Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Stelle dir, sagt er zu Glaukon, die Menschen vor, als ob sie in einer Art von unterirdischer Höhle wohnten, die von oben herein weit offen, bloß durch den Schein eines großen auf einer entfernten Anhöhe brennenden Feuers erleuchtet wird. In dieser Gruft befinden sie sich, von Kindheit an, am Hals und an den Füßen dergestalt gefesselt, daß sie sich weder von der Stelle bewegen, noch den Kopf erheben und herum drehen können, folglich, gezwungen immer nur vor sich hin zu sehen, weder über noch hinter sich zu schauen im Stande sind. Zwischen dem besagten Feuer und den Gefesselten geht ein etwas erhöhter Weg, und längs desselben eine Mauer, ungefähr so hoch und breit als die Schaugerüste, auf welchen unsre Gaukler und Taschenspieler den Zuschauern ihre Wunderdinge vorzumachen pflegen. Nun bilde dir ferner ein, du sehest neben dieser Mauer eine Menge Menschen mit und hinter einander auf der besagten Straße daher ziehen, welche allerley Arten von Geräthschaften, Statüen und hölzerne oder steinerne Bilder von allerley Thieren auf alle mögliche Art gearbeitet, auf dem Kopfe tragen, so daß alle diese Dinge über die Mauer hervorragen. Glaukon findet dieses ganze Gemählde etwas abenteuerlich, und scheint nicht errathen zu können, wo Sokrates mit seinen Gefesselten, die er in eine so seltsame Lage setzt, hinaus wolle. Gleichwohl, fährt dieser fort, sind sie unser wahres Ebenbild. – Aber bevor er diese Behauptung seinem staunenden Lehrling klar machen kann, muß er die natürlichen Folgen entwickeln, welche die vorausgesetzte Lage für die Gefesselten haben müßte. Fürs erste, sagt er, werden sie, da sie unbeweglich vor sich hinzusehen gezwungen sind, weder von sich selbst und denen, die neben ihnen sind, noch von allen den Dingen, die hinter ihnen vorbey ziehen, sonst nichts erblicken können als die Schatten, die auf die gegenüber stehende Wand der Höhle fallen. Ferner werden sie, Falls sie mit einander reden könnten, den Schatten die Nahmen der Dinge selbst beylegen; und wofern im Grund ihrer Höhle ein Echo wäre, welches die Worte der (ihnen unsichtbaren) Vorbeygehenden wiederhohlte, würden sie sich einbilden, die Schatten, welche sie vor sich sehen, brächten diese Töne hervor. Sie würden also unstreitig nichts anders für das Wahre halten, als die Schatten der vorbesagten Geräthschaften und Kunstwerke. Glaukon bejaht alles dieß ohne Widerrede, sogar mit einem großen Schwur; und Sokrates geht desto getroster weiter. Siehe nun auch, sagt er, wie sie zugleich mit ihren Fesseln von ihrer Unwissenheit entbunden würden, wenn die Natur sie von jenen befreyen wollte. Gesetzt also Einer von ihnen würde los gebunden und genöthigt plötzlich aufzustehen, den Kopf umzudrehen, zu gehen und zum Licht empor zu schauen, so ist kein Zweifel, daß ihm alles dieß Anfangs sehr sauer werden müßte, und daß ihn das ungewohnte Licht blenden und unvermögend machen würde, die Dinge gewahr zu werden, deren Schatten er vorher gesehen hatte. Was meinst du nun daß er sagen würde, wenn ihn jemand versicherte, was er bisher gesehen habe, sey eitel Tand, und jetzt erst habe er wirkliche und dem Wahren näher kommende Gegenstände vor den Augen; und wenn man ihm dann eines der vorübergehenden nach dem andern mit dem Finger zeigte und ihn zu sagen nöthigte was es sey, würde er nicht verlegen seyn, und die zuvor gesehenen Schatten für wahrer halten als was ihm itzt gezeigt wird?

GLAUKON. Ganz gewiß.

SOKRATES. Und wenn man ihn zwänge in das Feuer selbst hinein zu sehen, würde er nicht, weil ihm die Augen davon schmerzten, das Gesicht sogleich wegwenden und auf die Schatten zurück drehen, die er ohne Beschwerde anschauen kann, und die er eben deswegen für reeller halten würde, weil er sie deutlicher sähe als die im Licht erblickten Gegenstände?

