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Wenn ein Jüngling, der so glücklich ist ein Athener und dein Sohn zu seyn, an irgend einem Ort in der Welt in Gefahr kommen könnte, zu erfahren was den Gefährten des edeln Laertiaden bey den Lotofagen begegnete,
Lotos pflückend zu bleiben und abzusagen der Heimat,
so müßt' es, denke ich, zu Cyrene im Hause unsers edeln Gastfreundes Aristippus seyn, wo ich bereits vom dritten Frühling überrascht werde, ohne recht zu wissen, wie mir so viele Zeit zwischen den Fingern, so zu sagen, durchgeschlüpft ist. Nicht als ob ich mir selbst so Unrecht thun wollte, liebe Mutter, die Besorgniß bey dir zu erregen, daß ich sie übel angewandt hätte; was freylich bey den Menschen, mit welchen ich lebe, nicht wohl möglich gewesen wäre: aber gewiß ist, ich befand mich von allen Seiten so wohl, hatte so viel zu sehen, zu hören, zu lernen, zu üben, zu schicken und zu schaffen, und das alles unter dem mannigfaltigsten Genuß immer abwechselnder Vergnügungen, daß ich mich auch nicht eines einzigen Tages besinnen kann, der mir nicht zu kurz gedäucht hätte.
Cyrene ist in der That eine Stadt, die selbst ein geborner Athener schön finden muß; nicht ganz so groß noch so volkreich als Athen, aber doch beides genug, um nach Karchedon die ansehnlichste Stadt an den Küsten Libyens zu seyn. Ihre Lage ist sehr anmuthig, noch mehr durch den Fleiß und Geschmack der Einwohner als von Natur; denn die Stadt scheint in einem einzigen unübersehbaren, trefflich angebauten Garten zu liegen. Nichts übertrifft die Fruchtbarkeit des Bodens; alle Arten von Früchten gelangen hier zu einem Grad von Vollkommenheit, wovon man in unserm rauhern Attika keinen Begriff hat.
Die Bürger von Cyrene sind überhaupt ein guter Schlag Menschen; eben nicht so fein geschliffen und abgeglättet als unsre Athener, aber auch nicht so hart, um so vieler Politur nöthig zu haben. Gutmüthigkeit, Gefälligkeit und Frohsinn sind ziemlich allgemeine Züge im Karakter dieses Volks; sie lieben (wie alle Menschen) das Vergnügen, aber mit einer eigenen, in ihrer Sinnesart liegenden Mäßigung; sie wollen lieber weniger auf Einmahl genießen, um desto länger genießen zu können; und dieß ist vermuthlich die Ursache, warum ich hier so viele Greise gesehen habe, die mir das Bild des weisen Anakreons, so wie er sich selbst in seinen kleinen Liedern darstellt, vor die Augen brachten.
Aristipp und Kleonidas haben unvermerkt auf den Geist und Geschmack ihrer Mitbürger eine Wirkung gemacht, deren Einfluß auf das gesellige Leben, die öffentlichen Vergnügungen und vielleicht selbst auf die bisherige Ruhe dieses kleinen Staats nicht zu verkennen ist. Auch genießen beide die allgemeine Achtung ihrer Mitbürger so sehr, daß selbst auf mich eine Art von Glanz davon zurück fällt, und mir als ihrem Freund und Hausgenossen überall mit Auszeichnung begegnet wird. Ich hoffe mich keiner allzu großen Selbstschmeicheley bey dir verdächtig zu machen, wenn ich hinzu setze, daß die Grazien (denen ich, nach Platons Rath, fleißig opfre) auch den Cyrenerinnen günstige Gesinnungen für mich eingeflößt zu haben scheinen. Man sieht zwar hier, wie zu Athen, die Frauen und Jungfrauen der höhern Klassen nur bey öffentlichen religiösen Feyerlichkeiten in großer Anzahl beysammen; aber so bald jemand in einem guten Hause auf dem Fuß eines Freundes steht, erhält er dadurch auch die Vorrechte eines Anverwandten, und wird, in so fern sein Betragen die von ihm gefaßte günstige Meinung rechtfertigt, von dem weiblichen Theil der Familie eben so frey und vertraut behandelt als ob er selbst zu ihr gehörte.
