Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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VI.
Fortsetzung des Vorigen.

Wir sind nun ganz nahe bis zu dem Punkt vorgerückt, um dessentwillen vermuthlich diese ganze Unterredung angefangen und durch so vielerley mäandrische Umschweife und Aus- und Einbeugungen bis hierher geführt worden; aber so wohlfeil giebt es unser poetisierender Filosof oder filosofierender Dichter nicht. Er hat sich nun Einmahl vorgesetzt, uns in diesem dramatischen Dialog zu weisen, daß er sich so gut als irgend ein Tragödienmacher auf die Kunst verstehe, den Punkt, auf welchen wir losgehen, alle Augenblicke bald zu zeigen, bald wieder aus dem Gesichte zu rücken, um uns desto angenehmer zu überraschen, wenn wir das, was er uns so lange durch einen unmerklich wieder in sich selbst zurück kehrenden Umweg suchen ließ, endlich unversehens vor unsrer Nase liegen finden. Unser verkappter Sokrates, der itzt für eine ziemliche Weile die Larve wieder weggeschoben hat und mit seinem eigenen Gesichte spielt, meint: sie hätten ihre Republik so gut angeordnet, daß es nun weiter nichts bedürfe, als daß Adimanth seinen Bruder und Polemarchen und die übrigen Anwesenden aufrufe, ihm mit einer tüchtigen Fackel so lange in derselben herum suchen zu helfen, bis sie die irgendwo in ihr versteckte Gerechtigkeit ausfündig gemacht haben würden. In der That muthet er diesen wackern jungen Männern damit nicht mehr zu, als was sie mit einer mäßigen Anstrengung ihres Menschenverstandes sehr leicht leisten konnten und sollten. Aber dabey hätte der Verfasser des Dialogs seine Rechnung nicht gefunden. Glaukon besteht darauf, daß Sokrates seinem Versprechen gemäß das Beste bey der Sache thun müsse, und dieser schickt sich denn auch um so williger dazu an, da er wirklich in einer ganz eigenen Laune zu seyn scheint, sich mit der Treuherzigkeit der jungen Leute einen dialektischen Spaß zu machen, und sie nach dem Ding, das er in der Hand hat, fein lange überall wo es nicht ist herumstöbern zu lassen. Wohlan also (sagt er) hier zeigt sich mir ein Weg, der uns, hoffe ich, zu dem, was wir suchen, führen soll. Wenn wir unsre Republik gehörig angeordnet haben, so sollte sie, dächt' ich, durchaus gut seyn. – Nothwendig, antwortet Glaukon.

SOKRATES. Augenscheinlich ist sie also weise, tapfer, wohlgezüchtet, und gerecht?

GLAUKON. Augenscheinlich.

SOKRATES. Wenn wir nun von diesen Vieren Eins, welches es sey, in ihr finden, so ist das übrige das, was wir nicht gefunden haben; nicht wahr?

GLAUKON. Wie meinst du das?

SOKRATES. Wenn wir unter vier Dingen, welcher Art sie auch seyn mögen, nur Eines suchen, und (indem wir glücklicher Weise zuerst darauf stoßen) es sogleich für das Gesuchte erkennen, so lassen wirs dabey bewenden; haben wir hingegen die drey ersten vorher ausfündig gemacht, so kennen wir eben dadurch auch das, was wir suchen; denn es ist klar, daß es kein anderes seyn kann als das vierte, so noch übrig ist. – Richtig, antwortet Glaukon wie ein unbesonnener Knabe; denn es greift sich doch mit Händen, daß er nur unter der Bedingung, wofern diese vier Dinge uns schon bekannt sind, mit Ja antworten konnte; denn wofern sie es nicht sind, so weiß ich, in dem gegebenen Falle, zwar, daß das noch nicht Gefundene, das Gesuchte ist; aber wozu kann mir das helfen, wenn ich nicht weiß, was es ist? Glaukon mußte einfältiger seyn als Praxillens AdonisPraxilla, eine zu ihrer Zeit berühmte Skoliendichterin aus Sicyon, hatte ein Lied verfertiget, worin Adonis, den sie so eben im Reich der Schatten anlangen läßt, auf die Frage: was von allem, so er auf der Oberwelt habe zurück lassen müssen, das schönste sey? zur Antwort giebt: »Sonne, Mond, Gurken und Äpfel.« Man fand diese Antwort so albern naif, daß die Redensart, einfältiger als Praxillens Adonis, zum Sprüchwort wurde. , wenn er nicht sah, wo Sokrates mit seinem mathematischen Axiom hinaus wollte; daß er es nehmlich auf die nur eben seiner Republik nachgerühmten vier karakteristischen Eigenschaften anwenden, und wenn er die drey zuerst genannten in ihr gefunden hätte, versichern würde, daß ihnen nun auch die Gerechtigkeit nicht entgehen könne; wiewohl dieser Umweg im Grunde zu nichts helfen konnte, als sie, ohne alle Noth, eine gute halbe Stunde länger aufzuhalten. Da sich aber seine Zuhörer nun Einmahl alles von ihm gefallen lassen, so macht sich unser After-Sokrates abermahls den für seine Leser ziemlich langweiligen Zeitvertreib, durch eine Menge unnöthiger, zum Theil lächerlicher und kindischer Fragen, und kopfnickender oder platter Antworten des ehrlichen Glaukons, heraus zu bringen: worin die Weisheit, Mannskraft und Zucht bestehe, in welchen (nebst der Gerechtigkeit) er den unterscheidenden Karakter seiner Republik setzt, und von welchen die erste den Regenten, die zweyte den Beschützern vorzüglich beywohne, die dritte aber (wie er sehr sinnreich und spitzfündig darthut) durch die gebührende Subordinazion der zwey untern Bürgerklassen unter die oberste, eine mit dem, was man in der Musik Diapasôn (die Oktave) nennt, vergleichbare Harmonie des ganzen Staats hervorbringe. Wir hätten also (fährt er nun fort) die drey ersten Formen der Tugend oder der Vollkommenheit, die unsrer Republik eigen seyn soll, gefunden: welches wäre darin die noch übrige? doch wohl – die Gerechtigkeit?

