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Ich werde es immer unter die glücklichsten Ereignisse meines Lebens zählen, daß ich den Sokrates gekannt, und während der drey bis vier Jahre, da ich freyen Zutritt bey ihm hatte, seines Umgangs beynahe täglich genossen habe. Wie wenig auch das, was ich von ihm lernen konnte, in anderer Augen seyn mag, nach meiner Schätzung und für meinen eigenen Gebrauch ist es sehr viel, und mehr als genug um mir ein Recht auf den Nahmen eines Sokratikers zu geben, auf den ich stolz bin, und den ich nicht unwürdig zu führen hoffe.
Es war eine von den Meinungen des Sokrates, die ich ihn öfters in seiner eigenen genialischen Manier behaupten hörte, »Weisheit und Tugend könnten nicht auf die Art, wie man sichs gewöhnlich vorstelle, gelehrt,« d.i. nicht in unsre Seelen hineingeschoben werden, wie man Brot in den Backofen schiebt. Zuweilen sprach er, als betrachte er sich wie einen Gärtner, dessen Geschäft es ist, nützliche Pflanzen und Gewächse zu ziehen und zu warten. Alles was der Gärtner vermag (sagte er) besteht darin, daß er guten Samen in ein wohlzubereitetes Land lege, und die junge Pflanze, wenn sie aufgegangen ist, vor Frost und schädlichen Winden sichere, vor aller Verletzung bewahre, und, so weit es in seiner Macht steht, dafür sorge, daß sie nicht zu viel noch zu wenig Sonne bekomme, nicht zu viel noch zu wenig genährt werde, u. s. f. Aber eine schlechte Gattung in eine edle zu verwandeln, oder einer schwachen kränkelnden Pflanze das fröhliche Wachsthum einer gesunden und starken zu geben, steht nicht bey ihm; und wenn er sein möglichstes gethan hat, kann er doch nicht verhindern, daß ein einziger unerwarteter Nachtfrost oder irgend ein anderer Zufall aller seiner Sorge und Pflege spottet. – Am meisten liebte er das Bild einer Geburtshelferin, und verglich sich mit seiner Mutter, die, wiewohl sie für eine große Meisterin in ihrer Kunst galt, ein ungestaltes Kind in kein wohlgebildetes verwandeln konnte, sondern zufrieden seyn mußte, wenn sie, was nun einmahl da war, glücklich zur Welt gebracht hatte. Sokrates hat in diesem Sinne Kindern von sehr ungleicher Art ins Leben geholfen. Aber um diejenigen, die ihm täglich und mehrere Jahre zur Seite waren, machte er sich auch das Verdienst eines Pädagogen; und, wie die Erfahrung lehrt, daß Knaben sich, ohne es zu wollen oder zu merken, immer nach ihrem Erzieher bilden, und mehr oder weniger seine Weise sich zu geberden, zu reden, zu gehen, den Kopf zu tragen, u. s. w. annehmen: so findet sich auch, daß keiner von den Zöglingen des Sokrates ist, an dem man nicht diese oder jene Züge von ihm gewahr würde, so daß – wie man von Zeuxis sagt, er habe aus fünf der schönsten Agrigentischen Mädchen seine berühmte Helena zusammengesetzt – aus fünf oder sechs von uns ein ganz leidlicher Sokrates zusammengesetzt werden könnte. So hat z. B. Plato sich seiner Ironie und eigenen feinen Manier zu scherzen, Xenofon seiner Grundbegriffe, Maximen und Ideale in Sittenlehre und Staatskunst, und seines Glaubens an Orakel, Träume und Opferlebern, Antisthenes seiner Geringschätzung aller Gemächlichkeiten und künstlichen Wollüste der Reichen, Cebes von Theben seines Talents die Filosofie in Fabeln und Allegorien einzukleiden, bemächtigt. Mir ist also kaum etwas andres übrig geblieben als seine Anspruchlosigkeit, sein Widerwille gegen alles Geschminkte und Unnatürliche, gegen Aufgeblasenheit, Eigendünkel und ungebührliche Anmaßungen, seine Geringschätzung aller spitzfündigen, im Leben unbrauchbaren und bloß zum Gepräng und zum Disputieren dienlichen Spekulazionen, seine Manier bey Erörterung problematischer Fragen immer zuerst auf das, was uns die Erfahrung davon sagt, Acht zu geben, nach der Entstehungsweise der Begriffe, in welche das Problem zerfällt, zu forschen, und überhaupt beym Suchen der Wahrheit immer vorauszusetzen, daß sie uns ganz nahe liege, und meistens nur durch den Wahn, daß man sie weit und mühsam suchen müsse, verfehlt werde, – und was sonst in dieses Fach gehört. In allem diesem, und (wenn ich mir nicht zu viel schmeichle) noch in manchen andern Stücken, finde ich mich Ihm so ähnlich, daß ich mir zuweilen einbilde, ich würde, wofern ich in der sieben und siebzigsten Olympiade in seinen Umständen auf die Welt