Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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VI.
An Kleonidas.

Dein junger Freund Antipater hätte sich durch nichts einer bessern Aufnahme versichern können, als daß er mir einen so lange erharrten Brief von meinem Kleonidas überbrachte; wiewohl ich gestehe, daß er keiner andern Empfehlung bedarf, als sich bloß zu zeigen. Ich bin wirklich stolz darauf, einen so unverdorbenen, kraftvollen und vielversprechenden Sohn der Natur, wie Antipater ist, als meinen Landsmann bey den Athenern aufzuführen. Wohl wird es ihm kommen, wenn er so fest und unreitzbar ist, als sein ganzes Wesen ankündigt; denn ich sehe schon drey oder vier unsrer jungen mädchenhaften Bathylle mit Rosen duftenden Locken, schmachtenden Augen, und zarten lispelnden Stimmchen, die um ihn herumbuhlen, und allen ihren kleinen Hetärenkünsten aufbieten, sich von ihm bemerkt zu machen, und ihm zu zeigen, daß sie keine Gefälligkeit zu groß finden würden, um sich eines Liebhabers von seinem Schlage zu versichern.

Ich habe meinem jungen Landsmann ein Zimmer in meinem Hause (das gerade Raum genug für uns beide hat) angewiesen; er ist, so oft es ihm gefällt, mein Tischgenoß, und bedient sich meines Umgangs, ohne mir lästig zu seyn, so viel als ihm gemüthlich ist: dieß ist aber auch alles, was ich (vor der Hand wenigstens) für ihn thun kann, und wirklich schon mehr als er vonnöthen hat. Jünglinge wie Er werden nicht gebildet, sondern bilden sich selbst, oder bringen vielmehr ihre schon voraus bestimmte Form mit sich auf die Welt; wie sie sind, sollen sie seyn; was sie werden, sollen sie werden. Was eine Pflanze bedarf, um sich zu entwickeln, Freyheit, Licht und angemessene Nahrung, ist im Grund alles, was solche Menschen zu ihrem Wachsthum und Gedeihen brauchen. Athen ist reich an merkwürdigen Menschen aller Arten, deren Vorzüge, Talente, Kenntnisse, Erfahrungen, Tugenden und Untugenden ein Jüngling wie Antipater benutzen kann: er mag sie selbst aufsuchen, und selbst wählen, zu wem er sich halten will. Zwar werd' ich ihn unvermerkt beobachten, und ihn warnen, sobald ich sehe, daß seine Unerfahrenheit irgend eine große Gefahr laufen könnte; aber mich nicht gleich für ihn ängstigen, wenn er auch dann und wann zu weit mit der Nase vorwärts kommt, oder einen Mißtritt thut, der ihn künftig vorsichtiger zu seyn lehrt. Selten oder nie werd' ich ihm mit meinem Rathe zuvorkommen, niemahls ihm von einer Person, die er selbst sehen wird, voraus sagen, was ich von ihr halte: begehrt er aber von freyen Stücken meine Meinung, worüber es sey, zu wissen, so werd' ich sie ihm frey und offen sagen. Verlangt er Unterricht über etwas, das ich besser weiß als er, so soll er ihn erhalten. Dieß ist ungefähr die Art, wie ich mit ihm umgehe, bis wir uns näher kennen, und das wahre Verhältniß seiner Natur zu der meinigen sich so bestimmt ausgesprochen hat, daß wir beide genau wissen, wie wir gegen einander stehen, und was wir einander seyn oder nicht seyn können. An eigentliche Bildung ist, (wie gesagt) bey einem Jüngling wie dieser nicht zu denken. Ja, so einen Onokradias, den Sohn Onolaus des Zweyten, des Enkels von Onomemnon, der ein Urenkel von Onocefalus dem Großen war, so einen Heldensohn kann man bilden, und soll man bilden, so gut als es gehen will, denn er ist für sich selbst Nichts; so Einem soll man gesunde Begriffe, Grundsätze und Maximen in den Kopf, oder wenigstens ins Gedächtniß einsammeln, weil er sie ohne fremde Hülfe nie bekommen würde. Wer nicht schon von bloßem Zusehen gehen lernt, muß es in einem Gängelwagen oder am Führband lernen; wer blind ist, muß geführt werden; wer nicht denken kann, soll andern glauben, wer selbst kein Urtheil hat, mag, wenn er nicht schweigen kann, verständigen Männern nachsprechen. So will es die Natur; und so ist's recht. Aus einem Stück Sandstein, Marmor oder Lindenholz kann freylich ein Alkamen nach Gefallen einen Achilles oder Thersites herausmeißeln oder schnitzeln: aber aus seinem Sohn Lamprokles konnte Sokrates selbst keinen Xenofon, so wie aus seinem geliebten Alcibiades keinen Perikles bilden. – Doch, wozu das Alles, was du so gut weißt als ich? Denn gewiß wolltest du mit der Bildung deines jungen Freundes, die du mir aufträgst, weder mehr noch weniger sagen, als was ich dir zu leisten versprach, und zu halten gedenke – und das ist genug.

