Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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II.
An Lais.

Ich bin dir, Dank sey den Göttern, wieder so nahe, meine schöne Freundin, als es die stolze Minervenstadt »dem reichen mit schönen Kindern prangenden Vorhof des Isthmischen Poseidons« ist.Eine Anspielung auf Pindars Ολβιαν Κορινθον, Ισθμιου προθυρον Ποσειδανος αγλαοκουρον, im dreyzehnten Olympischen Siegesgesang. Anspielungen dieser Art kommen in diesen Briefen so häufig vor, daß man es, aus dem schon vormahls angeregten Grunde, bey Bemerkung der gegenwärtigen lassen will. Im Grunde thut freylich, wenn man einander nicht mit den Armen oder wenigstens mit den Augen erreichen kann, eine halbe Parasange für den Augenblick so viel Wirkung als ein halb Tausend: aber die Vorstellung, daß ich jetzt nur zwey Tage brauche, um in deinen Armen zu seyn, ist doch etwas ganz anderes, als der trübselige Gedanke, daß eine ganze Odyssee voll Länder, Gebirge, Ströme und Meere zwischen uns liegt; was noch vor wenig Monaten der Fall deines landstreichenden Freundes war. Doch dieß ist nun hinter mir, und mit jedem Mondeswechsel rückt der Augenblick näher, der mich, wenn du anders noch Ebendieselbe für mich bist, für die Entbehrungen von fünf langen Jahren entschädigen wird. Ich lass' es nicht fehlen, täglich die andächtigsten Gelübde an den mächtigen Erderschütterer abzuschicken; und mit welchem Zauber auch die neuaufgefrischten Reitze der schönen Athenä, deiner einzigen Nebenbuhlerin, auf mich wirken mögen, dießmahl soll mich gewiß nichts verhindern, auf der Veilchenbank deines stillen Myrtenwäldchens den Nachtigallen an deinem Busen zuzuhören.

Übrigens gesteh' ich gern, daß der Aufenthalt zu Athen nach einer so langen Abwesenheit wieder große Annehmlichkeiten für mich hat. Ich lebe auf einem ganz hübschen Fuß, und mache doch einen so mäßigen Aufwand, daß ich mit dreyhundert Drachmen des Monats reichlich auszulangen gedenke. Wenn du dich des Repphuhns für funfzig Drachmen noch erinnerst, so wirst du hoffentlich meiner Frugalität das gebührende Lob nicht versagen, wiewohl sie in Vergleichung mit der Genügsamkeit eines Plato, und dem täglichen Triobolon des Antisthenes noch immer den Vorwurf der Üppigkeit verdient, der mir von den geschwornen Anhängern der Nothfilosofie gemacht wird. Ich würde mich leicht darüber trösten, wenn mir diese Herren nur von Zeit zu Zeit die Ehre erweisen wollten, sich zur Abwechslung mit einem kleinen Symposion in Cyrenischem Geschmack von mir beköstigen zu lassen: aber da sie (den einzigen Äschines ausgenommen) zu einer so großen Herablassung zu stolz sind, so muß ich mich, wenn ich Gesellschaft haben will, schon mit Tragischen Dichtern, Komödienmachern, Mahlern, Bildnern, Musikern, Kaufleuten, Seefahrern, reisenden Fremden und dergleichen, behelfen, und befinde mich, wie du mir gerne glauben wirst, nicht desto schlimmer dabey.

Indessen lass' ich mich weder durch die kalte Höflichkeit deines Günstlings Plato, noch die wolkenversammelnden Augenbrauen und die gerümpfte Nase des schmutzigen Antisthenes abschrecken, die Spaziergänge der Akademie und das Cynosarges öfters zu besuchen, und ich habe dieser Herablassung zwey gleich sonderbare und interessante, wiewohl sehr von einander abstechende Bekanntschaften zu danken; die eine mit einem ausgemachten, übrigens sehr verständigen und witzigen – Narren; die andere mit einem jungen Hermafroditen, der entweder eine Art von Platonischem Androgyn, oder (was ich eher glauben möchte) weder mehr noch weniger als – ein verkleidetes Mädchen ist. Es wird dir vielleicht nicht unangenehm seyn, Laiska, wenn ich auch dich ein wenig näher mit diesen Merkwürdigkeiten des Cynosarges und der Akademie bekannt mache.

