Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XXXIII.
Hippias an Aristipp.

Xenofons Anabasis, welche, weil der Rückzug die Hauptsache ausmacht, eben so gut Katabasis heißen kann, war mir bereits bekannt, als ich deinen Brief aus Rhodus erhielt. Auch ich habe sie mit Vergnügen gelesen, und wiewohl mir däucht, daß von dem hohen Werthe, den du diesem Werke beyzulegen scheinst, noch etwas abgehen könnte, so gestehe ich doch, daß es nicht leicht wäre, eine an sich selbst so wunderbare Geschichte wie der Zug und Rückzug der zehen tausend Griechen mit weniger Prunk und in einem treuherzigern Ton zu erzählen; was das unfehlbarste Mittel ist, einen nicht allzumißtrauischen Leser in die angenehme Täuschung zu setzen, daß er, ohne allen Argwohn durch diesen Ton selbst getäuscht zu werden, immer die reinste Wahrheit zu lesen glaubt. Ich sage dieß nicht um die Aufrichtigkeit Xenofons verdächtig zu machen; indessen bin ich gewiß, von allen den Hauptleuten, die eine Rolle in dieser Geschichte spielen, würde ein jeder sie mit andern Umständen erzählt, und vieles mit andern Augen und in einem andern Lichte gesehen haben. Wenn nun jeder von ihnen eine Katabasis geschrieben hätte, müßte nicht ein unbefangener Leser öfters zweifelhaft seyn, wem er glauben sollte? Dieser Einwurf gilt gegen die Zuverlässigkeit einer jeden Geschichtserzählung einer Reihe von Begebenheiten, in welche nebst dem Erzähler selbst, viele an Denkart, sittlichem Karakter, Absichten und Interesse verschiedene Menschen verwickelt waren; und er ist um so weniger zu heben, da er sich auf die menschliche Natur selbst gründet, und daher schwerlich eine Ausnahme zu Gunsten irgend eines Einzelnen zuläßt. Alles was wir von einem solchen Erzähler zu fordern berechtigt sind, ist, daß er den Willen habe, uns nichts für wahr zu geben als was er selbst für wahr hält. Werden wir dann demungeachtet getäuscht, so liegt die Schuld an uns selbst, nicht an ihm. Ich zweifle so wenig daran, daß Xenofon uns nichts als reine historische Wahrheit geben wollte, daß ich vielmehr sagen möchte, er habe diesem löblichen Vorsatz keinen geringen Theil des Vergnügens aufgeopfert, das er uns hätte machen können, wenn er, wie Herodot, unsre Einbildungskraft etwas mehr Antheil an seiner Erzählung hätte nehmen lassen wollen. Denn nichts kann einem Schriftsteller leichter begegnen, als vor lauter Begierde wahr zu seyn, langweilig zu werden. Doch dafür ist in diesem Werke gesorgt. Man kann sich darauf verlassen, daß ein Autor, der seine eigene Geschichte und Thaten erzählt, wofern er nicht ohne alles Genie ist, nie sehr langweilig werden wird. Solltest du den kleinen Streich nicht bemerkt haben, Aristipp, den ihm die wunderbare Zauberin, die man aus Mangel eines passendem Nahmens Eigenliebe nennt, vermuthlich ohne sein Wissen und Wollen gespielt hat, »ihm, so oft er uns erzählt, was Xenofon der Athener gedacht, gesprochen, gethan und gewollt hat, ganz leise leise das Sokratische Ideal eines vollkommnen Feldherren unter zu schieben?« – Eine Täuschung, deren er sich um so weniger versah, da er vermuthlich dadurch, daß er von sich selbst immer in der dritten Person spricht, eine treffliche Maßregel gegen die Nachstellungen des hinterlistigen Ichs genommen zu haben glaubte. Daß er während dieses ganzen Kriegszuges jenes Ideal immer vor Augen hatte, daß er es zu erreichen strebte, war eines ehmahligen Zöglings und vieljährigen Freundes des weisesten aller Menschen würdig: aber daß er es so vollständig in seiner eigenen Person darstellt, dabey könnte sich doch wohl, ihm selbst unbemerkt, etwas Poesie eingemischt haben. Oder wollen wir es ihm etwa gut schreiben, daß er sich so ganz unverhohlen zu der Sokratischen