Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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Diese Naturmenschen machen indeß, wiewohl sie vielleicht den größten Theil des Erdbodens einnehmen, den kleinsten des Menschengeschlechts aus. Der weit größere lebt in bürgerlicher Gesellschaft, wenige in Freystaaten, wo Anfangs die Noth, in der Folge das Verlangen nach Wohlstand, Reichthum und Ansehen, unter dem belebenden Einfluß einer durch weise Gesetze zugleich begünstigten und eingeschränkten Freyheit, alle Arten von Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten, Leibes- und Geistes-Übungen, Handarbeiten, Künste und Wissenschaften hervorgebracht, und zum Theil auf eine bewundernswürdige Höhe getrieben hat. Diese über ein großes Stück von Asien und Europa und die nördliche Küste von Lybien verbreiteten, mehr oder weniger ausgebildeten Menschen scheinen, beym ersten Überblick, sich zu jenen rohen Kindern der Natur wie die Götter zu den Menschen zu verhalten: forschen wir aber genauer nach, so werden wir uns bald überzeugen, daß unter einer Myriade polizierter Menschen neun tausend sind, die sich überhaupt viel weniger glücklich, ja oft viel unglücklicher fühlen oder wähnen, als jene nackten Waldmänner, Troglodyten und Ichthyiofagen. Denn bey weitem die größere Zahl lebt in Armuth und Mangel an allen Bequemlichkeiten; genießt wenig oder nichts von den Früchten des anscheinenden Wohlstands und Reichthums des Staats; muß, um einer kleinen Anzahl üppiger Müßiggänger ein prachtvolles und wollüstiges Leben zu verschaffen, über Vermögen arbeiten, und sich oft schlechter nähren als die Wilden, und, damit an ihrem Elend nichts fehle, geduldig zusehen, wie die Müßiggänger sich auf ihre Unkosten wohl seyn lassen. Nun frage ich dich abermahl: was dünkt dich daß für die neunzig hundert Theile der polizierten Menschheit, nach ihrer eigenen Schätzung, das höchste Gut seyn werde? Wir wollen sie selbst nicht fragen; denn sie sind nicht unverdorben genug, uns, wie ihre Brüder in den Wäldern des Atlas, Kaukasus und Imaus, die wahre Antwort zu geben. Aber rechne darauf, daß sie sich von keiner höhern Glückseligkeit träumen lassen, als täglich zu leben wie die Freyer der Penelope, oder die Höflinge des Alcinous in der Odyssee, und, wie diese, aller Arbeit überhoben zu seyn. Grobe sinnliche Befriedigungen bey nie abnehmender Gesundheit und Stärke, und ein müßiges sorgenfreyes Leben, dieß ists was sie sich als das höchste Gut denken, und höher gehen weder ihre Wünsche, noch ihre dermahlige Empfänglichkeit. Und warum nicht? da unter den übrigen schwerlich zehen vom Hundert sind, in deren Busen, wenn Prometheus nicht vergessen hätte ihn durchsichtig zu machen, wir nicht eben dieselben Wünsche, nur mehr oder weniger verfeinert und auf alle ihre Leidenschaften ausgedehnt, erblicken würden. Wenigstens läßt mich, was ich über diesen Punkt bisher wahrgenommen habe, nichts anders glauben. Sinnlichkeit ist nun einmahl die Grundlage der menschlichen Natur; essen, trinken und schlafen, das erste Bedürfniß, das erste Geschäft und das erste Vergnügen des Kindes, so wie das letzte des Greises, bey welchem das Wohlbehagen an den Vergnügungen des Gaumens in eben dem Verhältniß zunimmt, wie das Vermögen andre Triebe zu befriedigen abnimmt und aufhört. Stelle einen jeden Sofisten, der dieß nicht gestehen will, ohne daß er deine Absicht merken kann, auf die Probe, und du wirst schwerlich einen einzigen finden, der seine prahlerische Theorie nicht durch die That Lügen strafen wird.

