Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ich zweifle ob unser alter Freund Hippias selbst diese Lieblingslehre der Sofisten (die übrigens in der Geschichte der Menschen und der Erfahrung nur allzu gegründet ist) deutlicher und scheinbarer hätte vortragen und zierlicher zusammen fassen können, als in der kleinen Rede geschehen ist, welche Plato seinem Bruder Glaukon hier in den Mund legt. Ob aber gleichwohl durch die unserm Filosofen eigene Art, alles aufs höchste zu treiben, den Behauptern der Lehre, »daß der Unterschied zwischen dem, was die Menschen Recht und Unrecht nennen, sich bloß auf einen durch die Noth aufgedrungenen Vertrag gründe,« nicht einiges Unrecht geschehe, dürfte wohl die Frage seyn. »Unrecht thun (sagt Glaukon) ist, nach der gemeinen Meinung, an sich selbst, oder seiner Natur nach gut, Unrecht leiden an sich selbst, übel. Aber aus dem Unrecht leiden entsteht mehr und größeres Unheil, als Gutes aus dem Unrecht thun. Nachdem nun die Menschen einander lange Unrecht gethan und Unrecht von einander erlitten, glaubten die Schwächern, – eben darum, weil die Schwäche, um derentwillen sie alles Unrecht von den Stärkern leiden müssen, sie unvermögend machte, das Vergeltungsrecht an jenen auszuüben, – sich nicht besser helfen zu können, als indem sie in Güte mit einander übereinkämen weder Unrecht zu thun noch zu leiden.« – Auf diese Weise, meint er, seyen die Gesetze und Verträge entstanden, und so habe das durchs Gesetz Befohlene oder Verbotene die Benennung des Rechts oder Unrechts erhalten. Dieß sey also der Ursprung der Gerechtigkeit, und so stehe sie, ihrem Wesen nach, zwischen dem Besten und dem Schlimmsten in der Mitte; denn das Beste wäre, ungestraft Unrecht zu thun, das Schlimmste, Unrecht zu leiden ohne sich rächen zu können. Die Gerechtigkeit werde also nicht geschätzt, weil sie etwas Gutes an sich sey, sondern bloß in so fern sie den Schwächern zur Brustwehr gegen die Beeinträchtigungen der Stärkern diene. Wer sich folglich stark genug fühle, dieser Brustwehr nicht zu bedürfen, werde sich wohl hüten sich in Verträge, andern kein Unrecht zu thun um keines von ihnen zu leiden, einzulassen; denn da er das letztere nicht zu befürchten habe, so müßte er wahnsinnig seyn, wenn er sich des Vortheils, den Schwächern ungestraft Unrecht zu thun, freywillig begeben wollte.«

Ich kann mich irren; aber so weit ich die Sofisten, deren System Plato in diesem zweyten Buche in seiner ganzen Stärke vorzutragen unternommen hat, kenne, scheint er mir, es sey nun vorsetzlich oder unvermerkt, etwas von seiner eigenen Vorstellungsweise in die Darstellung der ihrigen eingemischt zu haben. Ich wenigstens zweifle sehr, ob es jemahls einem Menschen eingefallen ist, zu behaupten: Unrecht thun sey gut an sich. Und was versteht Glaukon, aus dessen Munde Plato hier spricht, unter Unrecht thun? Wenn der Unterschied zwischen Recht und Unrecht erst durch Verträge und verabredete Gesetze bestimmt werden muß, so giebt es in dem Zustande der natürlichen Freyheit, der den gesellschaftlichen Vereinigungen vorhergeht, kein Unrecht. Oder spielt Plato, wie er so gern thut, auch hier mit dem Doppelsinn des Worts adikein, welches sowohl beleidigen, als Unrecht thun bedeutet? Im Stande der natürlichen Freyheit (den ich lieber den Stand der menschlichen Thierheit nennen möchte) beleidige ich den Schwächern, dem ich die Speise, womit er seinen Hunger stillen will, mit Gewalt wegnehme; im Stande der politischen Gesellschaft thue ich ihm dadurch Unrecht, weil das Gesetz alle Beleidigungen verbietet. So verstehen es, meines Wissens, die Sofisten; und wiewohl sie behaupten, daß es dem Menschen, welcher Macht genug hat alles zu thun was ihm beliebt und gelüstet, nicht unrecht sey die Schwächern zu berauben oder zu unterjochen, so bald er Vortheil oder Vergnügen davon zu ziehen vermeint: so hat doch schwerlich einer von ihnen jemahls im