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Dieser unzeitige Scherz stimmte sogleich die ganze Gesellschaft auf einen andern Ton. Die Athener erhielten ziemlich zweydeutige Lobsprüche über ihre außerordentliche Gottesfurcht; und da sie eben nicht im Ruf sind, sich durch die Tugenden der Bescheidenheit und Scham unter den Griechen auszuzeichnen, so meinte Learchus, sie hätten wohl gethan, der Anädeia für die guten Dienste, die sie ihnen bey mehr als einer Gelegenheit geleistet, eine Kapelle zu bauen, und sich dadurch ihres Beystandes auf immer zu versichern. Der gute Speusipp, wiewohl er zu viel Urbanität besitzt, um von solchen Scherzen beleidiget zu werden, glaubte doch zuletzt, er müsse sich seiner bedrängten Vaterstadt annehmen, und bemühte sich, uns (etwas ernsthafter als nöthig war) darzuthun: daß es einem so religiösen Volke, wie die Athener von jeher gewesen, zumahl in jenen Zeiten einer noch sehr großen Einfalt der Begriffe und Sitten, keineswegs zu verdenken sey, daß sie sich von einem Mystagogen, der in einem so hohen Ruf der Heiligkeit und Weisheit in den göttlichen Dingen gestanden, wie Epimenides, hätten bewegen lassen, der Hybris und der Anädeia eigene Tempel zu widmen, in der Absicht diese übelthätigen Dämonen dadurch zu besänftigen und zur Schonung zu bewegen; zumahl da die entgegen gesetzten guten Dämonen, Eleos und Aido, bereits öffentliche Altäre zu Athen hatten, und jene, wenn sie vernachlässigt worden wären, eine solche Parteylichkeit sehr ungnädig hätten aufnehmen können. Die Athener (meinte er) befänden sich mit der Göttin Unverschämtheit in dem nehmlichen Falle wie die Spartaner mit ihrem Gotte Furcht, welcher von Alters her sehr andächtig von ihnen verehrt worden sey, ohne daß es jemahls einem Menschen eingefallen, ihre Tapferkeit deswegen in den mindesten Zweifel zu ziehen.
Es wäre nicht artig gewesen, einem Abkömmling des weisen Solon wegen dieser Apologie seiner Mitbürger ins Gesicht zu lachen. Ich versicherte ihn also in unser aller Nahmen, daß wir weit entfernt seyn, diese Sache in einem andern Lichte zu sehen; und da die ganze Gesellschaft zu bedauern schien, daß wir den Gegenstand unsers Gesprächs darüber aus dem Gesichte verloren, setzte ich hinzu: ich würde für meinen unzeitigen Scherz zu hart bestraft seyn, wenn wir des Vergnügens entbehren müßten, zu hören, wie Speusipp, wenn ich recht in seinen Augen gelesen hätte, im Begriff gewesen sey, den Knoten zu entschlingen, der, meines Erachtens, bisher unter unsern Händen eher noch mehr verwickelt als aufgelöst worden. Du mußt wissen, daß dieser Speusipp, einen schwachen Anstrich von Platonischer Pedanterey abgerechnet, ein sehr feiner Jüngling ist, und (unter uns gesagt) ohne meine Schuld einen der Pfeile, welche der Sohn Cytherens aus meinen Augen links und rechts, wohin es trifft, zu schießen beschuldigt wird, ziemlich tief in der Leber stecken zu haben scheint. Ich bin nicht gesonnen zu seiner Heilung den geringsten Aufwand zu machen; sollte aber das Übel gar zu ernsthaft werden, so verlasse ich mich auf die kleine Lasthenia, die seit einiger Zeit die Stelle der schönen Droso bey mir eingenommen, und eine so schwärmerische Liebe für die Platonische Filosofie gefaßt hat, daß Speusipp, wofern er noch einige Tage hier verweilt, nothwendig davon gerührt werden muß. – Doch wieder zur Sache!