Ohne Zweifel erinnerst du dich noch des alten Antisthenes, den du in Athen kennen lerntest; desjenigen unter den vertrautern Freunden unsers Weisen, der ihm (seine fröhliche Laune und Urbanität und das feine Salz seiner Scherze ausgenommen) in Lehre und Leben am ähnlichsten wäre, wenn er nicht in beidem ziemlich weit über die Linie hinausginge, die das Mittel zwischen zu viel und zu wenig bezeichnet, und freylich nicht immer so genau zu treffen ist, als ein weiser Mann wohl wünschen möchte. – Indessen hat sich ein junger Paflagonier aus Sinope, Diogenes genannt, von ungefähr zu ihm gefunden, der die Kunst zu entbehren und zu hungern noch viel weiter treibt als Antisthenes, aber dabey, was den Witz, die gute Laune und die Genialität betrifft, so viel Ähnliches mit dem Sohn des Sofroniscus hat, daß ihn Plato, wie ich höre, nur den tollgewordenen Sokrates zu nennen pflegt. Der weiseste Mann, sobald er ohne alle Nachsicht und Schonung auf die Thoren, d. i. auf die große Mehrheit, losgehen, und sich ihnen in gar keinem Stücke gleich stellen wollte, würde ihnen nothwendig, im mildesten Lichte betrachtet, als ein ausgemachter Narr erscheinen müssen. Dieß ist gewisser Maßen der Fall dieses Diogenes; mir wenigstens scheint er unter seiner Narrenkappe einen gesundern Kopf zu bergen, als die meisten, die durch die leicht zu machende Entdeckung, daß er ein Narr sey, ihren eigenen Verstand in Sicherheit gebracht zu haben glauben. Im Grunde gehört ein gutes Theil Vernunft dazu, um ein Narr wie Diogenes zu seyn; ja ich möcht' es sogar ein Talent nennen, worin man es zu einer gewissen Virtuosität bringen kann, so gut als in irgend einem andern.

Da dieser junge Mann in der neuentstandenen Klasse von Menschen, die sich, seit Plato an ihrer Spitze steht, Filosofen nennen, künftig eine bedeutende Rolle spielen dürfte, so ist es dir vielleicht nicht unangenehm, wenn ich dich, so weit meine dermahlige Kenntniß von ihm reicht, etwas näher mit ihm bekannt mache. Er war (wie es scheint, und wie die Erkundigungen, die ich hierüber eingezogen habe, bestätigen) in guten Glücksumständen geboren, und hatte eine dieser Lage angemessene Erziehung erhalten. Ein unvermutheter Umsturz seines Hauses, welches einen ansehnlichen Handel auf dem Euxinischen Meere getrieben hatte, machte ihn auf Einmahl zum Bettler. Ein andrer Zufall führte ihn zum Antisthenes nach Athen. Da sein Beruf zur Filosofie ein eigentlicher Nothfall war, so zeigte ihm sein guter Verstand sehr bald, was er hier zu thun habe. Einem Menschen, der keine Wahl hatte, als zwischen dienen und arbeiten, oder betteln und müßiggehen, – wo der Gewinn auf beiden Seiten ziemlich gleich, und der tiefe Grad von Verachtung, der den Stand des Bettlers drückt, beynahe das Einzige ist, was die Wage auf die andere Seite ziehen kann – konnte nichts glücklicheres begegnen, als die Bekanntschaft mit Antisthenes. Denn er sah nun auf den ersten Blick, daß er nur noch Einen Schritt weiter zu gehen brauche als dieser, um seine Dürftigkeit zu Filosofie zu veredeln, sich aus einem Bettler zum unabhängigsten aller Menschen zu machen, und der verächtlichsten Lebensart sogar einen Respekt gebietenden Karakter aufzudrücken. Schon Antisthenes würde eben so räsonniert haben wie Diogenes, wenn seine äußere Lage völlig eben dieselbe gewesen wäre. Auch liegt der wahre Unterschied zwischen ihrer Art zu filosofieren bloß in dem Umstand, daß jener gerade so viel Vermögen hat, daß es ihm täglich wenigstens drey bis vier Obolen, und alle vier Jahre einen neuen Überrock abwirft; dieser hingegen gar nichts hat, wovon er leben kann, als seinen Kopf und seine Arme. – Daß er sich zu einigen andern Lebensarten, womit ein Bettler, der alles zu leiden und zu thun bereit ist, sich allenfalls in einer Stadt wie Athen fortbringen kann, zu gut fühlte, wollen wir ihm zu keinem großen Verdienst anrechnen: aber seinen Verstand hat er bey mir in keine gemeine Achtung gesetzt, nicht dadurch, daß er den Stand eines Cynischen Filosofen (wie man den Antisthenes und seine wenigen Anhänger zu nennen anfängt) erwählt hat, – denn in seiner Lage war eigentlich nichts zu wählen – sondern daß er diese Nothfilosofie sich selbst und seinen Umständen so anzupassen weiß, daß sie sein eigen wird, daß sie ihm, so zu sagen, bequem sitzt, und wohl ansteht; mit Einem Wort, daß er anstatt Nachahmer zu seyn, Original ist, und auf dem Wege, den er eingeschlagen hat, ziemlich sicher seyn kann, wie viele Nachtreter er selbst auch immer finden möchte, doch so leicht von keinem erreicht, geschweige übertroffen zu werden.