Du zweifelst wohl nicht, liebe Mutter, daß ich mir diese Cyrenische Sitte in dem Hause, worin ich das Glück habe zu leben, aufs Beste zu Nutze zu machen suche, und ich hoffe du wirst dereinst finden, daß mir der freye Zutritt, den ich bey Kleonen und Musarion habe, für die Ausbildung meines Geistes und mein Wachsthum in der Kalokagathie, in welcher ich erzogen bin, wenigstens eben so vortheilhaft gewesen ist, als der tägliche Umgang mit den vortrefflichen Männern, an welche mich mein Vater empfohlen hat. Unläugbar sind diese beiden Frauen unter den liebenswürdigsten, deren Cyrene sich rühmen kann, eben so ausgezeichnet als es ihre Männer unter ihren Mitbürgern sind; und ich gestehe dir offenherzig, es ist ein Glück für mich, daß ich beide zu gleicher Zeit kennen gelernt habe, und, da sie beynahe unzertrennlich sind, beide immer beysammen sehe. Ohne diesen Umstand würde es mir, glaube ich, kaum möglich gewesen seyn, ungeachtet sie die Blüthenzeit des Lebens bereits überschritten haben, von der Leidenschaft nicht überwältiget zu werden, welche mir jede von ihnen, hätte ich sie allein gekannt, unfehlbar (wiewohl gewiß wider ihren Willen) angezaubert hätte. Du wirst über mich lächeln, gute Mutter; aber, wie wunderlich es auch klingen mag, ich schwöre dir bey allen Göttern, ich könnte sie nicht reiner und heiliger lieben, wenn sie meine leiblichen Schwestern wären; und doch fühle ich zuweilen, daß ich in Kleonen, wenn keine Musarion, und in Musarion, wenn keine Kleone wäre, bis zum Wahnsinn verliebt werden könnte. Bloß dadurch, daß beide zugleich so stark auf mich wirken, erhalten sie mein Gemüth in einer Art von leiser Schwebung zwischen ihnen, die ich beynahe Gleichgewicht nennen möchte. Kurz, weil ich beide liebe, so – liebst du keine, wirst du sagen; und im Grunde glaube ich selbst, daß für diese seltsame Art von Liebe ein eigenes Wort, das unsrer Sprache fehlt, erfunden werden müßte. Was mich auf alle Fälle beruhigt, ist, daß ich Aristipp und Kleonidas zu meinen Vertrauten gemacht habe. Diesem sage ich alles was ich für seine Schwester, jenem alles was ich für Musarion empfinde. Beide sind mit mir zufrieden; sie selbst sowohl als ihre Frauen gehen mit mir wie mit einem jüngern Bruder um, so unbefangen, so traulich und herzlich, daß sie mich unvermerkt gewöhnt haben, mich dafür zu halten. Darf ich dir alles gestehen, meine Mutter? – und warum sollt' ich nicht, da ich nichts zu bekennen habe, worüber ich erröthen müßte? Jede der beiden Frauen hat eine Tochter, die ich, wenn sie auch an sich selbst weniger reitzend wären, um der Mutter willen lieben würde. Aber hier bedarf es keines solchen Beweggrundes; die Töchter sind in einem so hohen Grade liebenswürdig, daß sogar ihre Mütter (wenigstens in meinen Augen) durch sie verschönert werden. Melissa, Musarions Tochter, soll an Gestalt und Gesichtsbildung der berühmten Lais ähnlich seyn; und wirklich besitzt Kleone ein Bild der letztern, worin alle, die es zum ersten Mahle sehen, Melissen zu erkennen glauben. Ich selbst wurde beym ersten Anblick getäuscht; aber als ich das Bild genauer mit ihr verglich, sah ich, daß Melissa – vielleicht nicht ganz so schön ist, aber etwas noch sanfter anziehendes und, wenn ich so sagen kann, dem Herzen sich einschmeichelndes hat, welches sie ihrer Mutter ähnlicher machen würde, wenn es nicht mit den Zügen der schönen Lais so zart verschmolzen wäre. Diese wunderbare Vermischung, wodurch sie, je nachdem man sie von einer Seite ansieht, bald Musarion bald Lais scheint, giebt ihr etwas so eigenes, daß ihr jede Vergleichung Unrecht thut; einen Zauber, der mich unwiderstehlich an sie fesseln würde, wenn nicht Kleonens leibhaftes Ebenbild, ihre einzige Tochter (einen holden dreyjährigen Knaben hat ihr Aurora entführt) die liebliche Arete, neben ihr stände, und durch die zierlichste Nymfengestalt, und die Vereinigung aller Grazien der holdesten Weiblichkeit mit dem stillen Ausdruck eines edeln Selbstgefühls mich etwas empfinden ließe, wofür ich keinen Nahmen habe; eine Art von Anmuthung, die nichts leidenschaftliches, aber etwas unbeschreiblich inniges hat, und die Gewalt der magischen Reitze ihrer schwesterlichen Gespielin so lieblich dämpft – daß ich (wiewohl ohne mein Verdienst) bis jetzt noch immer Herr von mir selbst geblieben bin, und zwischen Arete und Melissa ungefähr eben so in der Mitte schwebe, wie zwischen Kleone und Musarion.