Ernste behauptet, Unrecht thun, oder andere beleidigen sey schon an sich selbst, ohne Einschränkung, Bedingung oder Rücksicht auf einen dadurch zu gewinnenden Vortheil, gut, folglich recht thun an sich selbst übel. Sie kennen überhaupt kein Gut noch Übel an sich, sondern betrachten alle Dinge bloß wie sie in der Wirklichkeit sind, d. i. wie sie allen Menschen, in Beziehung auf sich selbst oder auf den Menschen überhaupt, unter gegebenen Umständen scheinen. Im Stande der freyen Natur erlaubt sich (sagen sie) der Stärkere Alles, wozu er durch irgend ein Naturbedürfniß oder irgend eine Leidenschaft, Lust oder Unlust, getrieben wird; aber in diesem Stande giebt es, genau zu reden, keinen Stärkern als für den Augenblick; denn der Stärkste wird sogleich der Schwächste, sobald mehrere über ihn kommen, wiewohl er jedem einzelnen überlegen wäre. Jener angebliche Naturstand ist also ein allgemeiner Kriegsstand, bey welchem sich am Ende, wo nicht Alle, doch gewiß die Meisten so übel befinden, daß sie sich entweder in Güte zu einem gesellschaftlichen Leben auf gleiche Bedingungen verbinden, oder irgend einem Mächtigen gezwungen unterwerfen müssen, falls sie sich ihm nicht aus Achtung und Zutrauen, mit oder ohne Bedingung, freywillig untergeben. In allen dreyen Fällen sind Gesetze, welche bestimmen was sowohl den Regierenden oder Machthabern als den Regierten oder Unterworfenen recht und unrecht ist, nothwendig; denn sogar ein Tyrann, der Alles kann was ihn gelüstet, wird sich, wenn er Verstand genug hat sein eigenes Bestes zu beherzigen, nicht alles erlauben was er kann. Indessen ist nicht zu läugnen, daß der Grundsatz der Sofisten, »die Gerechtigkeit (in so fern die Erfüllung der bürgerlichen Gesetze darunter verstanden wird) sey ein Zaum, den bloß die Nothwendigkeit den Menschen über den Hals geworfen habe, und von welchem jedermann, so bald er es ungestraft thun könne, sich los zu machen suche,« sich als Thatsache auf die allgemeine Erfahrung gründet, und daß die Sokratesse (wofern es jemahls mehr als Einen gegeben hat) noch seltner als die weißen Raben sind. Diese Thatsache ist im Lehrbegriff der Sofisten eine natürliche Folge des Beweggrundes, der die Menschen aus dem freyen Naturstande (wo die Kraft allein entschied, und, weil es noch kein Gesetz gab, Jeder sich alles erlauben durfte was er auszuführen vermögend war) heraustrieb, und in den Stand des politischen Vereins zu treten nöthigte. Jene unbeschränkte Freyheit würde von den Menschen als ihr höchstes Gut angesehen werden, wenn sie nicht, eben darum weil sie nur von dem Stärkern ausgeübt werden kann, die unsicherste Sache von der Welt wäre. Denn welcher Mensch kann sich in einem Stande, wo Einer immer gegen Alle, und Alle gegen Einen sind, nur einen Tag darauf verlassen, der Stärkere zu bleiben? Die eiserne Nothwendigkeit zwingt sie also, wider ihren Willen, zum gesellschaftlichen Verein, als dem einzigen Mittel, ihr Daseyn und jeden daher entspringenden Genuß unter Gewährleistung der Gesetze in Sicherheit zu bringen. Natürlicher Weise aber behält sich jeder stillschweigend vor, die Gesetze (die ihm nur, in so fern sie ihn gegen andere schützen, heilig, aber, in so fern sie seiner eigenen Freyheit Schranken setzen, verhaßt sind) so oft zu übertreten, als er es mit Sicherheit thun kann. Diesem nach wäre denn bey allen, welchen es an Macht gebricht sich öffentlich und ungescheut über Recht und Unrecht weg zu setzen, kein anderer Unterschied zwischen dem gerechten und ungerechten Manne, als daß jener sich nie ohne eine Larve der Gerechtigkeit sehen läßt, die er sich so geschickt anzupassen weiß, daß sie sein eigenes Gesicht zu seyn scheint; dieser hingegen so plump und unvorsichtig ist, sich immer über der That ertappen zu lassen. Darin, daß keiner sich etwas, das ihn gelüstet, versagen möchte, und jeder wo möglich Alles zu haben wünscht, sind sie einander beide gleich.

