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Mir kommt wohl, lieber Eurybates, daß ich nicht so starkglaubig bin als der weise und tapfere Xenofon; denn, trotz meinem erklärten Unglauben an Zeichen und Wunderdinge, Dämonen, Empusen, und an die Gottheit des Nordwindes, wandelt mich doch zuweilen eine Versuchung an, die Hälfte meiner Habe ins Meer zu werfen, um die grießgrämische Göttin Ate zu versöhnen, die nicht leiden kann wenn ein Sterblicher gar zu glücklich ist. Wirklich scheint es, die Götter wollen mich auf die Probe stellen, ob ich Stärke genug habe, bey so vielen Versuchungen zu Üppigkeit und Übermuth der Sokratischen Sofrosyne getreu zu bleiben, und im Genuß des Guten, womit sie mich überschüttet haben, mein Gemüth frey genug zu erhalten, um nicht aus der gehörigen Fassung zu kommen, wenn sichs etwa einst an einem grauen Morgen finden sollte, daß alles, wie ein Zaubergastmahl, wieder verschwunden wäre. – Doch, dieser Gedanke selbst sieht mir so ziemlich einer Eingebung der schelsüchtigen Göttin gleich. Denn was für eine Weisheit wäre das, die ihr Gefühl für das gegenwärtige Gute abstumpfen müßte, um sich zum Voraus gegen künftige Übel unempfindlich zu machen! Die meinige ist die Kunst in guten und bösen Tagen meines Daseyns so froh zu werden, und so wenig zu leiden, als mir möglich ist. Ich betrachte Vergnügen und Schmerz als einen von der Natur gegebenen rohen Stoff, den ich zu bearbeiten habe; die Kunst ist, jenem die schönste, diesem die erträglichste Form zu geben; jenes zu reinigen, zu veredeln, zu erhöhen; diesen, wenn er nicht gänzlich zu stillen ist, wenigstens zu besänftigen, ja (was in manchen Fällen angeht) sogar zu Vergnügen umzuschaffen.
Antipater hat dich ohne Zweifel schon benachrichtigst, daß ich durch meine Vermählung mit der Schwester meines Freundes Kleonidas meinem neuen Bürgerleben in Cyrene die Krone aufgesetzt habe. Ich hätte große Lust dir recht viel davon zu sagen, wie glücklich mich diese Verbindung macht; aber mir ist, mein Dämonion zupfe mich beym Ohr und flüstre mir zu: ein Mann, der eine Art von Liebhaber seines Weibes ist, müsse der Versuchung von ihr zu reden mit allen Kräften widerstehen, weil er immer Gefahr läuft, aus Furcht zu wenig zu sagen, mehr zu sagen als einem weisen Manne ziemt. Auf alle Fälle kann es niemand leichter seyn, sich an meinen Platz zu stellen, als dir, der so gut aus eigener Erfahrung weiß, was häusliche Glückseligkeit ist.
Ein großes trägt zu Erhöhung der meinigen die schöne Harmonie und Herzlichkeit bey, die zwischen mir, meinen Brüdern Aristagoras und Kleonidas, und zwischen unsern Hausfrauen herrscht, welche letztern sämmtlich eine starke Ausnahme von dem harten Urtheil verdienen, das unsre Freundin Lais über die Griechischen Matronen zu fällen pflegt. In der That machen wir nur eine einzige Familie aus, und außer den Tagen, wo wir uns den Einladungen zu großen Gastmählern nicht entziehen können oder selbst dergleichen geben, bringen wir die Abende meistens unter uns, bald bey meinem Bruder, bald bey mir oder Kleonidas zu; und ein Fremder muß sehr hoch in unsrer Gunst stehen, der zu diesen traulichen Symposien zugelassen wird. Bey diesen letztern sind die Frauen immer gegenwärtig; ohne sie würden wir nur mit halbem Muthe fröhlich seyn können; denn sie sind uns so unentbehrlich als Pindars Grazien den Göttern; nichts däucht uns wohlgethan, was nicht durch ihre Hände geht, nichts angenehm, woran sie nicht Theil nehmen. Die Cyrenische Sitte, welche den Frauen mehr Freyheit zugesteht als die eurige, und sie von keiner Gesellschaft unter Verwandten und Freunden ausschließt, kommt uns zwar hierin zu Statten; wir würden es aber, wenigstens unter uns, zur Sitte machen, wenn es nicht schon etwas gewöhnliches wäre.
