Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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IV.
An Demokles von Cyrene.

Griechenland zählt nun seit dem ersten Neumond nach der letzten Sommer-Sonnenwende das erste Jahr seiner vier und neunzigsten Olympiade; die Spiele sind geendigt, und ich habe gesehen – was zu sehen war. In der That große, auffallende, prachtvolle, und, nach der gewöhnlichen Schätzung der menschlichen Dinge, sehenswürdige Schauspiele! Aber, soll ich dir davon sprechen wie ich denke, Demokles? – Du hast oft mit mir über meine (wie ich immer mehr zu glauben Ursache finde) angeborne Maxime, Nichts zu bewundern, gestritten; und wenn wir am Ende, wie gewöhnlich, jeder mit seiner eigenen Meinung davon gingen, söhntest du dich immer durch ein wohlwollendes Mitleiden mit mir aus, mich durch eine so gleichgültige Gemüthsstimmung des hohen Grades von Vergnügen entbehren zu sehen, welches, wie du sagtest, den gefühlvollen Seelen zu Theil werde, die gerade durch den Affekt der Bewunderung zu erkennen geben, daß sie bey großen und schönen Gegenständen ungleich mehr empfinden, als derjenige, der sie ansehen kann, ohne aus seiner gewöhnlichen Fassung gesetzt zu werden. Es mag seyn, daß meine Maxime mich öfters eines lebhaftern Genusses beraubt: aber dafür gewährt sie mir auch den Vortheil, mich selten in meiner Erwartung getäuscht zu finden. Auch begegnet mir öfters, daß ich anstatt mit der Menge zu bewundern, mich (mit deiner Erlaubniß) nicht wenig verwundere, wie die Leute so gutmüthig seyn mögen, über Dinge in Entzückung zu gerathen, die, bey kaltem Blute aufs gelindeste beurtheilt, nur lächerlich sind, und bey strengerer Prüfung leicht in einem noch ungünstigern Licht erscheinen könnten.

Nach dieser Vorrede bist du vermuthlich schon auf das Geständniß gefaßt, daß dieß beym Anschauen der weltberühmten Kampfspiele zu Olympia ganz eigentlich mein Fall war, und daß ich, während alles um mich her in Entzückung zerfloß, mich in aller Stille nicht genug verwundern konnte, wie ein Volk, das sich selbst für das sittigste und aufgeklärteste des ganzen Erdbodens hält, und von andern dafür erkannt wird, vor einer so großen Menge ausländischer Zuschauer sich nicht schämte, einen so hohen Werth auf den Sieg in so kindischen oder barbarischen Wettkämpfen zu legen, aus den dazu angesetzten Tagen sein höchstes Nazionalfest zu machen, und sogar seine Zeitrechnung nach ihrer Feyer zu bestimmen. Käme, dacht' ich, ein Perser oder Skythe, der noch nichts von diesem Institut gehört hätte, von ungefähr dazu, wenn im Angesicht einer unzählbaren Menge Volks, in einem Ehrfurcht gebietenden Kreise der edelsten und angesehensten Männer der Nazion, nach einem dem Könige der Götter dargebrachten feyerlichen Opfer, die Sieger öffentlich erklärt und gekrönt werden, und sähe das stolze Selbstbewußtseyn, womit sie, von ihren wonnetrunkenen Verwandten, Freunden und Mitbürgern umdrängt, und vom allgemeinen Jubel der Zuschauer bewillkommt, sich den Kampfrichtern nahen, um die Krone zu empfangen: müßt' er nicht glauben, diese Menschen könnten nichts geringeres gethan haben, als ganz Griechenland durch einen Marathonischen oder Salaminischen Sieg vom Untergang gerettet, oder wenigstens jeder um seine eigene Vaterstadt sich durch irgend eine außerordentliche That unendlich verdient gemacht zu haben? Aber wie erstaunt und betroffen würde dann ein solcher dastehn, wenn er hörte, daß es weiter nichts ist, als daß der eine dieser gekrönten Helden am besten laufen kann, ein anderer die schnellsten Rennpferde und den geschicktesten Kutscher hat, ein dritter der größte Meister im Faustkampf oder in der edeln Kunst seinen Gegner zu Boden zu ringen ist? Wahrlich dieser Perser oder Skythe, wiewohl die Griechen seiner Nazion die Ehre erweisen sie nur für Halbmenschen anzusehen, würde sich schwerlich enthalten können, das widersinnische Schauspiel für die Wirkung irgend einer zürnenden Gottheit zu halten, und zu glauben, die ganze Nazion müßte entweder von einem allgemeinen Wahnsinn befallen, oder, trotz ihrer übrigen Vorzüge, zu einer ewigen Kindheit der Vernunft verdammt seyn. Daß ein schnellfüßiger Jüngling, ein gewandter Wagenlenker, ein nerviger Kerl, der den Kampfhandschuh am kräftigsten zu gebrauchen wußte, oder um den stärksten Gegner zu überwältigen, keiner andern Waffe als seiner eigenen eisernen Faust bedurfte, in den Zeiten, da der Thebanische Herkules diese feyerlichen Spiele gestiftet haben soll, ein wichtiger Mann für seine kleine Vaterstadt war, ist natürlich, und aus dem rohen Zustand einer von ihrer ursprünglichen Wildheit noch langsam sich los arbeitenden Horde leicht zu erklären. Aber daß ein so gebildetes Volk, wie die Griechen dermahlen sind, bey so gänzlich veränderter Lage der Sachen, noch immer ein so großes Aufheben von Geschicklichkeiten macht, die entweder ganz unbrauchbar, oder doch verhältnismäßig von sehr geringem Nutzen geworden sind; daß der Mensch, der zu Olympia öffentlich dargethan hat, daß er den stiermäßigsten Nacken, die stärksten Brustknochen und die derbeste Faust seiner Zeit besitze, oder mit jedem Hasen in die Wette laufen könne, für die höchste Zierde seiner Vaterstadt gehalten, im Triumf eingehohlt, über alle seine Mitbürger hinaufgesetzt, und als ein Wohlthäter seines Volks öffentlich unterhalten, geehrt und nur nicht gar vergöttert wird, wiewohl die Stärke seiner Muskeln und Knochen, oder die Behendigkeit seiner Füße vielleicht das Einzige ist, was ihn von dem rohesten und verdienstlosesten seiner Mitbürger unterscheidet, – das ist doch wirklich so ungereimt, daß man es kaum seinen eigenen Augen zu glauben wagt.


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