Der junge Mann antwortete auf meine Einladung, nicht ohne bis in die Augen roth zu werden, mit aller Grazie und Zuversicht, die du einem Athener und einem Neffen Platons zutrauen wirst. Mich dünkt, fuhr er fort, wir haben uns bisher immer um einen dunkeln Begriff des Schönen, dessen Daseyn wir voraussetzen, herum gedreht, ohne ihm selbst näher gekommen zu seyn. Sinne und Einbildungskraft stellen uns nichts als einzelne Dinge dar, die wir, wenn ihre Gestalt uns gefällt, schön nennen, wiewohl uns immer eines schöner als das andere däucht. Auch die Kunst zeigt uns, sogar in ihren idealisierten Werken, nur einzelne Gestalten, einen Ringer, Wettläufer oder Faustkämpfer, einen Achilles, Ajax oder Ulysses, einen Zeus, Apollo, Merkur, Bacchus u.s.w. nie den Menschen, den Helden oder den Gott, der so schön ist, als Mensch, Held oder Gott gedacht werden kann. Daher sind die Eleer und Athener nie sicher, daß nicht ein Bildner aufstehe, der einen noch schönern Jupiter als ihren Olympischen, eine schönere Afrodite als die des Alkamenes in den Gärten darstelle. Aber wie könnten wir urtheilen, daß irgend ein einzelnes Ding schöner sey als ein anderes in seiner Art, wenn die Idee des allgemeinen Schönen nicht bereits in unsrer Seele läge, welche gleichsam der Maßstab ist, woran wir das einzelne Schöne in der Natur und Kunst messen? Diese Idee ist es was wir suchen, ohne zu wissen daß wir sie schon haben, wiewohl es uns eben darum, weil sie eine Idee ist, an Mitteln fehlt, sie auf eine andere Art sinnlich darzustellen als im Einzelnen, das ist, durch bloße Annäherungen, wobey immer die Möglichkeit eines Schönern bleibt, weil das Schönste, die Idee selbst, im Einzelnen erreichen zu wollen, eben so viel wäre als das Unendliche in einen beschränkten Raum zu fassen.
Also sprach er – und ergetzte sich, wie es schien, an dem Erstaunen, das in unser aller weit offnen Augen zu lesen war. Eine allgemeine Stille ruhte eine Weile auf der ganzen Tischgesellschaft; es war uns allen, denke ich, als ob uns etwas geoffenbaret worden wäre, und wir wunderten uns, allmählich gewahr zu werden, daß wir im Grunde nicht mehr von der Sache wußten als vorher. Epigenes war der erste, der das heilige Schweigen brach. Wir sind dem Speusippus nicht wenig Dank schuldig, (sagte er mit einem Ernst, der das eben ausbrechen wollende Lachen von den Lippen deiner muthwilligen Freundin zurück schreckte) daß er uns einen Blick in die erhabensten Mysterien seines berühmten Oheims thun ließ, und uns das unaussprechliche Wort seiner Filosofie vertraute. Denn die Idee ist der Schlüssel zu allen Geheimnissen der Natur in und außer dem Menschen. – Ich gestehe mit Beschämung, sagte Eufranor, daß dieser Schlüssel mir nichts aufschließt. Ich begreife nichts von einer Idee, die ich in mir trage, ohne zu wissen weder daß ich sie besitze noch wie ich zu ihr gekommen bin, also auch ohne gewiß zu seyn, daß ich sie habe. – Wundert dich dieß, Eufranor? Versetzte der junge Athener lächelnd; du hast also, wie es scheint, nie wahrgenommen, wie vieles in dir ist, dessen Daseyn und Beschaffenheit dir nur durch seine Wirkungen offenbar wird? Die ungelehrtesten Menschen empfinden, erinnern sich des Empfundenen, vergleichen und unterscheiden, bilden sich Begriffe und machen Schlüsse, ohne zu wissen, wie sie dabey zu Werke gehen; und der Gelehrteste weiß im Grunde nicht viel mehr davon als sie. Die Idee des Schönen erweiset sich in dir und in uns allen durch ihre Wirkungen; sie selbst ist so wenig anschaulich, als es z.B. die Kraft ist, mit welcher du urtheilst, ob du zu dem, was du mahlen willst, einen feinern oder gröbern Pinsel nehmen und ihn in diese oder jene Farbenmuschel tauchen sollest. – Es mag vielleicht seyn wie du sagst, erwiederte Eufranor: aber wessen ich sehr gewiß bin, ist, daß ich mich, wenn ich eine Galathea mahlen oder einen Merkur bilden sollte, auf eine Idee, die ich in mir herumtrage, ohne es zu wissen, nicht verlassen dürfte. Daß ich die Verhältnisse und Formen des männlichen und weiblichen Körpers, die bey den Griechen für die schönsten gelten, studiert habe; daß ich genau weiß, wie ein Arm oder Schenkel gestaltet seyn muß, um von jedermann für