Überhaupt kenne ich, Milet vielleicht allein ausgenommen, keine Griechische Stadt, worin man so ruhig, zwangfrey und behäglich leben könnte als in Cyrene, seitdem die neue Verfassung Wurzel geschlagen, und alles Unkraut des Mißtrauens und des Parteygeistes, vor welchem ehmahls nichts Gutes bey uns aufkommen konnte, in kurzer Zeit gänzlich erstickt hat. Die Cyrener, wenn sie nicht von irgend einem bösen Dämon aus ihrem natürlichen Karakter herausgeworfen werden, sind ein fröhliches, gutartiges Volk; und daß es ihnen an Kunstfleiß und Betriebsamkeit nicht fehlt, zeigt der blühende Zustand der Fabriken, der Handelschaft und Schiffahrt, welche seit einigen Jahren in immer steigendem Aufnehmen sind; wiewohl wir hierin immer hinter Korinth, Syrakus, Milet und Rhodus zurückbleiben werden. Meine Mitbürger scheinen diesen Nachstand ohne Eifersucht anzusehen; dafür aber würden sie sich sehr beschämt finden, wenn sie in der Kunst gut zu essen und überhaupt in allem, was zum Gemächlichleben und zur angenehmsten Befriedigung der Sinnlichkeit dient, von irgend einem Volke übertroffen würden. Sie nennen dieß gut leben, und gehen darin von dem Grundsatz aus: das menschliche Leben sey so kurz und ungewiß, daß es große Thorheit wäre, sich den gegenwärtigen möglichsten Genuß desselben zu entziehen, um desto mehr Vorrath für eine Zukunft aufzuhäufen, die der Sparer und Sammler vielleicht nie erleben werde. Diesem zu Folge setzen sich die Meisten, sobald sie durch Erwerb oder gutes Glück zu Vermögen gekommen sind, auf den Fuß von ihren Renten zu leben, oder doch ihr Gewerbe nur so weit fort zu führen, daß sie von dem Ertrag gemächlich und angenehm leben können, und glauben alles gethan zu haben, wenn sie sich so weit einschränken daß sie nicht merklich ärmer werden. Häufige Erfahrungen sollten sie längst belehrt haben, daß dieß eben der geradeste Weg immer ärmer zu werden sey: aber der Cyrener (ich rede von den Meisten) hat über diesen Punkt weder Augen noch Ohren, so stark scheint der Einfluß unsers üppigen, zu Trägheit und Wollust geneigt machenden Himmelsstrichs zu seyn, von welchem es schwer und vielleicht unmöglich ist, sich gänzlich frey zu erhalten. Ich finde daher an unsrer dermahligen Regierung lobenswürdig, daß sie diesen Temperamentsfehler unsers Volkes nicht bloß durch vielfältige Aufmunterungen des Fleißes und Unternehmungsgeistes zu verbessern sucht, sondern sich auch angelegen seyn läßt, den Geschmack unsrer Bürger zu veredeln, und ihnen neue und reinere Quellen des Vergnügens zu eröffnen, als sie bisher gekannt hatten. Ich wurde bey meiner Hierherkunft nicht wenig überrascht, (denn Kleonidas hatte mir absichtlich ein Geheimniß daraus gemacht) ein Theater und ein Odeon in Cyrene zu finden, und beide schon so wohl eingerichtet, daß (mit deiner Erlaubniß, Eurybates!) Athen selbst kaum bessere Schauspieler, Sänger und andre Tonkünstler aufzuweisen hat. Das letztere haben wir dem Eifer zu danken, womit Kleonidas (dem die Aufsicht über diese neue Stiftungen aufgetragen ist) seit einigen Jahren sich bemüht hat, geschickte Künstler in beiden Fächern aus dem Asiatischen Griechenlande nach Cyrene zu locken. Die Musik, in der weitesten Bedeutung des Wortes, ist nun auch bey uns ein wesentlicher Theil der Erziehung der Kinder, und unsre Cyrener gewinnen unvermerkt allen Musenkünsten immer mehr Geschmack ab. Man hört schon in mehrern reichen Häusern bey großen Gastmählern, statt bezahlter Lustigmacher, einen geschickten Zögling des berühmten Ions Homerische Rhapsodien singen, und mein Bruder thut sich nicht wenig darauf zu gut, den besten Vorleser in ganz Cyrene in seinen Diensten zu haben.
Ich traue dir zu viel Weltbürgersinn zu, mein edler Freund, als daß ich besorgen sollte, du werdest ein »Attisches Gesicht« dazu machen, daß Cyrene, die an Größe und Bevölkerung der weltgepriesenen Minervenstadt wenig nachgiebt, sich zu beeifern anfängt, ihr auch in der Liebe zu den Künsten die das Leben verschönern, wiewohl noch mit ungleichen Schritten, nachzufolgen. Unser Staat ist nicht so reich als der Eurige; wir haben keine Inseln, die uns das eiserne Kapital eines drückenden Schutzes mit zwölfhundert Talenten jährlich verzinsen müssen, und keinen Schatz zu Delos, den wir angreifen könnten, um unsre Stadt zu verschönern, und unsre Bürger durch prächtige Feste und kostbare Lustbarkeiten bey guter Laune zu erhalten. Unsre Republik hat sich also begnügt, die beiden öffentlichen Gebäude, worin die Musen ihr Wesen bey uns haben, aufführen zu lassen, und jährliche Preise für diejenigen zu stiften, denen die öffentliche Meinung in den Wettstreiten, wozu am Feste der Cyrene die verschiedenen Musenkünstler zusammen kommen, den Sieg zuerkannt hat. Alle Unkosten unsrer Schauspiele hingegen werden mittelst einer mäßigen Abgabe, die von den Zuschauern erhoben wird, bestritten. Denn anstatt den Bürgern das Schauspielgeld aus dem öffentlichen Schatze zu reichen, wie bey Euch, finden wir billig, daß wer an dergleichen Unterhaltungen Antheil haben will, auch das seinige zu ihrer Unterstützung beytrage.