Ich bin es zu sehr gewohnt, nichts geheimes vor einer so gütigen und nachsichtvollen Mutter zu haben, als daß ich meine Bekenntnisse nicht vollständig machen sollte. Da ich die Freundschaft kannte, die schon so lange zwischen meinem Vater und Aristipp, so wie zwischen dir und Musarion besteht, so mußte der Gedanke an die Möglichkeit einer engern Verbindung unsrer Familien um so natürlicher in mir entstehen, da ich in den äußern Umständen kein erhebliches Hinderniß sehen konnte. Es zeigte sich aber bald nach meinem Eintritt in das Aristippische Haus, daß Melissa, welche bereits das dreyzehnte Jahr zurück gelegt hat, meinem neuen Freund Kratippus, Aristipps Bruderssohne, und die holdselige Arete, welche vier Jahre weniger als ihre Base hat, von der Wiege an einem Sohne des Kleonidas zugedacht ist. Ein Glück für mich, daß mir dieses Verhältniß, welches für die beiden Kinder selbst noch ein Geheimniß ist, bey Zeiten entdeckt wurde. Indessen hätte ich die Tochter Kleonens jedem andern streitig gemacht, als einem Sohn von Musarion und Kleonidas. Überdieß zeigten mir beide Mütter so viele Freude an dem Gelingen ihres Plans und an der täglich sichtbarer werdenden Sympathie ihrer Kinder, daß ich eher einen Tempel zu berauben oder mein Vaterland zu verrathen, als das häusliche Glück dieser schönen Seelen zu stören vermöchte. Glaube nicht, ich dünke mir dieser Selbstbezähmung wegen ein großer Tugendheld; dazu kommt sie mich in der That zu leicht an. Eine Familie wie diese, worin Männer, Frauen und Kinder, jedes in seiner Art so äußerst liebenswürdig, alle wie von einer einzigen gemeinschaftlichen Seele belebt, so zufrieden, so einmüthig, so glücklich in sich selbst und eines in dem andern sind, werde ich in meinem Leben schwerlich wieder finden. Mir ist ich lebe in einer kleinen idealischen Republik, worin ich durch den bloßen Geist der Liebe diese reine Zusammenstimmung realisiert sehe, welche Plato in der Seinigen vergebens durch die mühsamsten Anstalten und die unnatürlichsten Gesetze zu erzwingen hofft. Der müßte ein Ungeheuer seyn, der, in der Mitte so edler und guter Menschen lebend, und so freundlich von ihnen in ihren Kreis aufgenommen, die Harmonie, die das Glück ihres Lebens macht, durch irgend einen vorsetzlichen Mißklang zu unterbrechen fähig wäre!
Ich kann es mir nicht versagen, liebe Mutter, noch Einmahl zu Kleonen zurück zu kommen; dieser Einzigen, in welcher Alles was ich für eine Schwester und Freundin, für die Gattin des würdigsten Mannes, und selbst für eine Mutter fühlen kann, mit dem, was eine noch junge Frau, die von Afroditen mit jedem Reitz und von den Musen mit ihren schönsten Gaben ausgestattet wurde, einem empfänglichen, aber nicht unbescheidenen Jüngling einzuflößen vermag, in einer mir selbst beynahe wunderbaren Mischung zusammen fließt. Zu dem Allem kommt noch zuweilen eine Art von heiligem, ich möchte sagen religiösem Gefühl, wie ich glaube, daß mir zu Muthe wäre, wenn ein überirdisches Wesen in aller Glorie, die ein irdisches Aug' ertragen kann, aber mit dem Ausdruck von Huld und Wohlwollen, plötzlich vor mir stände. Wie oft ist mir in solchen Augenblicken eingefallen, was Plato in einem seiner Dialogen von der unaussprechlichen Liebe sagt, welche die Tugend in uns entzünden würde, wenn sie uns in ihrer eigenen Gestalt sichtbar werden könnte!
