Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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VIII.
Fortsetzung und Beschluß des Vorigen.

Meinem Versprechen zu Folge werde ich die vier Bücher, die noch vor uns liegen, wie reich und schwer an Inhalt sie auch sind, und wie viel gegen Manches zu erinnern wäre, wenn es scharf gesichtet werden sollte, so schnell als möglich durchlaufen, und (wenn anders die Versuchung nicht hier oder da gar zu stark werden sollte) nicht mehr davon sagen, als zur Übersicht des Ganzen nöthig ist.

Die Behauptung, »daß die beste (der Vollkommenheit am nächsten kommende) Republik nur unter der einzigen Bedingung, wenn sie ächte Filosofen zu Regenten habe, realisiert werden könne,« hatte den Platonischen Sokrates auf die verschiedenen Untersuchungen und Erläuterungen geführt, die den Inhalt des sechsten Buchs ausmachen. Die allegorische Dichtung zu Anfang des siebenten sollte das, was er über ächte und unächte Filosofie, über Irrthum, Wahrheit und Meinung (die zwischen beiden liegt) vorgebracht hatte, durch ein passendes Fantasiebild begreiflicher machen. Das Resultat davon ist: daß nur der, dessen Geist aus der Sinnenwelt (die uns andern gemeinen Menschen die wirkliche scheint) in die Welt der Ideen empor gestiegen, und durch diese sich endlich bis zum unmittelbaren Anschauen der Idee des Guten erhoben hat, den Nahmen eines Filosofen verdiene. Da nun unsre Republik lauter solche Filosofen zu Vorstehern haben soll, so fragt sich: durch was für eine Erziehung diese letztern zu ihrer Bestimmung zubereitet, auf welchen Stufen sie zu ihr empor geführt, und welchen Prüfungen sie unterworfen werden sollen, bevor sie für fähig und würdig zu erkennen sind, in unsrer Republik das zu seyn, was die Vernunft in dem Mikrokosmos der menschlichen Seele und die Idee des Guten im Weltall ist? Diese Aufgaben beschäftigen unsern Filosofen durch das ganze siebente Buch, und geben ihm, indem er von den Wissenschaften spricht, wodurch seine künftigen Archonten sich den Eingang in die übersinnliche Ideenwelt eröffnen sollen, Gelegenheit, manches Brauchbare zu sagen, aber auch manches, das mir und vermuthlich seinen meisten Lesern ziemlich unverständlich ist, und uns den Argwohn abnöthigt, daß er uns entweder absichtlich tantalisieren, oder eine Unwissenheit, die er mit uns und allen andern Sterblichen gemein hat, hinter die viel versprechende geheimnisvolle Miene, womit er uns – Nichts offenbart, verstecken wolle. Die Wissenschaften, welche seine künftigen Archonten mit besonderen Eifer treiben sollen, sind die Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Aber daß du dir ja nicht einbildest, der Platonische Sokrates denke über diese Wissenschaften wie der Sohn des Sofroniskus, der seinen jungen Freunden zu rathen pflegte, sich nicht tiefer in sie einzulassen, als zu ihrem Gebrauch im Rechnen, Feldmessen, in der Schiffahrt, und zum Singen, Citherspielen und Tanzen nöthig ist! Gerade das Widerspiel; er spricht von dem praktischen Theil derselben mit einer Art von Verachtung, und empfiehlt sie seinen Zöglingen nur, in so fern sie die Seele durch Betrachtung des Übersinnlichen reinigen, und zum Anschauen des Wesens der Dinge und der Idee des Guten tüchtiger machen. In dieser Rücksicht räumt er der Dialektik (die ihm etwas ganz anders ist als was gewöhnlich unter diesem Nahmen verstanden wird) die oberste Stelle unter allen (in Vergleichung mit ihr nur uneigentlich so genannten) Wissenschaften ein, weil sie sich (wenn ich ihn anders recht verstehe) zu den übrigen verhält, wie in seinem vorigen Gleichnißbilde von den Gefesselten in der unterirdischen Höhle, das Anschauen der Sonne selbst zum Anschauen des Feuers, welches den Gefesselten die Schatten der zwischen ihnen und dem Feuer vorübergetragenen Dinge sichtbar macht; daher denn auch niemand als der wahre Dialektiker im Stande ist, die übrigen Wissenschaften so zu veredeln, daß sie zu Stufen werden, worauf die Seele, nachdem sie sich von allem was ästhetisch ist los gewunden hat, »vermittelst eines Organs, das mehr als Zehentausend körperliche Augen werth ist,« zur unmittelbaren Anschauung des Auto-Agathon, als dem höchsten Endpunkt alles Reindenkbaren, sich erheben kann. Mehr verlange nicht, daß ich dir von diesen übersinnlichen Geheimnissen sagen soll; denn ich gestehe dir unverhohlen, daß mein Geistesauge (mit Plato zu reden) noch zu sehr mit barbarischem Schlamm (borborô barbarikô) überzogen ist, um von dem unendlich subtilen dialektischen Licht, womit dieses siebente Buch erfüllt ist, nicht geblendet zu werden. Beynahe möchte man den wackern Glaukon beneiden, der, wie es scheint, als ein ächter junger Adler mit heilen Augen in diese Sonne schauen kann, und dem alles, was er bloß hört, auf der Stelle so klar einleuchtet, als ob er es aus Platons eigenen Augen sähe.

