Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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LAIS. Weißt du auch, daß ich dich, wenn der leidige Tisch nicht zwischen uns stände, für diese großmüthige Rechtfertigung meines Lieblingsschriftstellers küssen möchte? Denn ich gestehe, daß ich es schmerzlich empfunden hätte, wenn der häßliche Vorwurf der Zwecklosigkeit auf ihm sitzen geblieben wäre.

ARISTIPP. Und doch darf ich mir noch nicht schmeicheln, die schöne Belohnung, die du mir in Gedanken geben wolltest, schon verdient zu haben. Denn wiewohl ich einen allerdings erheblichen Vorwurf von deinem Günstling abzulehnen suchte, so kann ich dir doch nicht verbergen, daß mir das Mährchen von Poros und Penia, und der Dämon-Eros, den die Bettelnymfe dem berauschten Gott hinter einer Hecke des Göttergartens im Schlaf abgeschlichen haben soll, und sein unersättlicher Heißhunger nach einem gestaltlosen Urschönen, das allenthalben und nirgends ist, ungeachtet der naiven Unbefangenheit, womit Diotima das alles vorbringt, um keinen Splitter eines Strohhalms ehrwürdiger ist, als die Androgynen des muthwilligen Aristofanes. Lieber wollte ich mir noch die zweyerley Amorn des Pausanias gefallen lassen, wiewohl mich dünkt, daß der eine, den er Pandemos zubenannt, unter dem Nahmen Pothos (der seine Natur viel deutlicher bezeichnet) schon bekannt genug ist, um eine neue Benahmsung überflüssig zu machen. Den eigentlichen Unterschied zwischen Eros und Pothos würde ich darin setzen: daß Pothos alles Schöne bloß des Genusses wegen begehrt, oder noch eigentlicher, daß die Schönheit einer Sache, von welcher er sich einen den Sinnen schmeichelnden Genuß verspricht, für ihn nur ein stärkerer Anreitz ist, sich in den Besitz derselben zu setzen: da hingegen Eros das Schöne oder Schöngute (was im Grund einerley ist) ohne einen Blick auf sich selbst, bloß weil es schön ist, liebt, d. i. inniges Wohlgefallen daran hat, und daher im bloßen Anschauen desselben, ja sogar in dem bloßen Gedanken daß es ist, schon Nahrung genug findet, um ewig dabey ausdauern zu können; so wie die Götter ihre Unsterblichkeit zu unterhalten keiner andern Speise als Ambrosia bedürfen. Was uns Diotima von der Unersättlichkeit dieses Amors sagt, ist ein täuschendes Spiel mit den abgezogenen und daher unbestimmten formlosen Begriffen des Unendlichen, wobey die gute Seherin vergessen hat, daß ein abgezogener Begriff, als eine leere Hülse, kein Gegenstand der Liebe, und das Schöne, eben darum, weil es nur durch eine bestimmte Form schön ist, nicht unendlich seyn kann. Nicht wenig trägt auch zu dieser täuschenden Vorstellung bey, daß man gewohnt ist, die Unbeständigkeit der Menschen im Lieben auf Rechnung der Liebe zu setzen, da sie doch bloß eine natürliche Folge theils der Unbeständigkeit der Dinge selbst, theils der organischen Einrichtung unsers Körpers ist; denn es ist so sehr Natur der Liebe durch das Anschauen oder den reinen geistigen Genuß des Schönen befriedigt zu werden, daß jeder einzelne schöne Gegenstand, wofern er immer derselbe bliebe, und die Seele im reinen Genuß desselben nicht von außen her gestört würde, hinlänglich wäre, sie ewig fest zu halten und völlig zu befriedigen.

EUFRANOR. Wenn ich als Künstler meine Meinung von der Sache sagen darf –

LAIS. Das war es eben, warum ich dich in diesem Augenblick bitten wollte.