gekommen wäre, Sokrates, oder Er, vierzig Jahre später in den meinigen geboren, Aristipp gewesen seyn. Auf diese Weise erkläre ich mir das Verschiedene in den Ähnlichkeiten, die ich mit ihm habe. Er kleidete sich z. B. schlecht, weil er arm war und sich dessen nicht schämte; aber er liebte die Reinlichkeit: wäre Er reicher gewesen, würde er sich vermuthlich nicht schlechter gekleidet haben als ich; so wie Ich mich nicht geringer dünkte, als ich, im ersten Jahre meines Aufenthalts zu Athen, in einem groben wollenen Tribonion unbeschuht hinter ihm her trabte. – Seine Mahlzeit kostete selten mehr als drey bis vier Obolen; indessen schlug er nicht leicht eine Einladung zu den prächtigsten Gastmählern aus, wenn er gewiß war gute Gesellschaft anzutreffen; wär' er reicher gewesen, so hätt' er vermuthlich, wie Ich, lieber Andere eingeladen, als sich einladen lassen. Er kaufte weder Bildsäulen noch Gemählde, weil er kein Geld zu solchen Ausgaben hatte; aber er liebte darum die Kunst nicht weniger, und wußte die Werke der großen Meister sehr wohl zu würdigen: Ich habe mir, weil mir das Glück besser wollte als Ihm, eine feine Sammlung auserlesener Mahlereyen angeschafft, und bin darum kein größerer Kenner. – Er trank gewöhnlich Wasser, konnte aber, wenn's darauf angelegt war, den stärksten Weinschläuchen die Stirne bieten, und streckte sie alle zu Boden, ohne daß man eine merkliche Veränderung an ihm spürte: Ich trinke gewöhnlich Wein, und den besten der zu haben ist; aber sehr mäßig, weil ich viel nicht vertragen kann. – Ich liebe schöne Weiber ungefähr wie Er schöne Knaben liebte, ohne daß Platons Eros Pandemos jemahls mehr Gewalt über mich gehabt hätte als über ihn: ich zweifle aber sehr, daß er zu seiner Zeit die schöne Aspasia von sich gestoßen hätte, wenn sie Lais für ihn hätte seyn wollen. Daß er sich übrigens im Nothfall an seine Xantippe hielt, war eine löbliche, wiewohl, ihrer sauren Laune ungeachtet, eben nicht sehr verdienstliche Genügsamkeit; denn Xantippe war weder eine häßliche noch bösartige Frau. – Sokrates zog, weil er ein sehr starker Mann war, die mühsamern und heftigern Leibesübungen den sanftern und ruhigern vor: bey mir ists gerade umgekehrt. – Bey Ihm war der Weltbürger dem Bürger von Athen untergeordnet; bey Mir der Bürger von Cyrene dem Weltbürger: wäre Cyrene seine Vaterstadt gewesen, Athen die Meinige, so würde vermuthlich das Gegentheil Statt gefunden haben.
Ohne diese Parallele noch weiter zu verfolgen, will ich dir lieber geradezu sagen, was ich mit diesem ganzen Prolog haben will: nehmlich nichts weiter als dich zu verständigen, warum und wie fern meine Filosofie weder mehr noch weniger die Sokratische ist, als ich selbst – Sokrates bin. Auch meinte es Sokrates nie anders. Er verlangte keinen Nachtreter und Nachsprecher. Er theilte uns und jedem der ihn hören mochte, unverhohlen mit, was er für wahr und recht, gut und anständig hielt, und wenn er jemanden belehren wollte, stellte er es immer so an, daß der Hörende das, was sie mit einander suchten, selbst gefunden zu haben glaubte. Oft war das was er gab nicht sowohl Lehre als guter Rath, der, zu einer allgemeinen Maxime gemacht, vielleicht viele Ausnahmen zuließ oder sogar erforderte. Kurz, er überließ es dem guten Verstand seiner Gesellschafter, wie viel oder wenig sie von dem Gehörten brauchen könnten oder wollten, und verlangte weder Pythagoräischen Glauben an seine Aussprüche, noch blinde sklavische Befolgung seiner Vorschriften. In dieser Rücksicht verdenke ich es dem Plato eben so wenig, daß er in so vielen Stücken von Sokrates abweicht, als ich selbst Tadel zu verdienen glaube, daß meine Filosofie, wiewohl sie sehr leicht und ungezwungen mit der Sokratischen in Harmonie gesetzt werden kann, dennoch nicht eben dieselbe mit ihr ist. Was ich an Plato tadle ist, daß er den entschiedenen Feind aller Meteoroleschie in vielen, wo nicht in den meisten seiner Dialogen die Rolle eines wahren Aristofanischen Frontisten spielen läßt, und daß es immer der unschuldige Sokrates ist, den er vor den Riß stellt, und, weil er nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden kann, für Dinge verantwortlich macht, die er nie gesagt haben würde, und welche Plato selbst in eigener Person zu sagen vielleicht Bedenken trüge.