GLAUKON. Ja wohl!

SOKRATES. Was haben wir also nun zu thun, lieber Glaukon, als daß wir, nach Jäger-Weise, einen Kreis um diesen Busch schließen, damit uns die Gerechtigkeit nicht etwa unvermerkt entwische und aus dem Gesicht komme; denn daß sie hier irgendwo stecken muß, hat seine Richtigkeit. Schaue also überall scharf herum, ob du sie vielleicht eher als ich gewahr werden und mir zeigen kannst.

GLAUKON. Ja, wenn ich das könnte! Aber so fern sonst nichts nöthig ist als dir zu folgen und zu sehen was du mir zeigst, bin ich dein Mann.

SOKRATES. Nun so komm denn mit, und mögen uns die Götter Glück zu unsrer Jagd verleihen!

GLAUKON. Das ist auch mein Gebet.

SOKRATES. Der Ort scheint mir ziemlich steil und so verwachsen und dunkel, daß kaum fortzukommen ist. Wollens aber doch versuchen!

GLAUKON. Das wollen wir!

SOKRATES. Heyda! Heyda, Glaukon! Mich däucht ich bin auf die Spur gekommen; nun soll sie uns hoffentlich nicht entwischen.

GLAUKON. Das ist mir lieb zu hören.

SOKRATES. Ey, ey! was seh ich? da haben wir ja alle beide einen erzdummen Streich gemacht!

GLAUKON. Wie so?

SOKRATES. Sind wir nicht auslachenswerth, daß wir uns so viele Mühe gaben etwas zu suchen, das uns gleich vom Anfang an so nahe lag? Wir sahen darüber weg, und suchten in der Ferne, was uns diese ganze Zeit über vor den Füßen herum kollerte.

GLAUKON. Wie soll ich das verstehen?

SOKRATES. Ich will sagen, wir reden und hören schon wer weiß wie lange davon, und merkten nicht, daß wir nur mit andern Worten von nichts andern redeten.

GLAUKON. Welche lange Vorrede für einen, dessen Wißbegierde du so sehr erregt hast!

SOKRATES. Nun so höre denn!« –

Ich gestehe sehr gern, Eurybates, daß mir die Natur den besondern Sinn versagt hat, der dazu gehört, um an dieser niedrig komischen Vorbereitungsscene zu einer so ernsthaften Untersuchung Geschmack zu finden. Ich erkenne in dieser unzeitig schäkerhaften Hasenjagd, wobey der Leser sich noch allerley possierliche Geberdungen und Grimassen hinzu denken muß, höchstens eine verunglückte Nachahmung irgend einer Aristofanischen Possenscene, und allenfalls den Pseudo-Sokrates der Wolken, aber nichts weniger als die fröhliche Laune dieses immer heitern und wohlgemuthen, aber zugleich immer gesetzten und die Würde seines Karakters nie vergessenden Sokrates, mit welchem ich lange genug gelebt habe, um das feine Salz, womit sein Scherz gewürzt zu seyn pflegte, von dem widerlichen Meersalz unterscheiden zu können, worein Plato hier (im Zorn der Grazien, die ihm sonst hold genug zu seyn pflegen) einen so unglücklichen Mißgriff gethan hat.