EUFRANOR. So sage ich, daß ich keinen Begriff davon habe, wie ein Mahler oder Bildner es anfangen sollte, um den Platonischen Eros, den nichts als das selbstständige Urschöne befriedigen kann, symbolisch darzustellen: den Aristippischen hingegen getraue ich mir so gut zu mahlen, daß er keinen Zettel aus dem Munde nöthig haben soll, um für das, was er ist, erkannt zu werden. Ich würde ihn, fürs erste, als einen schönen, ewigjugendlichen Genius schildern: denn mit Platons Amor, der weder schön noch häßlich ist, mag ich als Mahler nichts zu schaffen haben; hingegen finde ich sehr schicklich, daß der Liebhaber der Schönheit selbst schön sey. Nur würde ich ihn so darzustellen suchen, daß es dem sinnigen Anschauer sogleich bemerklich würde, er empfange seinen schönsten Glanz von dem geliebten Gegenstand, und verschönere sich selbst im Anschauen desselben. Um dieß, so weit die Schranken der Kunst es verstatten, bewirken zu können, und zugleich anzudeuten, daß dieser Amor gleichsam vom bloßen Anschauen des Schönen lebe, und ohne alle Begierde sich völlig daran ersättige und darin ruhe, würde ich ihm die himmlische Venus nicht in einer mit mancherley prächtigen und reitzenden Gegenständen ausgeschmückten Gegend weder des Olympus noch der Erde, sondern in einem den ganzen Raum ausfüllenden leeren und dunkeln Gewölk erscheinen lassen; so daß alles Licht allein von der Göttin ausginge, und den in ihrem Anschauen verlornen oder vielmehr sich selig fühlenden Genius dergestalt anstrahlte und verklärte, daß seine Schönheit bloß ein Widerschein der ihrigen zu seyn schiene. Dieß ist alles (freylich wenig genug) was ich von der Idee, die jetzt vor meiner Seele schwebt, anzudeuten vermögend bin; ausgesprochen kann sie nur durch die wirkliche Darstellung werden –

LAIS. Und du getrauest dich dessen, sagtest du? Ich werde dich beym Wort nehmen, Eufranor!

EUFRANOR. Und ich lasse mich dabey nehmen, wenn du mir dagegen dein Wort giebst, daß die schönste Sterbliche, die ich kenne, das Modell meiner Venus Urania seyn soll.

LAIS. Alles was ich dir versprechen kann, ist, daß die Schuld nicht an mir liegen soll, wenn dein Bild nicht zu Stande kommt. – Und so hätten wir denn Hoffnung, durch die That bewiesen zu sehen, daß die Kunst sich mit Aristipps Amor besser behelfen könne als mit dem Platonischen. Aber was die Realität betrifft, möchten sie einander wohl wenig vorzuwerfen haben. Denn eine Liebe ohne Begierde, eine Liebe die vom bloßen Anschauen lebt, und der Gegenliebe rein entbehren kann, möchte doch wohl in dieser untermondlichen Welt eben so gut ein Hirngespenst seyn, als die Liebe zu einem Urschönen, das weder in den Begriff noch in die Sinne fällt.

PRAXAGORAS. Diesen Ausspruch, schöne Lais, erwartete ich billig von einem so hellen und richtigen Blick, wie der deinige, und unfehlbar hängt auch Aristipp nicht so fest an seinem idealischen Amor, daß er uns nicht ehrlich gestehen sollte, daß mit solchen, auf die Schneide einer mathematischen Linie getriebenen Abstrakzionen weiter nichts gewonnen wird, als die Gewißheit, daß es gar keine Liebe unter dem Monde gebe.

ARISTIPP. Der Vorwurf des Praxagoras würde mich treffen, wofern ich sagte, ich kenne einen Menschen, der ein schönes Weib, oder auch nur eine schöne Bildsäule, einen schönen Wagen mit zwey milchweißen thrazischen Pferden, oder irgend ein schönes Ding in der Welt, sein Lebenlang vor sich sehen könnte, ohne jemahls von der leisesten Begierde es zu besitzen angewandelt zu werden. Gewiß giebt es schwerlich einen solchen Sterblichen. Aber darauf wird bey Unterscheidung der Liebe von der Begier keine Rücksicht genommen; denn da ist es bloß darum zu thun, jedem das seinige zu geben, dem Eros was der Liebe, dem Pothos was der Begierde zukommt. Daß es etwas zwar nicht unmögliches, aber gewiß sehr seltenes unter den Sterblichen ist, jenen ohne diesen zu sehen, geb' ich nicht nur zu, sondern find' es der Natur sehr gemäß. Indessen ist doch eben so wenig zu läugnen, daß es von jeher unter Blutsverwandten, unter Freunden, ja sogar unter Liebenden in der engern Bedeutung des Worts, an Beyspielen reiner uneigennütziger Liebe, selbst an solchen, wo der Freund dem Freunde, der Liebende dem Geliebten die größten Opfer ohne alle Rücksicht auf eigenen Vortheil oder Lohn zu bringen willig ist, nie gefehlt hat noch künftig fehlen wird: und wer so weit gehen wollte, das innerliche Vergnügen, das von dergleichen Gesinnungen und Handlungen unzertrennlich ist, für das geheime eigennützige Triebrad derselben zu erklären, da es ihm doch ewig unmöglich wäre, sein Vorgeben nach der Schärfe zu beweisen, würde mit ungleich besserm Fug zu tadeln seyn, als Plato, wenn er die Begriffe des Schönen, Wahren, Rechten u. s. f. durch Abscheidung von allem Fremdartigen zum höchsten Grade der Feinheit zu treiben sucht.