Da dieß in der That hart klingt, so hält sich Glaukon, im Namen derjenigen, deren Sachwalter er vorstellt, zum Beweise verbunden, und führt ihn sehr sinnreich, vermittelst der Voraussetzung, daß beide, der Gerechte und Ungerechte, wie jener aus dem Herodot bekannte Lydier, (dessen fabelhafte Geschichte Glaukon hier etwas anders als Herodot erzählt) im Besitz eines unsichtbar machenden Ringes wären. Ein solcher Ring würde, dünkt mich, als Probierstein gebraucht allerdings das untrüglichste Mittel seyn, den wahrhaft rechtschaffenen Manne von dem Heuchler zu unterscheiden, aber zu dem Gebrauch, den Glaukon von ihm macht, scheint er nicht zu taugen. Denn indem dieser ganz herzhaft annimmt, daß der Gerechte, so bald er sich im Besitz eines solchen Ringes sähe, nicht um ein Haar besser als der Ungerechte seyn, und alle mögliche Bubenstücke, wozu Lust, Habsucht oder andere Leidenschaften ihn reitzen könnten, eben so unbedenklich verüben wurde als jener, setzt er als etwas Ausgemachtes voraus, was erst bewiesen werden sollte. Wenn auch wir andern gewöhnlichen Leute so überschwänglich bescheiden seyn wollten, einen Zweifel in uns selbst zu setzen, ob wir wohl den Versuchungen eines solchen Zauberringes widerstehen könnten; wer darf nur einen Augenblick zweifeln, daß ein Sokrates durch den Besitz desselben weder an Macht, noch Geld, noch sinnlichen Genüssen reicher geworden wäre?

Indessen, wofern es auch an einzelnen Ausnahmen nicht fehlen sollte, so ist doch nur gar zu wahrscheinlich, daß unter Tausend, die für gute ehrliche Leute gelten, weil sie weder Muth noch Macht haben sich in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, nicht Einer wäre, der mit dem Ring des Gyges nicht die vollständigste Befreyung von allem Zwang der Gesetze zu erhalten glauben würde. Glaukon, (der noch immer im Nahmen derjenigen spricht, denen Recht und Unrecht für bloße Satzung des gesellschaftlichen Vereins und der Machthaber in demselben gilt) ist seiner Sache so gewiß, daß er geradezu versichert: jedermann sey so völlig davon überzeugt, daß die Ungerechtigkeit dem Ungerechten vortheilhafter sey als die Gerechtigkeit, daß, so bald jemand glaube er könne mit Sicherheit Unrecht thun, er es nicht nur ohne alles Bedenken thun werde, sondern sich für den größten aller Thoren und Dummköpfe halten würde, wenn er es nicht thäte. Um sich, sagt er, zu überzeugen, daß einem verständigen Menschen nicht zuzumuthen sey, anders zu denken und zu handeln, brauche es nichts als das Loos zu erwägen, das der Gerechte und Ungerechte im Leben unter den Menschen zu gewarten habe.