Und was ist nun das Resultat der Entdeckung, die er itzt auf Einmahl gemacht haben will, nachdem er uns schon so lange in so weit ausgehohlten Kreisen um den Brey herumgeführt hat? Oder vielmehr, wie sieht denn der Vogel aus, den er diese ganze Zeit über in der Hand hatte, und uns in einem Anstoß von jugendlich muthwilliger Spaßhaftigkeit selbst so lange in allen Hecken und Büschen suchen half? – Man erwartet, wie billig, daß er sich endlich entschließen werde die Hand aufzuthun, und dem armen, vor Neugier und Ungeduld beynahe platzenden Glaukon den seltnen Wundervogel vorzuzeigen. Aber nein! dieser Sokrates sagt und thut nichts wie andre Menschenkinder, und bey ihm wird uns das schale Vergnügen einer immerwährenden Überraschung bis zur Übersättigung zu Theil. Er öffnet zwar die Hand nur eben so weit, daß das Vögelchen mit der Spitze des Schnabels hervorgucken kann, macht sie aber sogleich wieder zu, fängt wieder von neuem zu subtilisieren und schikanieren an, und wozu? – Um durch eine Menge unnöthiger Fragen (womit er den ehrlichen Glaukon und uns um so billiger verschonen konnte, da das Alles im Vorhergehenden bereits einige Stunden lang mit der mühseligsten Genauigkeit aufs Reine gebracht worden war) und durch eine lange Reihe von Gleichungen zu unsrer großen Verwunderung endlich heraus zu bringen: die Gerechtigkeit seiner Republik bestehe darin, daß ein jeder einzelner Bürger der drey Klassen, aus welchen sie zusammen gesetzt ist, schlechterdings nur das Eine, wozu er am meisten Geschick hat und wodurch er dem Ganzen am nützlichsten seyn kann, und sonst nichts anders treibe.

Wenn ich die verschiedenen, zum Theil sehr verschraubten Formeln, in welcher er diesen Satz aufstellt, recht verstehe, so läuft alles darauf hinaus: daß in seiner Republik jeder Mensch und jedes Ding gerade das ist, was es seiner Natur und Bestimmung nach seyn soll; oder um die Sache noch kürzer zu geben: daß Jedes das, was es ist, immer ist. Da ein Wort doch weiter nichts als das Zeichen einer Sache, oder vielmehr der Vorstellung die wir von ihr haben, ist, so kann es dem Wort Gerechtigkeit allerdings gleich viel seyn, was Plato damit zu bezeichnen beliebt; aber der Sprache ist dieß nicht gleichgültig; und ich sehe nicht mit welchem Recht ein einzelner Mann, Filosof oder Schuster, sich anmaßen könne, Worte, denen der Sprachgebrauch eine gewisse Bedeutung gegeben hat, etwas anders heißen zu lassen als sie bisher immer geheißen haben. Was Plato unter verschiedenen Formeln Gerechtigkeit nennt, ist bald die innere Wahrheit und Güte eines Dinges, die ihm eben dadurch, daß es recht ist, oder daß es ist was es seyn soll, zukommt; bald die Ordnung, die daraus entsteht, wenn viele verschiedene mit einander zu einem gewissen Zweck in Verbindung stehende Dinge das, was sie vermöge dieser Verbindung seyn sollen, immer sind; bald die Harmonie, die eine natürliche Wirkung dieser Ordnung ist. Aber fürs erste, wenn sein Geheimniß weiter nichts als das war, so hätte er uns, däucht mich, die Mühe einer so langwierigen und langweiligen Iniziazion ersparen können; und zweytens wird es, wenigstens außerhalb seiner eigenen Republik, wohl immer bey der gewöhnlichen allenthalben angenommenen Bedeutung des Wortes Gerechtigkeit verbleiben; und der alte Simonides wird um so mehr Recht behalten, da alle Platonische Formeln ohne große Mühe sich mit der seinigen in Gleichung setzen lassen. Denn, indem die Obrigkeit in seinem Staat das ist, was sie seyn soll und nichts anders, erhält und giebt sie (wie er beyläufig selbst gesteht) dem Staat und jedem einzelnen Gliede desselben, was sie ihm vermöge ihrer Bestimmung schuldig ist; und eben dasselbe gilt von der Klasse der Beschützer oder Soldaten, und von den sämmtlichen Künstlern, Handwerkern, Feldbauern, Kaufleuten, Krämern u. s. w. welche Plato mehr seiner Hypothese zu Gefallen, als aus hinlänglichem Grunde, ohne sich viel um sie zu bekümmern, in die dritte Klasse zusammen geworfen hat.

Unser Platonisierender Sokratiskus hatte sich anheischig gemacht, am Beyspiel einer gerechten Republik im Großen zu zeigen, was Gerechtigkeit in der Seele eines Menschen gleichsam im Kleinen sey. Das erste also, was ihm oblag, war, das Bild eines gerechten, d. i. in sich selbst vollendeten oder vollkommenen Staats zu entwerfen; und dieß ist es, was er bisher nach seiner Weise geleistet hat. Er fand daß ein ächtes Gemeinwesen – dessen Grundgesetz ist, daß jedes Glied desselben ausschließlich ein einziges zum Wohl des Ganzen unentbehrliches Geschäft treibe und dazu erzogen werde, – nothwendig aus drey Klassen von Bürgern, aus Regenten, Räthen und Aufsehern, aus bewaffneten Beschützern, und aus einer für die Wohnung, Nahrung, Kleidung, Bewaffnung und andere solche Bedürfnisse des Staats und seiner Bürger um Lohn arbeitenden Klasse bestehen müsse; und daß auf der Einschränkung eines jeden Bürgers in den Kreis der einzigen Beschäftigung, wozu er am besten taugt, und auf der strengsten Unterwürfigkeit unter die Gesetze und die Regierung, die gesunde Beschaffenheit des Staats (die ihm Gerechtigkeit heißt) so wie auf dieser die Erhaltung und der Wohlstand desselben beruhe.


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