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Du hast wohl gethan, schöne Lais, daß du mich ausdrücklich angewiesen hast, mich über das seltsame Problem, womit dich deine gelehrte Tischgesellschaft neulich unterhalten hat, ernsthaft vernehmen zu lassen; denn ich gestehe, daß die Frage: »was das höchste Gut des Menschen sey?« in meiner Vorstellungsart etwas lächerliches hat, und daß mir nie eingefallen wäre, sie könnte von so weisen Männern, wie die bärtigen Genossen deiner sofistischen Symposien sind, in wirklichem Ernst aufgeworfen und beantwortet werden. Meine erste Frage bey jeder Aufgabe dieser oder ähnlicher Art, ist: wozu soll's? Bey dieser, dünkt mich, fällt es auf den ersten Blick in die Augen, daß es uns zu nichts helfen könnte, das Höchste zu kennen, da es uns doch, eben darum, weil es so hoch über uns schwebt, unerreichbar ist. In dieser Rücksicht möchte wohl der Äsopische Fuchs, der die Trauben, die ihm zu hoch hingen, für sauer erklärte, mehr praktische Weisheit gezeigt haben, als wir, wenn wir uns die Augen aus dem Kopfe gucken, um in einer so schwindlichten Höhe ein Gut zu entdecken, welches wir mit allen unsern Sprüngen doch nie erschnappen werden. Beym Genuß eines Guten kommt es nicht auf die Größe desselben, sondern auf unsre Empfänglichkeit an. Das erfreulichste aller Dinge, das Licht, ist für den Blinden Nichts; an der festlichsten Tafel des großen Königs kann der gierigste Fresser nicht mehr zu sich nehmen als sein Magen faßt; und einer Mücke kann es gleich viel seyn, ob sie aus einer Muschelschale oder aus dem Ozean trinkt. Du selbst, schöne Lais, hast, indem du mir das Problem vorlegst, mit einem einzigen Aristofanischen Worte verrathen, daß die Unart der Menschen, »die Schnäbel immer nach unerreichbaren Dingen aufzusperren,« dir selbst eben so lächerlich ist als mir. Indessen du willst daß ich ernsthaft von der Sache spreche, und ich gehorche um so williger, da vielleicht am Ende doch ein Resultat herauskommen dürfte, das die Mühe des Weges bezahlt, auf welchem wir es gefunden haben.
Vor allen Dingen also wollen wir uns erinnern, daß die Wörter gut und böse (wie alle andern, welche irgend eine Beschaffenheit oder Eigenschaft, die wir den Dingen zuschreiben, bezeichnen) immer von solchen Gegenständen gebraucht werden, welche nur in ihrer Beziehung auf uns, d. i. unserm Gefühl, unsrer Einbildung oder unserm Urtheil nach, gut oder böse sind. Alles was ist, mag an sich sehr gut seyn; aber das braucht uns nicht zu kümmern, denn es kann uns nichts helfen. Wir haben bloß zu fragen: ob ein Ding uns gut oder böse sey? das ist, ob es uns wohl oder übel bekommen werde. Der Krokodil ist in der Leiter der Naturwesen was er seyn soll, und also in seiner Art so gut als ein anderes Thier; aber für die Anwohner des Nils ist er ein sehr schlimmer Nachbar.
Die Frage, »was ist für den Menschen gut oder böse,« ist also immer eine mehr oder minder verwickelte Aufgabe, bey deren Auflösung das Meiste auf Ort, Zeit und Umstände ankommt. Dasselbe Wasser, das in Fässern und Krügen dem Seefahrer unentbehrlich ist, taugt nichts im Schiffsraum; dasselbe Feuer, das auf dem Herde gut ist unsre Speisen zu kochen, würde in einer angefüllten Scheune großes Unglück anrichten; eben derselbe Trank ist dem Kranken Arzney, dem Gesunden Gift; oder in dieser Krankheit in kleiner Gabe heilsam, in einer andern, und in größrer Porzion genommen, tödtlich. Ich zweifle sehr, oder ich behaupte vielmehr für gewiß, daß man mir im ganzen Umfang der Natur, selbst unter den nützlichsten und unentbehrlichsten Dingen kein einziges nennen könne, das auf andre Weise als unter gewissen Bedingungen und Einschränkungen gut für uns ist. Das nehmliche gilt von allen Beschaffenheiten, Natur- und Glücksgaben, die dem Menschen beywohnen, wie von allen Lagen und Zuständen, worin er sich befindet. Vollkommene Gesundheit (ein so hohes Gut, daß ein König, wenn er von den natürlichen Strafen der Unmäßigkeit gefoltert wird, sie mit der Hälfte seines Reichs zurückzukaufen wünscht) ist für den, der sie mißbraucht, eines der größten Übel. Schönheit, Witz, Talente, Reichthum, hohe Ehrenstellen, Macht, Zepter und Kronen, wie oft haben sie schon ihre Besitzer ins tiefste Elend und Verderben gestürzt? Ist doch sogar das Leben, die erste Bedingung alles Genusses, selbst nur bedingungsweise ein Gut, und wird täglich von vielen Tausenden entweder aus Pflicht oder zu Befriedigung dieser oder jener Leidenschaft in die Schanze geschlagen! Sogar Wahrheit, Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend, wie schön und gut sie sich in der Idee dem Verstande darstellen, sind doch nicht unter allen Umständen und Beziehungen, für jeden Menschen in jeder Bedeutung des Worts, gut. So ist, z. B. nicht gut die Wahrheit zur Unzeit oder auf eine ungeschickte Art zu sagen; so ist nicht jedem gut, alles Wahre zu wissen; so ist möglich, daß ein gerechter Richter mir Unrecht thut, indem er mich nach einem gerechten Gesetze verurtheilt; so ist das höchste Recht zuweilen Unrecht; so giebt es keine Tugend, die für den, der sie ausübt, nicht entweder durch irgend einen äußerlichen Umstand oder durch seine eigene Schuld zu einer Quelle von wirklichen Übeln für ihn selbst und andere werden könnte; so kann was an dem einen Weisheit ist, an einem andern Thorheit seyn, u. s. w. Wenn nun Alles, was die Menschen gut nennen, nur unter gewissen Umständen und Einschränkungen, also nur durch rechten und weisen Gebrauch wirklich gut für uns ist; wenn das Gute unter gewissen Bedingungen zum Übel, und aus gleichem Grunde, das Böse zum Gut werden kann: wird nicht, aller Wahrscheinlichkeit nach, eben dasselbe von jedem höhern, und so endlich auch von dem höchsten Gute gelten? Klingt es aber nicht widersinnig, daß das höchste Gut, bey veränderten Personen und Umständen, das höchste Übel seyn könnte?