So weit hatte Plato seinen Glaukon die Lehre der Sofisten, die er nicht ohne Grund die gemeine Meinung nennt, ziemlich treu und unverfälscht vortragen lassen; aber nun schiebt er ihm wieder unvermerkt seine eigene Vorstellungsart unter, indem er ihn aus der wirklichen Welt, aus welcher sich jene nie versteigen, auf einmahl in seine eigene Ideenwelt versetzt, unter dem Vorwand: das Problem, wovon die Rede ist, könne auf keine andere Weise ganz rein aufgelöset werden. Wir wollen sehen!

Denken wir uns, (sagt der platonisierende Glaukon) um uns den Unterschied zwischen dem gerechten und ungerechten Mann völlig anschaulich zu machen, beide in ihrer höchsten Vollkommenheit, so daß dem Ungerechten nichts was zur Ungerechtigkeit, dem Gerechten nichts was zur Gerechtigkeit gehört, abgehe. Es ist also, um mit dem Ungerechten den Anfang zu machen, nicht genug, daß er immer und bey jeder Gelegenheit so viel Unrecht thut als er kann und weiß; wir müssen ihm auch noch erlauben, daß er, indem er nichts als Böses thut, sich immer den Schein des Gegentheils zu geben und die Meinung von sich fest zu setzen wisse, daß er der rechtschaffenste Mann von der Welt sey; und da es, mit allem dem, doch begegnen könnte, daß auf eine oder die andere Weise etwas von seinen Bubenstücken an den Tag käme, so muß er auch noch Beredsamkeit genug, um sich in den Augen der Menschen völlig rein zu waschen, und im Nothfall, so viel Muth, Vermögen und Anhänger besitzen, als nöthig ist um Gewalt zu brauchen, wenn List und Heucheley nicht hinreichen will. Diesem Bösewicht nun stellen wir den Gerechten gegen über, einen guten, ehrlichen, einfachen Biedermann, der was er ist nicht scheinen will, sondern sich begnügt es zu seyn. Damit wir aber recht gewiß werden, daß ihm nichts zur vollkommnen Rechtschaffenheit abgeht, ist schlechterdings nöthig, daß wir ihn in der öffentlichen Meinung zum Gegentheil dessen machen, was er ist, denn wenn er auch rechtschaffen zu seyn schiene, würden ihm Ehrenbezeugungen und Belohnungen nicht fehlen, und da würde es ungewiß seyn, ob er das, was er schiene, wirklich und aus reiner Liebe zur Gerechtigkeit, oder nur der damit verbundenen Vortheile wegen sey. Wir müssen ihm also Alles nehmen, bis ihm nichts als die nackte Rechtschaffenheit übrig bleibt, und ihn, mit Einem Worte, so setzen, daß er in Allem als das Gegentheil des Ungerechten dastehe. Dieser ist ein ausgemachter Bösewicht und scheint der unbescholtenste Biedermann zu seyn; jener ist sein ganzes Leben durch der rechtschaffenste aller Menschen, und wird für den größten Bösewicht gehalten; geht aber, ohne sich seinen schlimmen Ruf und die Folgen desselben im geringsten anfechten zu lassen, seinen Weg fort, und beharret, wiewohl mit jeder Schande des verworrensten Buben belastet, unbeweglich bey seiner Rechtschaffenheit bis in den Tod. Man kann sich leicht vorstellen, wie es diesen beiden idealischen Wesen, wenn sie verkörpert und ins menschliche Leben versetzt würden, ergehen müßte. »Der Gerechte, sagen die Lobredner der Ungerechtigkeit, wird gegeißelt, auf die Folter gespannt und in Ketten gelegt werden; man wird ihm die Augen ausbrennen, und nachdem er alle nur ersinnliche Mißhandlungen erduldet hat, wird er ans Kreuz geschlagen werden, und nun zu spät einsehen, daß man zwar rechtschaffen scheinen, aber kein Thor seyn muß es wirklich zu seyn. Wie herrlich ist hingegen das Loos des Ungerechten, der die Klugheit hat, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu bringen, und während er sich unter der Larve der Tugend