Wie dann, Laiska? Dein scherzender Filosof sollte also am Ende doch noch Recht behalten? – Ja, und Nein, sage ich; und wenn dieß widersinnig klingt, wer kann dafür, wenn der Mensch, seiner Centaurischen Natur nach, ein so widersinnisches Ding ist, daß mein Freund Plato sich und uns nicht besser zu helfen weiß, als durch den wohlmeinenden Rath, den thierischen Theil geradezu abzuwürgen, und den geistigen allein leben zu lassen. Meine Vorstellungsart erlaubt mir nicht, so streng mit der Hälfte meines Ichs zu verfahren; und da diese Doppelnatur nun einmahl mein dermahliges Wesen ausmacht, so denke ich vielmehr alles Ernstes darauf, einen billigen Vertrag zwischen beiden Theilen zu Stande zu bringen; mit dem Vorbehalt, falls es mir damit nicht gelingen sollte, mich auf die Seite der Vernunft zu schlagen, und vermittelst ihrer Oberherrschaft über den animalischen Theil diese Sokratische Sofrosyne in mir hervorzubringen, die zwar nicht das höchste Gut, aber doch gewiß ein sehr großes, und zum reinen Genuß aller andern unentbehrlich ist. Im Grunde sollte jener Vertrag so schwer nicht zu stiften seyn, da die Natur selbst in beiden Theilen schon Anstalt dazu gemacht, und dem geistigen eine sonderbare Anmuthung zu dem thierischen, diesem hingegen, trotz seiner angebornen Wildheit, eine eben so sonderbare Willigkeit sich von jenem zäumen und regieren zu lassen, eingepflanzt hat. In der That kommt in dieser Rücksicht alles darauf an, daß das Thier, wenn es seine Schuldigkeit thun soll, fleißig zur Arbeit und zum Gehorsam angehalten, aber auch wohl behandelt, gut genährt und hinlänglich gewartet werde. Sobald es merkt, daß der regierende Theil es wohl mit ihm meint, ist es folgsam und geschmeidig; wird ihm aber übel begegnet, gleich fängt es an muckisch zu werden; beißt um sich, schlägt aus, spreitzt, bäumt und wälzt sich, und läßt nicht nach, bis es den Reiter abgeworfen hat. Ist dieser überhaupt nicht stark und verständig genug den Zügel recht zu führen und sein Thier im Respekt zu erhalten, was Wunder wenn es mit ihm durchgeht, und sich gerade so meisterlos aufführt, als ob es keinen Herren über sich erkennte?

Um diese Allegorie nicht zu lange zu verfolgen, bemerke ich nur, daß das Daseyn der Vernunft und ihr Einfluß auf unsre sinnliche oder thierische Natur sich, wie bey den Kindern schon in der frühen Dämmerung des Lebens, so bey allen, selbst den rohesten Völkern schon in den ersten Anfängen der Kultur vornehmlich darin beweist, daß sie (wofern nicht besondere klimatische oder andere zufällige Ursachen im Wege stehen) sich selbst und ihren Zustand immer zu verschönern und zu verbessern suchen. So langsam es Anfangs damit zugeht, so schnell nimmt der Trieb zum Schönern und Bessern zu, wenn einmahl gewisse Perioden zurückgelegt sind, und die Vernunft selbst in ihrer Entwicklung einen gewissen Grad von Stärke erreicht hat. Daß wir aber demungeachtet im Ganzen noch so weit zurück sind, liegt wohl hauptsächlich an der Kürze unsers Lebens, welches in Verhältniß mit allen übrigen Bedingungen, unter welchen wir es empfangen, in viel zu enge Grenzen eingeschlossen ist, als daß die Menschen (wenige Ausnahmen abgerechnet) große Fortschritte zur Verbesserung ihres eigenen innern und äußern Zustandes machen, oder etwas Beträchtliches zum allgemeinen Besten beytragen könnten: indessen zeigt sich doch von einer Generazion zur andern ein gewisses, im Kleinen meist unmerkliches, aber im Großen ziemlich sichtbares Streben nach dem, was man füglich (wie ich glaube) den Zweck der Natur mit dem Menschen nennen kann. Und was könnte dieser anders seyn, als die immer steigende Vervollkommnung der ganzen Gattung, wozu jeder einzelne der einst da war, etwas (wie wenig es auch sey) beygetragen hat, und von welcher nun hinwieder jede neue Generazion und jedes einzelne Glied derselben mehr oder weniger Vortheil zieht? Da nichts, was einmahl da war oder geschah, ohne Folgen ist, also nichts ganz verloren geht; da jedes Jahrzehend und Jahrhundert seine Versuche, Erfahrungen, Entdeckungen und Erfindungen den Nachkommenden zur Fortsetzung, Ausbildung, Verbesserung und Vermehrung überliefert, so kann dieß schlechterdings nicht anders seyn. Die Rückfälle, die man von Zeit zu Zeit wahrzunehmen wähnt, die alte Sage, »daß nichts neues unter der Sonne geschähe,« und die Abnahme der menschlichen Gattung, die man uns schon aus dem alten Homer erweisen zu können glaubt, sind nur anscheinend. Besondere Völker, einzelne Menschen können wohl in einigen Stücken schlechter als ihre Vorfahren werden; aber das Menschengeschlecht, als Eine fortdauernde Person betrachtet, der unsterbliche Anthropodämon Mensch, nimmt immer zu, und sieht keine Grenzen seiner Vervollkommnung. Denn nur dem einzelnen Menschen, nicht der Menschheit, sind Grenzen gesetzt.