Daß wir, seitdem wir ein Theater und ein Odeon besitzen, gute Hoffnung haben, auch Dichter und Dichterlinge aus unserm eigenen Grund und Boden aufschießen zu sehen, wirst du sehr natürlich finden. Die ersten Versuche, die von zwey oder drey jungen Cyrenern in der tragischen Kunst gemacht worden sind, haben freylich die Tragödien von Sofokles, Euripides und Agathon noch nicht entbehrlich machen können: aber in der Komödie hat sich Kleonidas mit gegründetem Beyfall versucht, und (wenn mich meine Liebe zu ihm nicht sehr verblendet) Aristofanischen Witz mit der Sittlichkeit der Komödien des Epicharmus zu verbinden gewußt.
Die Komödien euers Kratinus, Eupolis und Aristofanes sind so sehr für Athen und die niedrigsten Klassen euers suveränen Pöbels, und überdieß größten Theils für die Zeitpunkte ihrer Aufführung berechnet, daß sie, wofern auch sonst nichts erhebliches gegen sie einzuwenden wäre, dennoch bloß aus der Ursache, weil sie unserm Volk unverständlich seyn würden, nicht auf unsern Schauplatz gebracht werden könnten. Jedes Volk, das Komödien haben will, muß seine eigenen haben. Die eurigen passen sehr gut für Athen, aber auch nur für Athen, und sogar nur für Athen wie es in den vierzig Jahren zwischen der sechs und achtzigsten und sechs und neunzigsten Olympiade war. Wir haben keinen Demos, keinen Senat, keine Volksredner und Kriegsobersten, die man lächerlich machen könnte; unser Volk nimmt keinen unmittelbaren Antheil an der Regierung, und hat Ursache mit seinen Vorstehern zufrieden zu seyn: und wenn diese auch der satirischen Geissel einige Blößen gäben, so würde keinem komischen Dichter gestattet werden, sich öffentlich und in Einer Person zu ihrem Ankläger, Richter und Büttel aufzuwerfen. Eine Demokratie, wie die Eurige war, kann ihre Ursachen gehabt haben, den Komödienschreibern eine Art von stillschweigender Vollmacht zu Handhabung einer beynahe unumschränkten Censur zu ertheilen; und eure Regierung hatte die ihrigen, sich, so lange sie es nicht ändern konnte, leidentlich dabey zu verhalten; aber diese Ursachen konnten nur im Attischen Athen Statt finden, und haben auch dort zum Theil bereits aufgehört. Wir Cyrener werden also entweder ohne Komödie bleiben, oder uns, wie gesagt, eine eigene erschaffen müssen. Das letztere wird nicht schwer seyn; denn sobald man der Komödie, statt des Lachens und Spottens über die Regierung und über einzelne Personen, andere zu einer öffentlichen angenehmen Volksunterhaltung passende Zwecke giebt, so lassen sich zwischen der Tragödie des Sofokles und der Komödie des Aristofanes, zwischen dem Ödipus und Filoktet des erstern, und den Rittern und der Lysistrata des andern, mehrere Gattungen von Schauspielen denken; und wenn auch Scherz und Lachen die Hauptwirkung der Komödie bleiben soll, so braucht sie sich nur, mit Verzichtthuung auf alle persönliche Satire, auf sinnreiche und lebhafte Darstellung allgemeiner lächerlicher Karaktere einzuschränken, um eine neue Gattung hervorzubringen, welche gewiß Beyfall erlangen und vielleicht nicht ohne Nutzen seyn würde. Ich zweifle nicht, daß die Zeit im Anzug ist, wo Athen, die noch immer in allen Arten von Kunstwerken die ersten und vollkommensten Muster aufgestellt hat, auch in dieser Gattung den Ton angeben, und die Scene mit lebendigen Sittengemählden beschenken wird, an welchen auch unsre Frauen Gefallen finden können. Denn in Cyrene sind die Frauen von Besuchung der Schauspiele nicht ausgeschlossen wie bey Euch; und dieß ist ein wesentlicher Grund mehr, warum unsre Komödie ohne Vergleichung bescheidener und anständiger als die Eurige seyn muß; ja warum selbst die Tragödie sich unvermerkt in einen mildern Ton herabstimmen, und, ohne dem Wesentlichen ihres Karakters zu entsagen, mehr sanfte Rührungen, süße Wehmuth und zärtliches Mitgefühl als Schrecken, Entsetzen und peinliches Mitleiden zu erregen suchen wird.