schön erkannt zu werden, und wie jedes Gliedmaß nebst allen übrigen, die mit ihm in Verbindung stehen, sowohl in Ruhe als in jeder Art von Bewegung und Stellung, aus jedem Gesichtspunkt betrachtet erscheinen muß; daß ich weiß, wie man den Pinsel und den Meissel handhaben muß; daß ich, wenn ich mahle, jedem Gegenstande seine wahre Gestalt, Farbe und Haltung, Karakter und Ausdruck, jedem Theil sein rechtes Verhältniß zu den übrigen, jedem Muskel sein gehöriges Spiel zu geben, Licht, Farben und Schatten richtig und zweckmäßig zu vertheilen, und das Ganze auf seinen gehörigen Ton zu stimmen weiß: alles das sind Dinge, deren ich mir sehr klar bewußt bin, wovon ich Rechenschaft geben kann, und ohne welche ich nichts machen könnte, das des Sehens werth wäre. Auch bin ich mir eben so klar bewußt, wie ich zu dem, was ich weiß und kann, gelangt bin: nehmlich nicht durch den magischen Einfluß einer Idee, die mir selbst unsichtbar ist, sondern durch ämsiges forschendes Betrachten der Natur und der Kunstwerke trefflicher Meister, öfteres Besuchen der Gymnasien und Kampfspiele, hartnäckigen Fleiß, viele Übung, Liebe zur Kunst, und brennenden Wetteifer mit denen, die ich Anfangs nur nachzuahmen suchte. Und was den Maßstab der Grade des Schönen betrifft, wozu bedürfte ich eines andern als der bestimmten Gestalten einer kleinen Anzahl von Personen, die in ihrer Art für vorzüglich schön gelten, und des feinen Gefühls des Gehörigen, Gefälligen und Genugsamen, das durch beständige Übung des Kunstsinns an der Natur selbst erworben wird? Ich habe, wiewohl ich noch nicht dreyßig Jahre zähle, das Schönste gesehen, was in den vornehmsten Städten der Griechen zu sehen ist; aber ich erinnere mich nicht, irgendwo ein Bild eines Gottes, eines Homerischen Helden, einer Göttin oder Nymfe gesehen zu haben, welches (das Konvenzionelle abgerechnet) schöner wäre, als gewisse Personen, die ich kenne. So ist z. B. dieser Faun nach einem jungen Arkadischen Ziegenhirten – dieser Bacchus nach einem sehr schönen Jüngling, mit welchem ich zu Sicyon öfters badete, und die schlummernde Mänas nach einer Sklavin der Frau dieses Hauses gebildet. – Und dieß weißt du so gewiß? fragte Speusipp. – »So gewiß, als daß nicht der berühmte Alexis von Sicyon, wie Lais im Scherz vorgab, sondern der noch unberühmte Eufranor von Korinth diese Gruppe, die du selbst mit deinem Beyfall beehrtest, gearbeitet hat. Hätte ich eine mit dem Gürtel der Venus geschmückte Juno zu mahlen, so weiß ich sehr wohl, an welche sichtbare Göttin ich meine Gelübde richten würde.« In der That, sagte Speusipp mit der attischen Miene, die du als ein Vorrecht der edeln Theseiden kennst, es ist nicht zu läugnen, daß wir ein wenig lächerlich sind, indem wir uns an der Tafel der schönsten Frau in Griechenland die Köpfe darüber zerbrechen was schön sey; denn, welche Bewandtniß es auch mit dieser Frage haben mag, dieß ist gewiß, daß jeder, der Sie sieht, seine höchste Idee der Schönheit in Ihr verkörpert finden wird.
Sobald das Gespräch eine solche Wendung nahm, war es hohe Zeit, ihm ein Ende zu machen. Auf einen Wink, den ich kurz zuvor einer Aufwärterin gegeben hatte, trat in dem Augenblick, da Speusipp das letzte Wort aussprach, die schöne Lasthenia an der Spitze meiner oben erwähnten jungen Nymfen in den Sahl, um die Gesellschaft mit Musik und Tanz zu unterhalten; und bevor eine Stunde vergangen war, glaubte ich zu bemerken, daß meine junge Filosofin den Platoniker (der, wie die Afyen, nur Feuer zu sehen braucht um zu kochen) unvermerkt immer näher an sich zog. Bey euch Männern wird die gefälligste zuletzt immer über die schönste den Sieg erhalten. Es ist ein unglücklicher Vorzug der Weiber, daß die Leidenschaft der Liebe bey ihnen von der Gegenliebe ganz unabhängig und desto hartnäckiger ist, je weniger sie Hoffnung hat erwiedert zu werden.
Ich sehe zu spät, daß ich dir ein Buch statt eines Briefes geschrieben habe. Möchtest du mich mit einem noch größern für meine Unbescheidenheit bestrafen! Sage mir doch ein paar Worte, wie dirs zu Rhodus geht, was du treibst, und ob man hoffen darf, deine ehmahlige Andacht zu dem Erderschütterer Poseidon wieder einst erwachen zu sehen?