ungestraft alles erlauben kann, für einen rechtschaffnen und verdienstvollen Mann gehalten zu werden? Die höchsten Ehrenstellen im Staat erwarten seiner; er kann heirathen wo er will, und die Seinigen ausgeben an wen er will; jedermann rechnet sichs zur Ehre in Verhältniß und Verbindung mit ihm zu kommen; ihm, dem kein Mittel zu seinem Zweck zu schlecht ist, schlägt alles zum Vortheil an; bey allen Gelegenheiten weiß er andern den Rank abzulaufen, kurz er wird ein reicher und gewaltiger Mann, und ist also im Stande, seinen Freunden nützlich zu seyn, seinen Feinden zu schaden, und die Götter selbst durch häufige Opfer und reiche Weihgeschenke zu gewinnen, so daß er ihnen lieber seyn wird, als der Gerechte, der nichts zu geben hat.«

Ich weiß nicht wie vielen Dank euere Sofisten dem göttlichen Plato für diese Darstellung ihrer Lehre von den Vortheilen der Ungerechtigkeit über die Gerechtigkeit wissen werden; gewiß ist wenigstens, daß es keinem von ihnen je eingefallen ist, die Frage auf diese Spitze zu stellen, und einen gerechten Mann, wie nie einer war, noch seyn wird, noch seyn kann, zu erdichten, um durch Vergleichung des glücklichen Looses des Ungerechten mit dem jammervollen Leben und schrecklichen Ende dieses Rechtschaffnen die Vorzüge der Ungerechtigkeit in ein desto größeres Licht zu setzen. Ich, meines Orts, habe gegen das Ideal des Platonischen Gerechten zwey Einwendungen. Erstens liegt es keineswegs in der Idee eines vollkommen rechtschaffenen Mannes, daß er nothwendig ein Bösewicht scheinen müsse; im Gegentheil, es ist ihm nicht nur erlaubt zu scheinen was er ist, sondern die Rechtschaffenheit selbst legt es ihm sogar als Pflicht auf, bösen Schein, so viel möglich, zu vermeiden. Auch sehe ich nicht, wie er es ohne Nachtheil sowohl seiner Rechtschaffenheit als seines Menschenverstandes anfangen wollte, um von allen den Menschen, welche tägliche Augenzeugen seines Lebens sind, immer verkannt, gehaßt und verabscheuet zu werden. Alle Umstände, alle Menschen, die ganze Natur müßten sich auf die unbegreiflichste Art gegen ihn verschworen, und er selbst müßte sich, unbegreiflicher Weise, unendliche Mühe gegeben haben, seinen Tugenden und guten Handlungen die Gestalt des Lasters und Verbrechens zu geben. Ich zweifle sehr, ob ein einziges Beyspiel aufzustellen sey, daß ein so guter, redlicher und gerechter Mann, wie ihn Plato setzt, ohne alle Freunde geblieben, und von Niemand gekannt, geliebt und geschätzt worden wäre. Überdieß ließe sich noch fragen, ob irgend ein menschenähnliches Wesen, ohne ein Gott zu seyn, die Probe, auf welche unser Ideendichter seinen Gerechten stellt, zu bestehen, und alle Schmach und Marter, die er zu Bewährung seiner Tugend über ihn zusammen häuft, auszuhalten vermöchte. Dieses Ideal ist also, von welcher Seite man es ansieht, ein Hirngespenst und zu der Absicht, wozu Plato es erdichtet hat, ganz unbrauchbar. Denn solcher ungerechter Menschen, wie er bey dieser Vergleichung annimmt, hat es zwar in der wirklichen Welt von jeher nur allzu viele gegeben, einen solchen Gerechten hingegen nie. Wenn sich also auch aus der Vergleichung des einen mit dem andern die Folge ziehen ließe, welche Glaukon daraus zieht, so würde doch dadurch nicht bewiesen seyn, daß die Vortheile, welche der wirkliche Ungerechte von seiner Heucheley erntet, wenn alles, was bey einer scharfen Berechnung in Anschlag kommen muß, ehrlich und redlich angesetzt wird, denen, die der wirkliche Gerechte durch seine Rechtschaffenheit genießt, vorzuziehen wären.


 << zurück weiter >>