Ich glaube mich hiermit deutlich genug erklärt zu haben, Freund Hippias, in welchem Sinn ich ein Sokratiker zu seyn und zu heißen wünsche. Übrigens kennst du die Welt zu gut, um dich zu verwundern, daß der Nahme und die Filosofie des in seinem Leben wenig geachteten und von den meisten falsch beurtheilten Sokrates seit seinem Tod, und selbst durch die Art seines Todes, vielleicht auch durch das erst nachher bekannter gewordene Orakel des Delfischen Gottes, den Griechen so ehrwürdig geworden ist, daß viele von keiner andern Filosofie als der Sokratischen hören wollen. Da ich nun, ich weiß selbst nicht wie, in den Ruf gekommen bin, daß sie von mir ächter und reiner zu erlernen sey als von Plato oder Antisthenes, so ist es schon mehr als Einmahl begegnet, daß geschlossene Gesellschaften von enthusiastischen Verehrern des Weisesten aller Menschen das Ansinnen, ihnen nicht meine eigene, sondern seine Filosofie in ihrer ganzen Lauterkeit vorzutragen, so ernstlich an mich gelangen ließen, daß ich mich nicht entbrechen konnte, ihr Verlangen zu befriedigen. Wenn dir also etwa zu Ohren kommt, daß Aristipp sich seinen Unterricht sehr theuer bezahlen lasse, so wisse, daß dieß bloß von diesen Vorträgen der Filosofie des Sokrates (die ich deßwegen in ein zusammen hangendes System zu bringen genöthigt war) zu verstehen ist. Denn ich glaube einen Unterricht dieser Art, wobey ich mich gewisser Maßen als einen bloß mechanischen Arbeiter gebrauchen und zum bloßen Sprachwerkzeug eines andern machen lassen muß, mit Fug und Recht eben so gut zu Geld anschlagen zu können, als ein Steinhauer, der den Marmor zu einem Tempel oder Säulengang nach einem gegebenen Maß und Modell zu bearbeiten und zusammen zu fügen übernommen hat, seine Zeit und Arbeit. Alles dieß, lieber Hippias, hielt ich für dienlich, dir über meinen Sokratism etwas ausführlich zu sagen, weil es ein für allemahl gesagt seyn soll.
Daß du, mit aller deiner Dankbarkeit für das heilsame Lachen, so dir Plato durch seinen größern Hippias zubereitet hat, diesem Göttersohn nicht allzu hold bist, finde ich sehr natürlich. In so fern es für einen Trost gehalten wird, Gefährten im Leiden zu haben, laß es dir – in Augenblicken, wo es dir etwa nicht so ganz lustig däuchten möchte, von einem hochangesehenen und weitberühmten Manne allen Griechen der gegenwärtigen und künftigen Zeit als ein einfältiger Strohkopf vorgeführt zu werden – zu einigem Troste dienen, daß der tapfre, weise und weltberühmte Befehlshaber und Geschichtschreiber des Rückzugs der zehentausend Griechen in seinen Sokratischen Denkwürdigkeiten mit deinem Freund Aristipp nicht glimpflicher zu Werke geht. Das Beste ist, daß beide bey denen, die dich und mich persönlich kennen, schwerlich in den Ruf großer Portraitmahler kommen werden.