Ernsthaft von der Sache zu reden, Eurybates, glaube ich, Trotz der Blödigkeit meines Gesichts für unsichtbare Dinge, ziemlich klar zu sehen, daß es nur auf den guten Willen unsers Mystagogen angekommen wäre, die erhabenen Lehren, die er uns, bald in die seltsamsten Bilder verschleyert, bald in einer nur ihm und seinen Eingeweihten verständlichen Sprache, als eine Art von Räthsel zu errathen giebt, in der Sprache der Menschen deutlich genug vorzutragen, daß jeder nicht gänzlich im Denken ungeübte Leser sie ohne große Anstrengung hätte verstehen und beurtheilen können. Aber vielleicht würden sie dann auch nicht wenig von dem hohen Werth, den er ihnen beylegt, verloren haben, und es wäre beym ersten Blick in die Augen gefallen, daß wir durch die Verwandlung bloßer ausgeweideter Gedankenformen in das was er Ideen nennt, und sogar durch das Aufschauen zu seinem Auto-Agathon, – in welches unser geistiges Auge, eben so wenig als unser leibliches in die Sonne, länger als einen Augenblick (und auch da nicht ohne zu erblinden) schauen könnte, – bey weiten nicht so viel gewinnen als er uns zu versprechen scheint. Denn es hat (menschlicher Weise von der Sache zu reden) mit diesem Auto-Agathon, diesem König der unsichtbaren Welt, diesem ersten unergründlichen Grund alles dessen was wahrhaftig ist, so ziemlich eben dieselbe Bewandtniß wie mit der Sonne, dem Herrscher in der sichtbaren. Was wir von beiden wissen, ist sehr wenig, und wir reichen nicht weit damit, wenn es darum zu thun ist, uns eine reelle, d. i. im praktischen Leben brauchbare und hinreichende Kenntniß der Menschen und der Dinge um uns her anzuschaffen, deren wir gleichwohl am meisten bedürfen, da von den Verhältnissen dieser Menschen und dieser Dinge zu uns, und von der Art, wie wir diese gebrauchen und uns gegen jene benehmen, unser Wohl oder Weh abhängt. Ob die Welt um uns her aus reellen Dingen oder bloßen Erscheinungen bestehe, wenn es für gesunde Menschen auch eine Frage seyn könnte, wäre doch eine unnütze Frage, weil wir uns, um nicht wie Thoren zu handeln, immer so benehmen müssen, als ob Alles, was gesunden und vernünftigen Menschen reell scheint, es auch wirklich sey. Sich mit Gewalt in eine unsichtbare Ideenwelt hinein zu träumen oder hinein zu abstrahieren, ist schwerlich der rechte Weg, die Sinnenwelt, die nun Einmahl unser Wirkungskreis ist, kennen zu lernen; aber wohl das unfehlbarste Mittel, eine jede andere als die Rolle eines schwärmerischen Mystosofen ziemlich schlecht in ihr zu spielen. Was würde man von einem zum Mahler oder Bildner bestimmten Menschen sagen, der, wenn er in eine Galerie von Bildsäulen und Gemählden der besten Meister geführt würde, diese Kunstwerke, weil sie doch nichts als leblose und unvollkommene Nachbildungen wirklicher Menschen, Götter und Göttersöhne seyen, mit Verachtung anekeln und sich noch groß damit machen wollte, daß er nur die Urbilder seines Anblicks würdig halte? – Doch dieß im Vorbeygehen; denn eine scharfe Untersuchung dessen, worauf es in dem Streit zwischen dem göttlichen Plato und dem gesunden Sokratischen Menschenverstand ankommt, würde mich viel weiter führen als ich mir in diesen Briefen zu gehen vorgesetzt habe, und es kann, dünkt mich, an den Winken genug seyn, die ich hierüber hier und da bereits gegeben habe.