Schwachheit, – in vollem Ernst an Zeus Meilichios, und Herkules Hegemon zu glauben, bekennt, und uns mit der Treuherzigkeit eines Böotischen Bäuerleins seine Träume und noch manche andere Dinge erzählt, die er seiner Urgroßmutter nach zu sagen hätte erröthen sollen? Ich mußte laut auflachen, wie ich im vierten Buche las, was geschehen sey, da sie eines Tages auf ihrem beschwerlichen Marsche über die Karduchischen Berge, bey einem äußerst heftigen und schneidenden Nordwind, der ihnen mit vollen Backen ins Gesicht blies, sich durch Ellen tiefen Schnee so mühselig durcharbeiten mußten, daß viele Menschen und Thiere dabey verloren gingen. »Da hieß uns einer von den Wahrsagern dem Wind' ein Opfer schlachten,« sagt Xenofon mit einer Einfalt, die man für Sokratische Ironie halten müßte, wenn er nicht unmittelbar darauf mit dem gläubigsten Ernst hinzusetzte: »es wurde also geopfert, und es däuchte allen, daß die Strenge des Windes nachgelassen habe.« – Doch dieses Geschichtchen ließe allenfalls noch eine leidliche Erklärung zu. Der Gott Boreas, der zu Athen und an mehrern Orten Griechenlands einen Altar hat, wird vorzüglich von den Arkadiern zu Megalopolis verehrt; und beynahe der dritte Theil des Heers bestand aus Arkadiern. Der Einfall des Wahrsagers, den Zorn dieses Gottes durch ein Opfer zu besänftigen, war also nichts weniger als unverständig, da er dazu diente, den Muth des gemeinen Mannes wieder zu beleben, und die Wuth des Windes, falls sie indessen nicht etwa von selbst nachließ, wenigstens durch die Kraft des Glaubens zu dämpfen. Das letztere scheint auch der Fall gewesen zu seyn; denn Xenofon sagt nicht, der Wind habe wirklich nachgelassen, sondern nur, sie hätten Alle geglaubt er lasse zusehens nach. Schwerer dürfte es seyn, den Menschenverstand unsers Sokratischen Kriegshelden mit seinem überschwänglichen Glauben an die Hieroskopie zu vereinigen. In der That treibt er diese Schwachheit so weit, daß man oft lieber an seiner Aufrichtigkeit zweifeln, und seine seltsame Beharrlichkeit, sich alle Augenblicke in den Eingeweiden der Opferthiere, mit dem blindesten Vertrauen auf ihre Entscheidung, Rathes zu erhohlen, für einen Kunstgriff halten möchte, eine aus so vielerley verschiedenen Griechischen Staaten gezogene, über den schlechten Erfolg ihrer großen Erwartungen mißmuthige, widerspenstige, mißtrauische, und immer zum Aufstand bereite Mannschaft (wie die Zehentausend sich in dieser ganzen Geschichte beweisen) desto leichter beysammen und in einiger Subordinazion zu erhalten. Aber man sieht sich alle Augenblicke genöthigt, diese Vermuthung wieder aufzugeben, so häufig sind die Beyspiele, wo, ohne die Voraussetzung daß er an diese Art von Divinazion in vollem Ernst geglaubt habe, entweder sein Betragen schlechterdings unbegreiflich wäre, oder wo sich nicht der mindeste Beweggrund ersinnen läßt, warum er vernünftigen Lesern seines Buchs die Gesundheit seines Verstandes durch eine ohne allen Zweck vorgegebene Deisidämonie hätte verdächtig machen wollen. Das sonderbarste bey der Sache ist, daß er in diesem Aberglauben viel weiter geht als sein Meister selbst, dessen Ansehen sonst so viel bey ihm gilt. Sokrates wollte, daß man nur in Fällen, wo das Orakel der Vernunft verstummt, seine Zuflucht zu den Opferlebern oder zu den Hexametern der Pythia nehmen sollte; Xenofon hingegen sagt zu seinen versammelten Soldaten: »Ich berathe mich, wie ihr seht, aus den Opfereingeweiden so oft und viel ich nur immer kann, so wohl für euch als für mich selbst, damit ich nichts reden, denken noch thun möge, als was euch und mir das rühmlichste und beste ist.