Beym zweyten oder dritten Besuch, den ich dem alten Antisthenes abstattete, fand ich einen jungen Mann von Sinope bey ihm, der seine schmale Lebensweise Anfangs vermuthlich aus bloßer Noth nachgeahmt haben mochte, sich aber bey der Unabhänglichkeit, die sie ihm verschaffte, so wohl befand, daß er den Sokratism in diesem Stücke noch weiter treibt, als Antisthenes selbst, und sich nicht wenig damit weiß, daß er alle seine Bedürfnisse in einem kleinen Quersack immer mit sich trage. – »Und was meinst du, fragte er mich lachend, was in meinem Quersack ist? – Ein hölzerner Becher, eine halbe Metze Wolfsbohnen, und ein alter schwarzgebrannter etwas gebrechlicher Napf aus der Verlassenschaft der königlichen Bettler des Euripides. Ich gestehe, vor wenig Tagen war ich noch um einen Haarkamm reicher, der aber einen Zacken weniger hatte, als eine meiner Hände! Die besten Gedanken kommen uns wie durch Eingebung. Bin ich nicht ein Thor, dacht' ich, indem ich von ungefähr meine Finger überzählte, daß ich, im Besitz eines Paars zehnmahl bequemerer und zierlicherer Kämme, womit mir die Natur selbst ausgeholfen hat, mich noch mit einem so armseligen Kunstwerkzeug schleppen mag? Fort damit, in den Ilissus!«

Diese seltsame aber genialische Laune, die mit zu viel Frohsinn gepaart ist, um geheuchelt zu seyn, und von der menschenfeindlichen Rohheit eines Timons, und dem grämlichen Ernst des runzligen Antisthenes gleich stark absticht, würde mich anreitzen, die Freundschaft dieses jungen Mannes zu suchen, wenn ihm sein Stolz nicht in den Kopf gesetzt hätte, daß die Freundschaft eines Menschen meiner Art für Seinesgleichen nur ein eufemisches Synonym von Schmarotzerey und Unterwürfigkeit sey. Ich versuchte es einsmahls, ihn zu einem sehr frugalen, ächt sokratischen Abendessen einzuladen. »Wenn ich keine Wolfsbohnen mehr in meinem Quersack finde, lade ich mich von freyen Stücken bey dir ein,« war seine Antwort. Wir sehen uns also nur zufälliger Weise. Vor einigen Tagen traf ich ihn bey einem Brunnen an, da er eben Wasser aus seiner hohlen Hand schlürfte. »Wer sollte gedacht haben, sagte er zu mir, daß ein Lehrling des weisen Antisthenes durch einen Betteljungen noch weiser werden könnte? Es sind noch nicht zwey Stunden, daß ein geborner Filosof aus dieser Zunft mich von der Entbehrlichkeit meiner hölzernen Trinkschale überzeugt hat. Ich habe sie, fuhr er lachend fort, dem vierzähnigen Kamm in den Ilissus nachgeschickt.« – Was fehlt wohl diesem Narren, um reicher und glücklicher zu seyn als ein König?

Nun auch etwas von meinem neuentdeckten Hermafroditen. Als ich die Akademie, wo Plato sich nicht selten öffentlich hören läßt, zum ersten Mahle besuchte, zog ein schöner Jüngling meine Augen auf sich, der kaum siebzehn Jahre zu haben schien, und sich immer, so nah er konnte, zu Speusippus hielt. Man sagte mir, er nenne sich Kleofron, sey der Sohn eines Bildhauers von Sicyon, und, von einer heftigen Liebe zur Filosofie entbrannt, nach Athen gekommen, wo er jetzt einer von Platons eifrigsten Schülern sey.