Nachdem unser Platonischer Sokrates das Kapitel von der Erziehung und Vorbereitung, und den darauf folgenden Beschäftigungen und Prüfungen, wodurch die zur Regierung seiner Republik bestimmten Personen beyderley Geschlechts zu dem erforderten hohen Grad von Weisheit und Tugend gebildet werden sollen, im siebenten Buche zu Ende gebracht hat, beginnt er das achte mit einer summarischen Wiederhohlung der Resultate alles dessen, was vom fünften an bisher zwischen ihm und den beiden Brüdern abgehandelt worden, und nimmt, mit Glaukons unbedingter Beystimmung, als etwas Ausgemachtes an: daß in einer vollkommen wohl eingerichteten Republik erstens Weiber, Kinder, Erziehung und Ausbildung zu allen in Krieg und Frieden nöthigen Eigenschaften, in den beiden obern Ständen gemeinschaftlich seyn müssen; zweytens, der zur Vertheidigung bestimmte Stand kein Eigenthum besitzen dürfe, und drittens aus demselben nur die vollendetsten und bewährtesten Filosofen und Kriegsmänner zu Regenten oder Königen (wie er sie nennt) erwählt werden sollen. Beide erinnern sich nun des Orts, von wo aus Sokrates durch Adimanths und Polemarchs Zudringlichkeit in diesen Labyrinth von großen und kleinen Digressionen, Absprüngen und Widergängen verleitet worden; und da beide gleich geneigt sind, der eine zu reden, der andere zuzuhören: so wird nun der im Eingang des fünften Buchs angefangene, aber sogleich unterbrochene Diskurs über die verschiedenen Staatsformen wieder aufgenommen, und gezeigt, wie einer jeden dieser Verfassungen (welche unser Filosof auf fünf, nehmlich Eine gesunde und vier mehr oder weniger verdorbene, zurückführt) eine ähnliche Verfassung im Innern des Menschen entspreche. Die einzige gesunde Staatsverfassung ist ihm die Aristokratie, d. i. die Regierung der Besten, oder (was bey ihm einerley ist) der Filosofen. Ob sie Monarchisch oder Polyarchisch sey, gilt gleichviel, wenn nur die Filosofie regiert, und alles nach dem Modell seiner bisher beschriebenen Republik eingerichtet ist. Unglücklicher Weise (sagt er) ist auch diese vollkommenste Verfassung, wie alle Dinge unter dem Mond, der Verderbniß unterworfen; sie kann und muß nach und nach krank werden, und sobald dieser Fall eintritt, artet sie in die erste der ungesunden Verfassungen, in die Timokratie oder Herrschaft der Ehrgeitzigen aus, so wie diese, wenn sie den höchsten Grad ihrer Verderbniß erreicht hat, sich in die Oligarchie, und diese, aus der nehmlichen Ursache, sich in die Demokratie verwandelt; welche, durch eine eben so natürliche Folge, endlich in der verdorbensten und verderblichsten aller Staatsformen, der Tyrannie, ihren Untergang findet. Wie es mit diesen Verwandlungen zugehe, den Karakter und so zu sagen die Krankheitsgeschichte dieser vier Perioden einer ursprünglich kerngesunden, aber nach und nach ausartenden und kachektisch werdenden Republik, und eine genetische Schilderung der Gemüthsverfassung und Sitten eines jeder von den vier verdorbenen Regierungsarten entsprechenden einzelnen Menschen, alles dieß wird im achten und neunten Buch, aus dem Gesichtspunkt, worauf uns Plato gestellt hat, auf eine sehr einleuchtende Art mit vieler Wahrheit und Zierlichkeit vorgetragen. Man erkennt in der Schilderung der Timokratie das heutige Sparta auf den ersten Blick; auch Korinth, Argos, Theben und andere ihres gleichen, werden sich in seiner Oligarchie nur zu gut getroffen finden; aber die Darstellung und Würdigung der Demokratie, wozu er an seiner eigenen Vaterstadt das trefflichste Modell vor Augen hatte, geht über alles. Sie ist ein Meisterstück sokratisch-attischer Feinheit und Ironie; zwar etwas scharf gesalzen und reichlich mit Silfion gewürzt; aber wenn den Athenern noch zu helfen wäre, so müßte diese Arzney wirken: oder, richtiger zu reden, wenn sie (wie Plato selbst schwerlich anders erwartet) ungefähr eben so viel wirkt als die Ritter, die Vögel und die Wespen des Aristofanes, d. i. Nichts, so ist den Athenern schwerlich zu helfen. Gleichwohl sollt' es mich wundern, wenn diese Satire auf die Demokratie nicht gerade das wäre, was ihnen in diesem ganzen Dialog am meisten Vergnügen macht.


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