« Konnte und mußte ihm nicht, wenigstens in den meisten Fällen, seine Vernunft die sicherste Auskunft hierüber geben? Du wirst mir vielleicht sagen: dieser seltsamen Schwachheit ungeachtet hat sich Xenofon bey diesem Rückzug als einen der verständigsten, geschicktesten und tapfersten Kriegsobersten bewiesen, die jemahls gewesen sind. – Aber würde er dieß, ohne eine so lächerliche Grille, weniger, oder nicht vielmehr in einem noch höhern Grade gewesen seyn? Bey allem dem gestehe ich gern, daß Xenofon, ein wenig Sokratische Pedanterie abgerechnet, der polierteste, sittlichste und für alle Lagen und Verhältnisse des öffentlichen und Privatlebens tauglichste Mann nicht nur unter allen Sokratikern, sondern vielleicht unter allen Griechen, so wie er noch jetzt, in einem Alter von mehr als funfzig Jahren, einer der schönsten ist; und ich kann ihm dieß um so zuversichtlicher nachsagen, da ich ihn hier zu Milet mehr als Ein Mahl im Gefolge des Agesilaus gesehen und gesprochen habe. Dieser König von Sparta scheint im Begriff zu seyn, das, was du von einer sehr möglichen Folge des Rückzugs der Zehentausend geweissagt hast, wahr zu machen. Aber der böse Dämon der Griechen ist mit den Schutzgöttern Persiens im geheimen Einverständniß; oder, ohne Figuren zu reden, ihre Zwietracht und Eifersucht über einander, die seit dem Trojanischen Kriege die Quelle alles ihres Unglücks war, wird auch dießmahl die Sicherheit des Perserreichs seyn, und es so lange bleiben, bis sich in Griechenland selbst ein König erhebt, der vor allen Dingen der Unabhängigkeit aller dieser kleinen Republiken ein Ende macht, welche sich ihrer Freyheit so schlecht zu ihrem eigenen Besten zu bedienen wissen. Dieser König wird über lang oder kurz wie ein Gewitter über sie her fallen, und wer weiß, ob er nicht in Sicilien oder Thessalien oder Macedonien schon geboren ist?

Je länger ich hier lebe, je mehr finde ich daß du mir nicht zu viel von dem Aufenthalt in Milet versprochen hast, und die Einwohner scheinen mir den Vorzug, den du ihnen vor den Athenern giebst, täglich mehr zu rechtfertigen. Die Milesier haben den guten Verstand, keine glänzendere Rolle in der Welt spielen zu wollen, als wozu sie durch die Lage ihrer Stadt bestimmt sind, und scheinen sich ohne Mühe in den Schranken zu halten, welche die Mittelmäßigkeit ihres Gemeinwesens um sie her zieht. Milet ist alles was es seyn kann, indem es einer der ansehnlichsten und blühendsten Handelsplätze in der Welt ist, und sich dabey zu erhalten, scheint ihr höchster Ehrgeitz zu seyn.

Wie glücklich wären die Athener, wenn sie sich, seit Solon den Grund zu ihrem ehemahligen Wohlstand legte, so wie die Milesier zu mäßigen gewußt hätten! Aber das Ansehen und der Ruhm, den sie sich in dem Zeitraum des Medischen Kriegs erwarben, machte sie schwindlicht; seit dieser Zeit können sie nicht ruhig seyn, wenn sie nicht die Ersten in Griechenland sind; aber sie können eben so wenig ruhen, wenn sie es geworden sind. Mit jeder höhern Stufe, die sie ersteigen, entdecken sie, wie viel noch fehlt um die Ersten in der Welt zu seyn; und nun ist ihnen nichts was sie haben genug, und sie schnappen so lange nach dem luftigen Gegenstand ihrer Unersättlichkeit, bis sie auch das verlieren was sie hatten und durch Genügsamkeit und ein zugleich männliches und kluges Betragen ewig erhalten könnten. Der Athener ist unendlich eifersüchtig über eine Freyheit, die er nicht zu gebrauchen weiß; er will bloß frey seyn, damit ihm alle andern dienen; deswegen will er es allein seyn, und unterwirft sich alles, was nicht mächtig genug ist, ihm zu widerstehen: der Milesier ist mit so viel Freyheit zufrieden als er zu seinem Wohlstand nöthig hat, und verlangt keine größere Macht, als die Beschützung seines ausgebreiteten Handels erfordert.