Einer der schönsten und seltensten Züge im Karakter dieses vortrefflichen Weibes ist die Vereinigung einer immer gleichen Heiterkeit, welche nah an Frohsinn, selten an Fröhlichkeit grenzt, mit einem sanften Ernst, der über dem reinen Himmel ihrer Augen wie ein durchsichtiges Silberwölkchen schwebt. Seit einiger Zeit scheint dieser Ernst zuweilen (doch nur wenn sie unbemerkt zu seyn glaubt) in ein stilles Brüten über düstern Gedanken übergegangen zu seyn; auch haben Musarion und ich einander die Wahrnehmung mitgetheilt, daß sie, wiewohl in kaum merklichen Graden, blässer und magerer wird, von den zahlreichen rauschenden Gesellschaften (die in diesem gastfreyen Hause nicht selten sind) mehr als sonst ermüdet scheint, und überhaupt, wo sie kein Aufsehen zu erregen befürchtet, sich gern ins Einsame zurück zieht. Musarion glaubt in diesen und andern kleinen Umständen Zeichen einer langsam abnehmenden Gesundheit wahrzunehmen, und verdoppelt daher ihre Aufmerksamkeit und Sorgfalt für die geliebte Schwester, ohne jedoch weder Aristipp noch Kleonidas in Unruhe zu setzen, welche, von Kleonens gewohnter Heiterkeit und Munterkeit getäuscht, von allem dem nichts gewahr werden, worüber wir selbst uns vielleicht aus allzu sorglicher Liebe täuschen. Denn manches kann vorübergehende Ursachen haben; und besonders scheint ihre Liebe zur Einsamkeit eine natürliche Folge davon zu seyn, daß sie sich aus der Bildung der jungen Arete das angelegenste ihrer Geschäfte macht; denn selten oder nie findet man sie ohne ihre Tochter allein.
Dieser Tage machte mich ein Zufall zum unbemerkten Zeugen einer Scene, die ein unauslöschliches Bild in meiner Seele zurück gelassen hat. Es traf sich, daß Aristipp mit einem merkwürdigen Fremden, der sich seit kurzen hier aufhält, einen kleinen Abstecher ins Land machte. Da jedes im Hause seinen Geschäften oder Erhohlungen nachging, lockte mich die Schönheit des Abends bey halb vollem Mondschein in eine abgelegnere Gegend der Gärten die das Landhaus, wo wir uns aufhalten, umkränzt. Unvermerkt führte mich ein schmaler Pfad in die Nähe eines kleinen von Cypressen und duftreichen Gebüschen eingeschloßnen, mit Moos bewachsnen Platzes, den die älterliche Liebe dem Andenken ihres in der Kindheit verstorbenen einzigen Sohnes widmete. Selbst ungesehn erblicke ich hier Kleonen, an den Aschenkrug des kleinen Klearists zurück gelehnt, auf einer Stufe des marmornen Denkmahls sitzen, den Kopf auf den linken Arm gestützt, die Augen mit sanft traurigem Lächeln auf den Mond, der so eben über den Cypressen aufging, wie auf die Scene einer himmlischen Erscheinung geheftet. Ihr bis zu den Füßen herab gefloßnes weißes Gewand, die Blässe ihres schönen Gesichts, und die kalte Marmorweiße des Arms, worauf sie sich stützte, das Unvermuthete des Anblicks, und die schauerliche Stille des Orts, Alles vereinigte sich meine Besonnenheit zu überraschen. Ich glaubte Kleonens Schatten zu sehen und schauderte zusammen; aber zu allem Glück blieb mir der unfreywillige Ausruf, der mir entfahren wollte, in der Kehle stecken. Einen Augenblick darauf hört' ich ein Rascheln durchs Gebüsch, und die kleine Arete an der Hand ihres vermeinten Bruders Kallias kam von der andern Seite, mit lautem Rufen, da ist sie! da ist sie! auf die geliebte Mutter zugeflogen, welche sie schon lange im ganzen Garten gesucht hatten. Es war ein entzückender Anblick für mich, wie sie die holden Kinder, jedes mit Einem Arm umschlingend, an ihren Busen drückte, und wie schnell das süße Muttergefühl für die Lebenden die kurz zuvor so bleichen Lilienwangen mit warmen Blut aus dem überwallenden Herzen durchströmte. Eine heilige Ehrfurcht hielt mich in den Boden gewurzelt und band meine Zunge. Kleone stand ohne mich entdeckt zu haben auf, nahm die fröhlich hüpfenden Kinder an beide Hände, und verschwand in wenigen Augenblicken.
Ich werde zwar frey zu dir zurück kehren, liebe Mutter; aber du wirst Mühe haben in Athen eine Jungfrau zu finden, die mich meiner lieben, wiewohl leider! nicht für mich gebornen, Cyrenerinnen vergessen machen könnte.