Die Fortschritte, welche wir Griechen seit der Zeit da Europens Bewohner noch stammelnde Waldmenschen und Troglodyten waren, bis zu der Stufe, worauf wir dermahlen stehen, gemacht haben, werden andre Menschen, vielleicht ganz andre Völker, nach uns in den nächsten Jahrtausenden fortsetzen, und unfehlbar wird eine Zeit kommen, wo die Menschen durch künstliche Mittel sehen werden, was uns unsichtbar ist; wo sie Schätze von Kenntnissen, wovon sich jetzt niemand träumen läßt, gesammelt, neue Mineralien, Pflanzen und Thiere, neue Eigenschaften der Körper, neue Heilkräfte, kurz, unendlich viel Neues im Himmel, auf Erden und im Ocean entdeckt, und vermittelst alles dessen nicht nur unsre Erfindungen viel höher getrieben, sondern eine Menge uns ganz unbekannter Künste und Kunstwerkzeuge erfunden haben werden, u. s. w.

Nun, meine Freundin, sind wir auf der Höhe, von welcher aus wir uns, dünkt mich, überzeugen können, daß die Aufgabe, die du mir zu lösen gegeben hast, unauflösbar ist. Es giebt kein andres höchstes Gut (wenn man es so nennen will) für den Menschen, als, »das zu seyn und zu werden, was er nach dem Zweck der Natur seyn soll und werden kann:« aber eben dieß ist der Punkt, den er nie erreichen wird, wiewohl er sich ihm ewig annähern soll. Wo über jeder Stufe noch eine höhere ist, giebt es kein Höchstes – als täuschungsweise; wie dem, der einen hohen Berg ersteigen will, diese oder jene Spitze die höchste scheint, bis er sie erklettert hat, und nun erst sieht, daß neue Gipfel sich über ihm in die Wolken thürmen. Alles, was für einen Menschen in seinem dermahligen Leben (dem einzigen, das er kennt) gut ist, ist zur rechten Zeit, am rechten Ort, im rechten Maß, und recht gebraucht, für den Augenblick das Höchste; für den unsterblichen Menschen giebt es kein Höchstes als das Unendliche. Weiter, schöne Laiska, habe ich's bis jetzt nicht bringen können, und ich zweifle nicht, daß viel daran fehlt, daß meine Antwort deinen Sofisten und Frontisten genug thun sollte. Was mich selbst betrifft, ich habe nie nach hohen Dingen, geschweige nach dem Höchsten, getrachtet; und dafür haben mir die Götter immer reichlich mehr gegeben, als ich zu begehren gewagt hätte. Von allen ihren Gaben die reichste ist, daß sie mich mit dir zu gleicher Zeit geboren werden ließen, mich mit dir zusammen brachten, und in der Stunde, da du mir deine Freundschaft schenktest, mich auf mein ganzes Leben zu einem der glücklichsten Sterblichen weihten. Müßt' ich nicht Adrasteien zu erzürnen fürchten, wenn ich meine Wünsche noch höher zu treiben versuchen wollte?


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