In beiden Städten ist das Volk überhaupt lebhaft, witzig und zum Scherz geneigt; aber der Milesier, ohne leicht die Grenzen der Wohlanständigkeit und der Achtung, die man im geselligen Umgang einander schuldig ist, zu überschreiten. Der Witz des Atheners hingegen ist scharf und beißend; auf den ersten Blick hat er das Lächerliche an Personen und Sachen weg, und bespottet es mit so viel weniger Schonung, da ihm sein demokratischer Trotz und der Stolz auf den Athenischen Nahmen eine Selbstgefälligkeit und einen Übermuth giebt, den die Fremden ziemlich drückend finden. Er sieht Alles was nicht Attisch ist über die Achseln an, und ist immer voraus entschlossen, Allem was er nicht selbst sagt zu widersprechen. Er weiß schon bey deinen ersten Worten was du vorbringen willst, widerlegt dich ehe du ihm zeigen kannst daß du bereits seiner Meinung bist, antwortet dir auf ein ernsthaftes Argument mit einem Wortspiel oder einer Spitzfindigkeit, und geht im Triumf davon, wenn er nur ein paar Lacher auf seiner Seite hat. Athener und Milesier sind gesellig und gastfrey: aber wenn der Athener dich einladet, so ist es um sich dir zu zeigen; der Milesier will, daß dir wohl bey ihm sey. Beide scheinen alles Schöne, besonders in den Künsten, bis zur Schwärmerey zu lieben: aber der Athener um darüber zu schwatzen, der Milesier um es zu genießen. Überhaupt sind die letztern ein fröhliches, genialisches Volk, heiter und lachend wie ihr Himmel, warm und üppig wie ihr Boden; aber doch das letztere nicht mehr, als mit der Betriebsamkeit und dem Handelsgeiste bestehen kann, denen sie ihren großen Wohlstand zu danken haben. Zu Milet sehe ich jedermann in der ersten Hälfte des Tages beschäftigt, um die andre desto freyer dem Vergnügen widmen zu können. Der Reichthum hat in ihren Augen nur in so fern einen Werth, als er ihnen die Mittel zum angenehmsten Lebensgenuß verschafft: aber sie vergessen auch nie, daß die Quellen desselben durch anhaltende Thätigkeit im Fluß erhalten werden müssen, und ohne eine verständige Ökonomie bald versiegen würden. Die Athener bleiben, unter unaufhörlichen Entwürfen, wie sie ohne Arbeit reich werden wollen, immer hinter ihren Bedürfnissen zurück, und die meisten darben im Alter, oder müssen zu den schlechtesten und verächtlichsten Hülfsquellen ihre Zuflucht nehmen; weil ein Athener es sich nie verzeihen könnte, wenn er einen gegenwärtigen Genuß einem künftigen aufgeopfert hätte. Dieß ist ungefähr alles, Freund Aristipp, was ich bis jetzt von dem Unterschied in dem Karakter der Milesier und der Kechenäer bemerkt habe. Daß es auf beiden Seiten Ausnahmen giebt, versteht sich von selbst.

Seit einigen Tagen erfahre ich endlich auch wieder etwas von der schönen Lais. Sie lebt, sagt man, zu Sardes auf Kosten des bezauberten Arasambes wie eine zweyte Semiramis, und Leute, die seit kurzem von Efesus kommen, können nicht genug von der Pracht ihres Hofstaats erzählen, und von der Menge und Schönheit ihrer Sklaven und Sklavinnen, und von den herrlichen Festen, die ihr zu Ehren unaufhörlich auf einander folgen; kurz von der grenzenlosen Üppigkeit, womit sie die Schätze ihres Liebhabers verschwendet, der es auf diesen Fuß nicht lange aushalten könnte, wenn auch alles Gold des Paktols und des Ganges in seine Schatzkammer strömte. Ich zweifle nicht, daß in allem diesem sehr viel übertriebenes ist; doch begreift sichs, wie die Liebe zum Schönen und Großen in der Natur und der Kunst (die einzige Leidenschaft unsrer Freundin) unter der Herrschaft einer so fruchtbaren Einbildungskraft wie die ihrige, in weniger als zehen Jahren einen Krösus zum Irus machen könnte. Daß sie eine so betrübte Katastrofe nicht abwarten wird, bin ich gewiß, oder ich müßte sie schlecht kennen. Indessen nimmt michs doch Wunder, was das Spiel für einen Ausgang nehmen wird.


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