Die bisherige Betrachtung scheint uns das glänzende Fantom, dem wir nachgehen, immer weiter aus den Augen gerückt zu haben. Laß uns versuchen, ob wir ihm vielleicht auf einem andern Wege wieder näher kommen werden. Wir suchen das höchste Gut des Menschen. Die erste Frage müßte also seyn: was ist der Mensch? Die Natur stellt lauter einzelne Menschen auf, und es fehlt viel, daß diese nichts als gleichlautende Exemplarien eines und ebendesselben Originals seyn sollten. Der Mensch ist also entweder bloß ein kollektives Wort für die sämmtlichen einzelnen Menschen, vom ersten Paar, das aus dem Schooß der Erde oder des Wassers hervorging, bis zu den letzten, die das Unglück oder Glück haben werden, die nächste, unsrer Welt von den Pythagoräern geweissagte, Verbrennung zu erleben, – oder es bezeichnet einen idealischen Koloß, der aus dem, was alle Menschen gemein haben, gebildet ist, und wovon, nach Plato, der bloße Schatten durch die Ritzen unsers Kerkers in unsre Seele fällt, indeß das Urbild selbst in der intelligibeln Welt der Platonischen Ontoos Ontoon wirklich vorhanden ist. Da ein bloßer Schatten, zumahl der Schatten eines bloß intelligibeln Dinges, ein gar zu dünnes, leeres und flüchtiges Unding ist, um ein brauchbares Resultat zu geben, so werden wir uns wohl an den ersten Begriff halten müssen, der als eine Prosopopöie des ganzen Menschengeschlechts betrachtet werden kann.
Um die Menschen, sowie sie als die regierende Familie im Thierreich wirklich und leibhaft auf dem Erdboden herumwandeln, so viel möglich mit Einem Blick zu übersehen, wollen wir uns, mit deiner Erlaubniß, Laiska, in Gedanken entweder mit dem Trygäus des Aristofanes auf einen Balkon der Jupitersburg, oder auf die höchste Thurmspitze seiner Nefelokokkygia stellen, und dann sehen – was zu sehen seyn wird. Das erste, denke ich, ist die erstaunliche Verschiedenheit dieser sonderbaren Thiere, die man unter dem kollektiven Nahmen Mensch zu begreifen genöthigt ist, da sie, bey der auffallendsten Ungleichheit unter sich selbst, gleichwohl von allen andern Thierarten zu stark abstechen, um zu einer derselben gerechnet werden zu können. Wir sehen einige in kleiner Anzahl, nackend oder nur sehr dürftig bekleidet und mit Bogen, Pfeilen und Spießen bewaffnet, in ungeheuren Wäldern umherschweifen, wo ihr beynahe einziges Geschäft ist, die wilden Thiere zu verfolgen, die ihnen zur Speise und zur Kleidung dienen. Andere finden wir an den Ufern großer Seen beschäftigt, mit Angelruthen oder Netzen dem Wasser einen oft kärglichen Unterhalt abzuverdienen. Wieder andere bringen unter mildern Himmelsstrichen ihr Leben mit Viehzucht und Hütung ihrer Herden hin; und noch andere, genöthigt die geringere Freygebigkeit der Natur durch strenge Arbeit zu ersetzen, sehen wir mit den ersten Anfängen des Ackerbaues, der Gärtnerey, der Baukunst und Schiffahrt beschäftigt. Alle diese verschiedene Menschengeschlechter leben in einer Art von thierischer Freyheit, mehr oder weniger armselig, oft kümmerlich, aber, wenn sie nur nothdürftig zu leben haben, mit ihrem Zustande zufrieden, weil sie keinen bessern kennen.
Was meinst du nun, daß diese Jäger, Fischer, Hirten und Pflanzer, die sich noch glücklich preisen, wenn sie mit mühseliger Anstrengung aller ihrer Kräfte sich des nothdürftigsten Unterhalts für einige Tage oder Monate versichern können, was meinst du, daß sie sich für eine Vorstellung von dem höchsten Gute machen? Frage sie, und du wirst hören, daß ihre üppigsten Wünsche nicht über eine glückliche Bärenjagd, einen starken Fischzug, die Verdopplung ihrer Herden, und eine reichliche Ernte hinausgehen; und erschiene ihnen ein Gott, der es in ihre Wahl stellte, was sie von ihm erbitten wollten, weder ihre Einbildungskraft noch ihre Vernunft würde sie weiter führen, als zu der hohen Glückseligkeit ihr Leben lang ohne Mühe, Gefahr und Arbeit – die Forderungen ihres Magens befriedigen zu können.