Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Ich wurde von ihm mit seiner gewohnten Humanität aufgenommen; doch richtete er Anfangs die Rede selten an mich, ließ nur zuweilen einen ziemlich scharfen Blick auf mich fallen, und setzte übrigens das Gespräch fort, worin er, da ich ihm vorgestellt wurde, mit seinen meistens noch jungen Freunden begriffen war. Aber als ich es für Zeit hielt mich wieder wegzubegeben, nahm er mich bey der Hand und sagte: ich höre du gedenkst dich einige Zeit zu Athen aufzuhalten, um zu sehen, zu hören und zu lernen was bey uns Sehens, Hörens und Lernens werth ist. Du wirst dessen von aller Art manches finden; des Gegentheils vielleicht noch mehr. Um desto weniger getäuscht zu werden, thut ein Fremder bey uns wohl, wenn er sein Urtheil zurückhält und etwas mißtrauisch gegen die ersten Eindrücke ist. Gefällt es dir in meiner Gesellschaft, so stehts bey dir, so oft um mich zu seyn als andere deines Alters, die mir ihr Zutrauen geschenkt haben und durch meinen Umgang besser zu werden glauben. Ich weiß wenig, wiewohl ich einen Theil meines Lebens mit Forschen zubrachte. Wo ich nicht weiter kann, behelfe ich mich mit dem, was mir das wahrscheinlichste dünkt; denn immer in Zweifeln schweben, ist für einen besonnenen Menschen ein unerträglicher Zustand; indessen reiche ich mit dem wenigen, worüber ich gewiß bin, ziemlich aus, und halte mich desto fester daran. Meine Freunde haben ein Recht an alles, wodurch ich ihnen nützlich werden kann. Ich lasse mich gerne fragen, frage aber auch gern wieder, und hab' es aus langer Erfahrung, daß dieß die kürzeste und sicherste Art ist, einander auf die Spur der Wahrheit zu helfen.« – Ich bat ihn, mich als einen Jüngling zu betrachten, der das Schöne und Gute liebe, und in beiden das Wahre, und vornehmlich das Band, das beide zusammen schlinge, durch ihn kennen zu lernen hoffte. Er schien mit dem, was ich ihm sagte, nicht unzufrieden, und ich denke, so muß einem Liebhaber, der von seiner Geliebten scheiden muß, zu Muthe seyn, wie mir's war, da ich mich von diesem zauberischen alten Mann entfernte.

Ich habe mir, so nah als möglich an dem Häuschen des Sokrates, eine kleine Wohnung bey einem ehrsamen Bürger gemiethet, der einer von den fünf bis sechs tausend Richtern dieser prozeßreichen Republik ist, und da er wenig Vermögen hat, und (nach hiesiger Bürgersitte) zu vornehm ist ein Handwerk zu treiben, ohne sein tägliches Triobolon mit seiner zahlreichen Familie sehr kümmerlich leben müßte. Da vielleicht zwey Drittel der Attischen Bürger sich in dem nehmlichen Falle befinden, so erklärt sich daraus, warum du in dieser Republik, worin das Volk der Gesetzgeber ist, unter drey bis vier Bürgern immer unfehlbar einen Richter, nehmlich ein Mitglied der zehn großen Gerichtshöfe dieser wundervollen Republik findest, und warum alles darauf angelegt ist, das Prozeßfieber, womit die Athener sammt und sonders – den Sokrates und etliche seiner Freunde ausgenommen – behaftet sind, zu nähren und unheilbar zu machen. Das Leben eines Attischen Bürgers ist ein immerwährender Rechtsstreit, und, die Festtage abgerechnet, vergeht kein Tag im ganzen Jahr, daß er nicht entweder als Richter oder als Partey, oder als Anwald oder als Zeuge, mit einem Rechtshandel beschäftigt ist. Wer diesem Übel abhelfen wollte, würde dem größten Theil der Athener ihr tägliches Brot entziehen. Vermuthlich ist dieß auch die wahre Ursache, warum eine unbeschreibliche Geläufigkeit der Zunge (sie nennens Stomylie) und eine gewisse angeborne Wohlredenheit und Begierde sich selbst reden zu hören, ein so allgemeiner Karakterzug dieses über allen Begriff lebhaften Volkes ist.

Du wirst dich, wie ich sehe, schon daran gewöhnen müssen, lieber Kleonidas, daß ich nicht lange in meinem Wege fortgehen kann, ohne bald auf diesen bald auf jenen Gegenstand zu stoßen, der mich zu einer kleinern oder größern Abschweifung verleitet. Insofern ich dir nur keine Langeweile mache, wird es dir übrigens gleichviel seyn, was für einen Weg ich dich führe, da meine Briefe bloße Spaziergänge für dich sind.

Ich denke meinem Vorsatz, eine Zeitlang auf dem Sokratischen Fuß, d. i. ein wenig armselig zu leben (wiewohl mich der letzte Brief meines Vaters auf einmahl um fünf hundert Minen reicher gemacht hat) so lange getreu zu bleiben – als ich es aushalten kann. Bis hierher geht es noch gut. In der That für einen Kosmopoliten ist nichts nothwendiger, als auf alle Fälle mit zwey bis drey Obolen des Tages auskommen zu können, wiewohl es zu müssen vielleicht nie mein Fall seyn wird.

Ich sehe und höre den Sokrates alle Tage, und habe, außer seinen Freunden oder eigentlichen Anhängern, noch wenig Bekanntschaften gemacht; doch soll auch dieß mit der Zeit anders werden. Für jetzt ist mein Hauptzweck, den merkwürdigsten aller Menschen so lange zu beobachten und zu studieren, bis ich ihn ganz zu kennen und zu verstehen glaube.

Ein einziges Mahl habe ich in dieser Zeit mit Sokrates einem großen Gastmahl bey einem Athenischen Kalokagathos von der ersten Klasse beygewohnt; wo einem Cyrener die Mischung von Üppigkeit und Pracht mit übel verhehlter Armuth und Knauserey nicht anders als auffallend seyn mußte. Reich scheinen zu wollen, so wie überhaupt mehr zu scheinen als sie sind, ist eines der karakteristischen Erbübel der Cekropiden; dafür, daß niemand mehr reich sey, haben die Spartaner gesorgt, und es wird eine Reihe von Jahren dazu gehören, bis Athen sich von den Folgen ihres mißlungenen Anschlags auf Sicilien, und des so unglücklich für sie ausgefallenen Peloponnesischen Verheerungskrieges erhohlt haben wird.

Sokrates galt ehmahls für einen sehr angenehmen Tischgesellschafter, und viele der vornehmsten Athener würden ein festliches Gastmahl für unvollständig gehalten haben, wenn Sokrates dabey gefehlt hätte. Jetzt pflegt er eine solche Einladung nur selten anzunehmen. Ziemlich oft hingegen geschieht es, daß seine Freunde Abends in seinem Hause speisen, indem jeder sein Gericht hinschickt; eine in Athen gewöhnliche und meines Erachtens sehr nachahmungswürdige Art, den Abend in auserlesener Gesellschaft ohne Belästigung des Hauswirths zuzubringen; vorausgesetzt, daß das Höchste was eine Schüssel kosten darf, durch gemeinschaftliche Abrede nach einem sehr frugalen Maßstabe bestimmt sey. Diese kleinen freundschaftlichen Symposien sind durch die genialische Art, wie Sokrates Ernst und Scherz bald abzuwechseln, bald in einander zu schmelzen weiß, für mich wenigstens, die unterhaltendste und sogar die lehrreichste Zeit, die ich in seiner Gesellschaft zubringe.


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