes Wesen zu erleichtern, schien er doch eben so wenig gesonnen, sie gänzlich abzuweisen. Von Sokrates sprach er mit seiner gewöhnlichen Kälte, als von einem Manne, mit dem er seit vielen Jahren täglich umgegangen, und den er als seinen ersten, wo nicht einzigen Freund betrachte. »Wenn ich einen bessern als er gekannt hätte, sagte er, würde ich mich zu diesem gehalten haben; aber ich kenne keinen bessern, und, in so fern diese Benennung einem Menschen zukommen kann, keinen weisern Mann als Sokrates. Er hat Eigenheiten, die man ihm lassen muß, und die, weil sie ihm wohl anstehen, darum nicht einen jeden kleiden würden: aber wenige Menschen sind so gut, daß sie nicht noch besser werden könnten, wofern sie ihn immer und in allen Verhältnissen und Vorfällen des Lebens zum Muster nähmen.«

Da ich von Antisthenes vernahm, daß er geraden Weges nach Athen zurück zu kehren gedenke, bat ich ihn um Erlaubniß ihn begleiten zu dürfen, und äußerte den Wunsch, daß er mich bey Sokrates einführen möchte. »Ein guter Reisegefährte ist der halbe Weg, sagte er: ich nehme dein Anerbieten willig an; aber bey Sokrates bedarfst du keines Einführers. Er liebt junge Leute deiner Art, und du wirst den alten Glatzkopf gewöhnlich von einigen unsrer schönsten Jünglinge umgeben finden. Seine Absicht ist ihm mit Xenofon, Kritobulus, Plato und einigen andern so gut gelungen, daß ein Alcibiades und Kritias, die ihm verunglückten, ihn nicht abschrecken konnten, es immer wieder mit andern zu versuchen. Ein Jüngling guter Art bedarf bey ihm weder einer Empfehlung noch einer besondern Aufmerksamkeit sich ihm angenehm zu machen; es wird also bloß auf dich selbst ankommen, wie viel oder wenig du dir seinen Umgang zu Nutze machen willst. Die Sonne strahlt gleich warm auf ein Stück Gold und auf ein Stück Bley; nur faßt das eine mehr Wärme, und behält sie länger als das andere.«

Wir werden unsre Reise über Orchomenos, Korinth, Megara und Eleusis machen; weil Antisthenes zu seinem ehrwürdigen alten Freund zurück eilt, welchen er in der trübseligen und verzweifelten Lage, worin seine Vaterstadt sich seit einiger Zeit befindet, nicht länger verlassen will. Denn es sind schon mehr als acht Monate verstrichen, seit er von Athen abgegangen ist, um die Angelegenheiten eines zu Megalopolis verstorbenen Anverwandten zum Besten seiner Hinterlaßnen in Ordnung zu bringen.

Die Nachrichten von den abwechselnden Erfolgen der seit einigen Jahren zwischen den beiden Hauptstädten Griechenlands wieder ausgebrochnen Befehdungen kommen gewöhnlich so spät zu euch, daß du vielleicht erst aus diesem Briefe (dessen Abgang noch sehr ungewiß ist) erfährst, daß der Spartanische Feldherr Lysander, nach einem bey Aigos Potamos am Eingang des Hellesponts erhaltnen entscheidenden Sieg, die stolze Minervenstadt selbst eingeschlossen, und durch Hunger und Verzweiflung endlich gezwungen hat, sich auf Bedingungen, denen ihre Väter den Tod in jeder Gestalt vorgezogen haben würden, von dem schrecklichen Schicksal, welches sie vor eilf Jahren über die unglücklichen Melier verhängt hatten, loszukaufen. Die übermüthige Beherrscherin der Meere ist nun auf zwölf Schiffe, die ihr noch erlaubt sind, herabgebracht; die Stadt und die Vorstadt Pyräum mit ihrem Hafen sind des herrlichsten Denkmahls der Siege des großen Themistokles, ihrer prächtigen Mauern beraubt, die Spartaner haben eine Besatzung in der Akropolis; und eine von Lysandern beschützte, neuerrichtete Regierung von dreyßig unter seinen Winken willkührlich herrschenden Gewalthabern macht das Elend der beklagenswürdigen, ihre eigene Thorheit zu theuer büßenden Athener vollständig. Dieß sind die neuesten Nachrichten, die uns aus jenen Gegenden zugekommen sind. Was sagst du, Demokles, zu einer so unerwarteten Katastrofe? – Du wirst mich vielleicht unklug und verwegen nennen, daß ich mich gerade in einem so verwirrten und gefährlichen Zeitpunkt nach Athen wage. Aber ich kann dem Verlangen nicht länger Einhalt thun, diesen Sokrates, von dem ich schon in Cyrene so viel Wunderbares hörte, und jetzt von Leuten, die ihn sehr gut zu kennen glauben, oder vorgeben, die seltsamsten und widersprechendsten Dinge höre, durch mich selbst kennen zu lernen. Auf alle Fälle sind meine Einrichungen so getroffen, daß ich mich vielmehr in den Kredit eines vorsichtigen und besonnenen Mannes bey dir zu setzen hoffe. Ich habe meine Cyrenische Kleidung bereits mit einem äußerst einfachen Kostum im Geschmack meines neuen Freundes Antisthenes vertauscht; meine Baarschaft bleibt in Korinth niedergelegt, und ich werde nur gerade so viel Geld nach Athen tragen, als ein Mensch, der täglich drey bis vier Obolen zu verzehren hat, in sechs Monaten nöthig haben mag. Du solltest mich wirklich in meinem neuen Sokratischen Schülermantel sehen! Er ist zwar etwas grob von Wolle, und reicht nicht sehr weit unter die Knie! aber Antisthenes versichert mich, daß er mir trefflich stehe. In diesem Aufzuge werde ich wahrscheinlich zu Athen nicht so viel Eindruck machen, daß die Dreyßig sich viel um mich bekümmern werden.


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