EUFRANOR. Meine Kunstverwandten wußten bisher nur von Einem eigentlichen großen Amor, der Cyprischen Göttin Sohn, den sie gewöhnlich mit dem Bogen in der Hand, und einem Köcher voll starkbekielter Pfeile auf dem Rücken, bilden; aber dafür stehen uns der kleinen Amorinen, seiner jüngern Brüder, so viele zu Diensten als wir gelegenheitlich nöthig haben. Sollte nicht, nach diesem Beyspiel und einem Wink, den uns Aristipp bereits gegeben, zu Folge, zur Erklärung aller der unzähligen Abartungen, Widersprüche mit sich selbst, Verwandlungen, Thorheiten und losen Streiche, die man dem armen Amor zur Last legt, das bequemste seyn, statt eines einzigen Eros Pandemos oder Pothos, (der, um sich zu gleicher Zeit und an so vielen Orten in so mancherley Gestalten zu zeigen, ein größerer Zauberer als der alte Proteus oder die Empuse unsrer Kinderwärterinnen seyn müßte) so viele kleine Liebesgötter anzunehmen, als es verschiedene Arten und Abarten der Liebe giebt, so daß eigentlich jedermann seinen eigenen hätte, und keiner von ihnen für die Narrheiten und Ausschweifungen eines andern verantwortlich gemacht werden dürfte?

NEOKLES. Der Einfall scheint mir glücklich; nur möchte ich ohne Maßgabe vorschlagen, den Eros nie mit seinem Stiefbruder Pothos zu verwechseln, sondern ihm (da er doch nicht ohne Gegenliebe ausdauern kann) bloß seinen Zwillingsbruder Anteros zum Gespielen zu geben; die ganze Brut der Amorinen aber nicht für Brüder des Pothos, sondern für seine Kinder zu erklären, die er mit den Nymfen Afrosyne, Aselgeia und andern ihres gleichen, zum Theil auch mit der Bettlerin Penia, welche von besonders fruchtbarer Natur seyn soll, in die Welt gesetzt haben könnte.

PRAXAGORAS. Darf ich, ohne der Freyheit und Willkührlichkeit eines Symposischen Gesprächs zu nahe zu treten, meine Gedanken von dem unsrigen sagen; so dünkt mich, Plato habe uns unvermerkt mit seinem Hang zum Symbolisieren und Allegorisieren angesteckt, und so sey es auch uns ergangen wie ihm, daß nehmlich aus allen den schönen Sachen, die diesen Abend über die Liebe vorgebracht worden sind, zuletzt doch kein Resultat erfolgt, und wir aus einander gehen werden, ohne die wahre Auflösung des Problems gefunden zu haben. Wie, wenn mir erlaubt würde, die Sache bey einem andern Ende anzufassen, und – da wir doch alle wissen, daß die Liebe weder ein Gott noch ein Dämon, weder Uraniens, noch Polymniens noch Peniens Sohn, sondern eine menschliche Leidenschaft und die fysische Wirkung gewisser Triebe und Neigungen unsrer aus Thier und Geist sonderbar genug zusammengesetzten Natur ist, – zu sehen, was es aus diesem Gesichtspunkt für eine Bewandtniß mit ihr habe? – Was von ihr auf Rechnung des sympathetischen Instinkts der beiden Androgynischen Hälften zu setzen, was hingegen bloß aus dem unsrer edlern Natur wesentlichen reinen Wohlgefallen am materiellen, geistigen und sittlichen Schönen zu erklären sey; und endlich, welche von den Symptomen und Wirkungen, die ihr zugeschrieben werden, auf die Verantwortung andrer selbstsüchtiger Leidenschaften kommen, die sich öfters zu ihr gesellen, und (wie z. B. der Ehrgeitz oder die Eifersucht) nicht nur ihre eigene Energie verstärken, sondern sogar ihre Natur dergestalt überwältigen, daß sie, aus der sanftesten, geschmeidigsten und humansten, die unbändigste und grausamste aller Leidenschaften wird. Auf diesem Wege, däucht mich –

LAIS IHM LÄCHELND INS WORT FALLEND. Würdest du uns, lieber Praxagoras, unfehlbar zu einer sehr gründlichen und vollständigen Filosofie der Liebe verhelfen; aber für ein kleines anspruchloses Symposion, wie dieses, möchte, wie du selbst siehest, eine solche Operazion fast zu ernsthaft und methodisch scheinen, zumahl da die Nacht schon weit vorgerückt ist. Gefällt es Euch, so will ich unsre bisherige Unterhaltung mit einem Milesischen Mährchen schließen, welches ich unmittelbar aus der Quelle selbst, nehmlich aus dem Mund einer der mährchenreichsten Ammen in Milet geschöpft habe, und woran ihr wenigstens – die Kürze sehr preiswürdig finden werdet. Mich ließ die Milesische Amme nicht so leicht davon kommen.


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