Der junge Mensch, wie er merkte daß ich ihn aufmerksamer als andere betrachtete, schlug seine großen rabenschwarzen Augen so mädchenhaft erröthend nieder, daß mich sogleich ein Zweifel anwandelte, ob der vergebliche Kleofron nicht etwa die schöne Lasthenia seyn könnte, mit welcher Speusipp (wie du mir vor geraumer Zeit schriebst) in deinem Hause Bekanntschaft gemacht hatte. Was mich in dieser Vermuthung bestätiget, ist der Umstand, daß von allen Freunden und Anhängern Platons gerade sein Neffe der einzige ist, der sich (wiewohl mit einiger Behutsamkeit) um meine Freundschaft zu bewerben scheint. Seit kurzem hat auch der schöne Kleofron angefangen sich mir zu nähern; er ist sogar mit Speusipp in meine Gallerie gekommen, um die Gemählde zu besehen, von welchen (wie er sagte) in Athen so viel gesprochen werde. Er machte einige Bemerkungen, welche stark nach der Quelle schmeckten, woraus er sie geschöpft hatte; besonders schien er bey dem Bilde des unglücklichen Kleombrot mit Nachdenken und Rührung zu verweilen. Wenn dieser Sicyonische Knabe, wie ich nicht länger zweifele, deine Lasthenia ist, so muß ich ihr das Zeugniß geben, daß sie der von dir empfangenen Bildung durch ihre Sittsamkeit nicht weniger Ehre macht, als durch die Lebhaftigkeit ihres Geistes. Auch benimmt sie sich in allem mit so vieler Besonnenheit und Gewandtheit, daß ihr Geschlecht von niemand, der nicht, wie ich, schon vorher auf der Spur ist, so leicht entdeckt werden dürfte, in so fern sie nur eine gute Ausrede bey der Hand hat, sich den Übungen auf der Palästra zu entziehen. Plato wenigstens scheint nicht den mindesten Argwohn zu hegen, und die Liebe seines Neffen zu dem schönen Knaben um so weniger zu mißbilligen, da beide, der Liebhaber und der Geliebte, erklärte Verehrer des Systems der begeisterten Diotima sind, von welcher sein Sokrates die subtile Theorie der übersinnlichen Knabenliebe (die er der Tischgesellschaft des gekrönten Dichters Agathon so redselig vorträgt) in seiner Jugend gelernt zu haben vorgiebt. Daß dieser Speusipp ein kleiner Heuchler ist, brauche ich dir nicht zu sagen; im übrigen rechtfertigt er alles, was du mir von seiner Liebenswürdigkeit angerühmt hast, vollkommen, und ich gefalle mir sehr in seinem Umgang; zumahl da ich dadurch Gelegenheit erhalte, mit dem Geiste der Filosofie seines Oheims und mit seiner geheimen Lehre noch bekannter zu werden.

Übrigens bestätiget mich jeder Besuch, den ich in der Akademie und dem Cynosarges abstatte, in der schmeichelhaften Meinung, daß, wofern ich mich je entschließen sollte, mein Bißchen Weisheit der Welt ebenfalls auf öffentlichen Straßen, Marktplätzen und Hallen, oder in Gärten, Gymnasien und Hainen aufzudrängen, es sich am Ende leicht finden dürfte, daß der üppige, von seinen ehmahligen Kameraden ausgeschlossene und bey jeder Gelegenheit hämisch angestochene Aristipp von Cyrene, alles gehörig zurechte gelegt, noch immer der ächteste unter allen Sokratikern ist.

Diese Zeit ist vielleicht nicht mehr weit entfernt. Ich fühle daß mir zu einer völlig behaglichen Existenz nichts abgeht, als eine bestimmte Beschäftigung, und die angenehme Selbsttäuschung, daß ich der Welt zu etwas nütze sey. Ich habe seit zehen Jahren viel gesammelt, in der That mehr als ich für meinen eigenen Bedarf nöthig habe. Ich muß mich des Überflüssigen entladen, und andern mittheilen, was ich entweder für mich selbst nicht brauche, oder was man mittheilen kann, ohne selbst ärmer zu werden. Indem ich andere lehre, bringe ich meinen eigenen Vorrath alles dessen, was ich durch Erfahrung, fremden Unterricht, Reisen, Forschen und Nachdenken erworben habe, in bessere Ordnung, sehe was davon für mich selbst und andere brauchbar ist, und werde im Grunde nur desto reicher, je mehr ich wegzugeben scheine. Ich melde dir dieß vorher, damit du dich nicht gar zu sehr entsetzest, wenn dir zu Ohren kommen sollte, Aristipp mache zu Athen den Sofisten, und habe einen Haufen offner Geelschnäbel, die sich von ihm ätzen lassen, um sich her so gut als ein anderer. Auf alle Fälle wirst du, hoffe ich, das Beste von mir denken, und mir zutrauen, daß ich niemanden Kohlen für Gold verkaufen werde.

Wie nahe mir auch zuweilen meine Einbildungskraft unser Wiedersehen vor die Augen rückt, so kann ich mir doch nicht verbergen, daß bis dahin noch fünf ganze Monate mit schweren bleyernen Füßen vorüber kriechen werden. Wie betrügen wir einen so langen zwischen uns liegenden Zeitraum? Deine Briefe allein, beste Laiska, könnten ihn verkürzen, indem sie ihn in eben so viele kleinere theilten, durch welche ich, in stetem Wechsel von Erwartung und Genuß, wie von einer kleinen Insel zur andern, über diesen langweiligen Sund hinüber schwimmen würde.


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