GLAUKON. Nicht anders.

SOKRATES. Wenn man ihn nun vollends mit Gewalt und über Stock und Stein aus seiner Höhle heraus an das Sonnenlicht hervor zöge, würde er nicht während der Operazion gewaltig wehklagen und ungehalten seyn, und so wie er an die Sonne selbst gekommen wäre, vor lauter Glanz von allem, was wir Andern wirkliche Dinge nennen, nichts sehen können?

GLAUKON. So plötzlich gewiß nichts.

SOKRATES. Es wird also, wenn ein solcher Mensch die Dinge hier oben sehen soll, Zeit erfordert werden, bis er sich allmählich daran gewöhnt. Was seine Augen Anfangs am leichtesten ertragen, werden die bloßen Schatten seyn; hernach die Bilder von Menschen und andern Dingen im Wasser, zuletzt diese Dinge selbst. Aber was am Himmel zu sehen ist, und den Himmel selbst, wird er lieber Nachts bey Mondenschein und Sternenlicht, als bey hellem Tag im Sonnenglanze sehen wollen.

GLAUKON. Daran ist kein Zweifel.

SOKRATES. Nach und nach aber wird er es doch endlich so weit bringen, daß er auch die Sonne, nicht bloß ihr Bild im Wasser oder ihren Widerschein in andern Körpern, sondern sie selbst, wie sie ist, und an der Stelle, wo sie sich befindet, anzublicken im Stande seyn wird.

GLAUKON. Das ist nicht anders möglich.

SOKRATES. Und nun wird er auch durch Überlegung und Vernunftschlüsse herausbringen, daß es die Sonne sey, welche das Jahr und die Wechselzeiten desselben ordnet, über allem in der sichtbaren Welt waltet und gewisser Maßen die Ursache alles dessen ist, was sie zuvor sahen?

GLAUKON. Offenbar muß er von diesem auf jenes geleitet werden.

SOKRATES. Und wenn er sich nun seines vorigen Aufenthalts, und des Begriffs, den man sich dort von der Weisheit macht, und seiner armen Mitgefangenen erinnert, wird er nicht sich selbst der mit ihm vorgegangenen Veränderung wegen glücklich preisen, und die letztern hingegen bemitleiden?

GLAUKON. O gar sehr!

SOKRATES. Und wofern, bey diesen, Lobsprüche, Ehrenstellen und Belohnungen für denjenigen Statt fanden, der die vorbeygleitenden Schatten am deutlichsten sah, sich der Ordnung, in welcher sie auf einander gefolgt oder neben einander erschienen waren, am genauesten erinnerte, und wie es künftig damit seyn würde am besten vorher sagen konnte: meinst du Jener würde diese Vortheile vermissen, oder diejenigen beneiden, die bey ihnen geehrt werden und die Oberhand haben, oder er würde nicht lieber (wie Homer den Schatten des Achilles sagen läßt) einem »armen Söldner das Feld als Tagelöhner bestellen,« und lieber alles erdulden als in seinen vorigen Zustand zurück kehren?

GLAUKON. Er würde, denke ich, sich eher alles andere gefallen lassen, als wieder dort zu leben.

SOKRATES. Gesetzt aber, er müßte wieder in die Höhle herabsteigen und seinen alten Platz wieder einnehmen, würde es ihm, wenn er so auf Einmahl aus der Sonne ins Dunkle käme, nicht zu Muthe seyn, als ob er in die dickste Finsterniß versetzt worden sey?

GLAUKON. Nichts gewisser!

SOKRATES. Und wenn er dann, bevor er den Gebrauch seiner Augen wieder erlangt hätte (wozu einige Zeit erforderlich seyn würde) von den besagten Schatten wieder Kenntniß nehmen und sich mit den andern Gefesselten darüber streiten müßte, würde er ihnen nicht lächerlich scheinen? würden sie nicht sagen, er wäre durch sein Hinaufsteigen in die obere Gegend um sein Gesicht gekommen; und es sey nicht zulässig, daß man auch nur versuche hinauf zu kommen, und wofern sich jemand unterfinge einen von ihnen zu entfesseln und hinauf zu führen, müßte man ihn greifen und mit dem Tode bestrafen? –

GLAUKON. Unfehlbar; mit nichts geringeren als dem Tode.