Das zweydeutige Mährchen von der hohen Abkunft des Sohnes der edeln Periktione geht wirklich schon seit einiger Zeit unter seinen Verehrern herum, so wie unter den Athenern überhaupt ein heimliches Gemurmel, es dürfte ihm schwer fallen, zu beweisen, daß er der Sohn eines Attischen Bürgers sey. Welches von diesen beiden Gerüchten das andere erzeugt haben mag, ist ungewiß. War das letztere das ältere; so begreift sich um so leichter, wie die Freunde Platons auf den Einfall kommen konnten, ihm einen Ursprung zu geben, der ihn mit den größten Männern der heroischen Zeit auf gleichen Fuß setzt. Speusipp erzählte das Mährchen, mit allen von dir erwähnten Umständen, in einem sehr religiösen Ton, wenn er mehr als Einen Zuhörer hatte, und scherzte mit mir darüber sobald wir allein waren. Das Wahre an der Sache läßt sich leicht errathen, wenn man weiß, daß Ariston sehr wesentliche Ursachen hatte, die angesehene Familie seiner Braut und den goldlockigen Apollo, den er bey ihr überraschte, zu schonen; nichts davon zu sagen, daß die Athener überhaupt ziemlich bequeme und urbane Ehemänner sind. Der Traum des Sokrates scheint seine Richtigkeit zu haben, und, wie mehrere Träume dieses außerordentlichen Mannes, mit seinem Dämonion in einerley Fach zu gehören.
Was du mir von Konon meldest, hat mich nicht befremdet, wiewohl man hier nichts von einem Bruch mit dem großen König wissen will, und von Konons Unternehmungen gegen die Inseln als einer mit Farnabaz abgeschlossenen Sache spricht. Was man indessen täglich an allen öffentlichen Orten zu Athen hören kann, ist die hoffärtige und undankbare Art, wie unsre Kechenäer von ihrem Verhältniß gegen den Persischen Monarchen reden. Sie vermeinen ihm so wenig Dank schuldig zu sein, daß er selbst vielmehr, wenn man ihnen glaubt, tief in ihrer Schuld ist, und noch viel zu thun hat, wofern er die von ihnen empfangene Wohlthat einiger Maßen wett machen will. Denn, sagen sie, haben ihn nicht die Siege unsrer Flotten von seinem furchtbarsten Feinde befreyt? Würde nicht Agesilaus jetzt vor Susa stehen, wenn Konon die Spartanische Seemacht nicht bey Knidus vernichtet hätte? Es war des Königs Interesse sich um unsre Freundschaft zu bewerben, und sie gegen die Spartaner zu benutzen; das Unsrige ist, den günstigen Augenblick, da die Spartaner uns nicht daran hindern können, zu Befreyung der Ionischen Kolonien, unsrer Freunde, und zu Wiedererlangung der uns gebührenden Hegemonie anzuwenden. Der König muß uns selbst dazu verhelfen; oder er ist der undankbarste aller Menschen.« – Du wirst die Athener an dieser überhin fahrenden, raschen und einseitigen Art zu räsonieren leicht erkennen, mit welcher ihre Art zu handeln völlig aus Einem Stück ist. Nie haben sie es der Mühe werth gehalten, sich an eines andern Platz zu stellen, und zu überlegen, in welchem Licht oder von welcher Seite er eine Sache sehen müsse. Und woher sollten sie die Geduld nehmen, einen Entwurf gelassen durchzudenken, die Mittel und Wege dazu in der Stille vorzubereiten, die Hindernisse vorsichtig wegzuräumen, und nicht eher zur wirklichen Ausführung zu schreiten, bis der Erfolg, gleich einer reifen Frucht, uns ohne große Mühe gleichsam von selbst in den Schooß fällt? Ich zweifle nicht, daß sie auch dießmahl, wie du vorher siehest, durch ihre unbesonnene Voreiligkeit der Spartanischen Klugheit einen unblutigen Sieg in die Hände spielen werden, dessen Folgen schwerer auf ihnen liegen dürften, als die zu Athen so hoch gepriesenen Siege Konons auf den Lacedämoniern.
Daß deine Milesier weise genug sind, der Lockpfeife des Athenischen Vogelstellers kein Gehör zu geben, versichert dir, wie ich hoffe, noch auf lange Zeit die glückliche Ruhe, die du im Schooße der Musen und der übrigen freudengebenden Götter so gut zu genießen weißt. Mir ist zu Athen, wiewohl wir vor der Hand nichts zu befürchten haben, nicht selten zu Muthe, als ob ich in einem ohne Masten und Steuerruder auf einem unruhigen Meere herumtreibenden Schiffe hausete; und je mehr ich den dermahligen Wohlstand meiner Vaterstadt mit dem heillosen Zustande der Athenischen Ochlokratie vergleiche, desto mehr Stärke gewinnt der geheime Hang, der uns immer, auch wenn es uns unter Fremden wohl geht, nach dem Orte zieht, wo wir uns eigentlich zu Hause fühlen, wo unsre angeborne älteste Freunde leben, und die Erde selbst uns näher als anderswo verwandt zu seyn scheint, und etwas so anziehend Heimisches für uns hat, daß wir wenigstens unsre Asche mit keiner andern Erde zu vermischen wünschen.