Es klingt paradox genug, hat aber seine völlige Richtigkeit, daß Diogenes zum ersten Grundsatz seiner Filosofie gemacht hat, »alle seine Bedürfnisse, oder alles was er, außer einem ziemlich kurzen und abgetragenen Mantel, auf der ganzen Welt besitzt, in einem mäßigen Schnappsack auf der Schulter mit sich herum zu tragen.« Bey einer neulichen Inventur seines Inhalts fand der närrische Mensch, daß er einen Kamm mit vier Zähnen, und einen hölzernen Becher zu viel habe, da ihm eine seiner Hände beides sehr bequem ersetzen könne; und so wurde dieser Überfluß sogleich ins nächste Wasser geworfen. Indem er die Entbehrungskunst bis auf diese Spitze treibt, gewinnt er den Vortheil, daß seine Dürftigkeit das Ansehen eines von freyen Stücken aus Grundsätzen erwählten Zustandes erhält, und dieß giebt ihm eine Art von Recht, sich über die Üppigkeit der Reichen lustig zu machen; ein Zeitvertreib, wozu ihn die Natur mit Witz und Muthwillen reichlich versehen hat. Da die Menschen überhaupt, und die Athener noch mehr als andere, wohl leiden mögen, daß man über ihre Thorheiten spotte, wenn es nur auf eine solche Art geschieht, daß sie mitlachen können, und der Spötter ihnen hinwieder Blößen genug giebt, um ihn mit gleicher Münze zu bezahlen; so hat er sich dadurch bereits eine Art von Popularität erworben, die ihn wenigstens vor dem Mangel an Wolfsbohnen (seiner gewöhnlichen und beynahe einzigen Nahrung) sicher stellt. Aber die Filosofie des Schnappsacks verschafft ihm noch einen Vortheil, der nach seiner Schätzung alle andern überwiegt. Da er so unendlich wenig Ansprüche an die bürgerliche Gesellschaft macht, so glaubt er auch berechtigt zu seyn, sich über alles, was im menschlichen Leben bloß von Übereinkunft, Gewohnheit und Sitte abhängt, wegzusetzen, und im Nothfall mitten auf dem Markte zu Athen alles, was nicht an sich unrecht ist, für eben so erlaubt zu halten, als in der tiefsten Schlucht des Pentelikus. Er achtet kein Vorurtheil, spottet über den Zwang, den wir uns selbst durch eine unendliche Menge vermeinter Pflichten auflegen, wovon die Natur nichts weiß, und die man übertreten kann, ohne darum ein schlimmerer Mensch zu seyn; und hält sich daher durch die Gesetze der Wohlanständigkeit und Urbanität so wenig gebunden, daß er vielmehr das größte Vergnügen darin findet, sie alle Augenblicke zu übertreten, und den Leuten dadurch lächerlich und anstößig zu werden. Er hat sehr richtig geurtheilt, daß dieß alles zu der Rolle eines bloßen Naturmenschen gehört, und daß er so ziemlich darauf rechnen kann, man werde die Billigkeit fühlen, an einen Menschen, der von andern nichts fordert, als daß sie ihn leben lassen, hinwieder keine Forderungen zu machen, wozu er als bloßer Mensch nicht verpflichtet ist. Bey allem dem hat er doch zu viel Sinn, um in der Ausübung seiner Grundsätze so weit zu gehen, als sie ihn führen könnten. Er spricht freyer als er handelt, ist besser und verständiger als er scheinen will; und wiewohl er eine eigene Freude daran hat, in den seltsamen Bockssprüngen, die er seinen Witz und seine Laune machen läßt, der Grenzlinie des Unanständigen öfters so nahe zu kommen, daß man alle Augenblicke befürchtet, er werde vollends über sie weggehen, so weiß er doch (zumahl in guter Gesellschaft) den äußersten Punkt immer so genau zu treffen, daß man ihm wenigstens das Lob eines geschickten Luftspringers nicht versagen kann. Noch einer kleinen Tugend muß ich erwähnen, die an einem Filosofen dieses Schlages nicht ganz gleichgültig ist; nehmlich daß er – das Wasser nicht spart, (welches zum Glück in und um Athen überall umsonst zu haben ist) und daß er daher im Punkt der Reinlichkeit von dem wasserscheuen Antisthenes sehr stark zu seinem Vortheil absticht.


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