SOKRATES. Machen wir nun, lieber Glaukon, die Anwendung von diesem ganzen Bilde auf das, was wir vorhin gesagt haben. Die unterirdische Höhle bedeutet diese sichtbare Welt; das Feuer, wovon sie beleuchtet wird, die Sonne; das Aufsteigen in die obere Gegend und was dort geschehen wird, die Erhebung der Seele in die intelligible Welt. Wenigstens ist dieß meine Vorstellungsart, weil du sie doch zu hören verlangt hast. Ob sie aber die wahre ist, mag Gott wissen! Genug, mir meines Orts kommt die Sache so vor, wie ich dir sage. Das Höchste in der intelligibeln Welt ist die Idee des Guten, zu deren Anschauen schwer zu gelangen ist. Wer aber dazu gelangt ist, kann nicht anders als den Schluß machen, daß sie die Grundursache alles dessen sey was recht, schön und gut ist, indem sie in dieser sichtbaren Welt das Licht und den Beherrscher desselben hervor gebracht, in der geistigen hingegen, deren unmittelbare Beherrscherin sie ist, die Wahrheit und den reinen Verstand erzeugt; und daß es also schlechterdings nöthig ist sie zu kennen, um in irgend einem öffentlichen oder besondern Wirkungskreise recht zu handeln.

GLAUKON. Ich denke hierüber wie du, so viel mir immer möglich ist.

SOKRATES. So stimme mir denn auch darin bey, daß es kein Wunder ist, wenn diejenigen, die von dannen herabkommen, keine Lust haben, sich mit den menschlichen Dingen abzugeben, sondern von ganzem Gemüth dahin trachten, sich in jener erhabenen Region immer aufzuhalten. Denn es kann, unserm vorigen Bilde gemäß, nicht anders seyn.

GLAUKON. Das folgt ganz natürlich. –

Hieran mag es genug seyn, lieber Eurybates! und nun erwartest du vermuthlich meine Meinung von diesem Allem? Aber was kann ich dir darüber sagen? Es ist schwer in solchen Dingen überall eine Meinung zu haben. Das Gewisseste, was ich davon sagen kann, ist, daß meine Vorstellungsart so verschieden von der Platonischen ist, als die Grundsätze, von denen wir ausgehen. Wer von uns Recht hat, mag Gott wissen, möchte ich beynahe mit seinem Sokrates sagen. Und doch dünkt mich, wenn ich Alles mit ganz nüchternem Muth überlege, der allgemeine Menschenverstand, oder der allen Menschen einwohnende Sinn für das, was uns Wahrheit ist, spreche ziemlich entschieden für meine Grundsätze. Aber Plato denkt von den seinigen noch vornehmer; denn sie scheinen ihm so gewiß zu seyn, als daß Eins = Eins ist; wofern wir also nicht etwa den Delfischen Gott zum Schiedsrichter nehmen wollen, wer soll zwischen uns Richter seyn?

Übrigens scheint Plato die Schwierigkeiten, die sein dichterisches Lehrgebäude drücken, sehr gut zu kennen. Daher die Vorsicht, jede seiner unerweislichen Voraussetzungen durch andere eben so luftige zu unterstützen; wie ein Dichter, um ein erstes Wunderding glaublich zu machen, immer ein zweytes und drittes in Bereitschaft haben muß. Wir wollen, zum Beyspiel, in Betreff der vorliegenden Allegorie so höflich seyn als sein guter Bruder Glaukon, und über alle die ungereimten Voraussetzungen, ohne welche sie nicht bestehen kann, hinaus gehen; aber das wird uns doch zu fragen erlaubt seyn müssen: was die armen Gefangenen verbrochen haben, daß sie an Hals und Füßen gefesselt ihr Leben in dem häßlichen unterirdischen Kerker damit zubringen müssen, unverwandt vor sich hin zu gucken, und, weil sie nichts als Schatten zu sehen bekommen, sie gezwungner Weise für reelle Dinge anzusehen? – Du erinnerst dich vielleicht, daß er die Antwort auf diese Frage schon lange in seinem Fädrus bereit hält. Allerdings, sagt er, haben sie durch ein sehr schweres Verbrechen eine so harte Buße verdient. – Aber zum Unglück finden wir uns, wenn wir ihm auch diese Ausrede, als auf eine ihm besser als uns bekannte Thatsache gegründet, gelten lassen wollen, genöthigt abermahls zu fragen: wie die Idee des Guten (die er zur Grundursache alles Wahren, Rechten und Schönen macht) recht und wohl daran thue, diese Verbrecher mit einer Strafe zu belegen, wodurch ihnen ein fortdauernder Zustand von Unwissenheit und Irrthum unvermeidlich und alles Aufstreben ins Reich der Wahrheit unmöglich gemacht wird? Ich sehe nicht was er antworten kann, um seine Idee des Guten von dem Vorwurf zu retten, daß sie, gleich den Göttern unsrer Dichter, kein Bedenken trage, diejenigen, die sich gegen sie vergangen haben, aus Rache in unfreywillige Irrthümer und Verbrechen zu verwickeln, bloß um einen neuen Vorwand zu erhalten, mit den armen Unglücklichen noch grausamer verfahren zu können.

Diesen und einer Menge anderer Klippen und Untiefen, zwischen welchen die Platonische Filosofie, unter beständiger Gefahr zu scheitern oder auf dem Sande sitzen zu bleiben, sich durcharbeiten muß, entgehen wir andern ächten Sokratiker freylich durch den großen Grundsatz unsers Meisters: bloß über die menschlichen Dinge menschlich zu filosofieren, und die göttlichen, als über unsern Verstand gehend, unbesorgt den Göttern zu überlassen: aber wir bekennen uns dadurch auch zu einer Unwissenheit, die uns mit den ungelehrtesten Idioten in eine Reihe stellen würde, wenn wir nicht wenigstens dieß voraus hätten, daß wir die Ursachen kennen, warum diese Unwissenheit unvermeidlich ist. Dessen ungeachtet läugne ich nicht, daß der Hang alles, was um, über und unter uns ist, ergründen zu wollen, – wiewohl er sich nur bey wenigen außerordentlichen Menschen in seiner ganzen Stärke zeigt – dennoch eines der Merkmahle zu seyn scheint, wodurch sich der gebildete und seiner Vernunft mächtig gewordene Mensch von dem bloßen Thiermenschen unterscheidet. Er gehört zu dem ewigen Streben ins Unbegrenzte, welches das große Triebrad der unbestimmbaren Vervollkommnung ist, deren höchstem Punkte das Menschengeschlecht sich in einer Art von unermeßlichen Spirallinie langsam und unvermerkt anzunähern scheint. Werden wir jemahls dieses Ziel erreichen? Oder bewegen wir uns (wie der Ägyptische Hermes gesagt haben soll) in einem Zirkel, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umkreis nirgends ist? Und ist vielleicht gerade dieß die einzige Möglichkeit, wie wir uns immer bewegen, d. i. nie zu seyn aufhören können? – Auch die Natur, Freund Eurybates, hat in ihren großen Mysterien unaussprechliche Worte, die wir entweder nie erfahren werden, oder welche der, dem sie sich enthüllte, nicht verrathen könnte, weil es ihm an Worten fehlen würde sich andern verständlich zu machen? Befände sich jemahls ein Sterblicher in diesem glücklichen Falle, würde er nicht, wenn er von dem, was unaussprechlich ist, sprechen wollte, genöthigt seyn, seine Zuflucht, wie Plato, zu Bildern und Allegorien zu nehmen? Und da er doch sicher darauf rechnen könnte, mit seinen Offenbarungen von Niemand verstanden, und nur von sehr Wenigen vielleicht, gleich fernen das Ohr kaum noch leise berührenden Tönen, mehr geahnet als gehört zu werden, thät' er nicht eben so wohl, wenn er gar nicht davon spräche? – Aber was hätte da der göttliche Plato zu thun gehabt? – Ich beantworte also jene Frage mit Nein; aber nun auch keine Sylbe weiter!


 << zurück weiter >>