Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

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XI.
Aristipp an Kleonidas.

Es wäre schwer, bester Kleonidas, dir zu beschreiben, wie mir zu Muthe ward, als ich mich am dritten des letztverwichnen Munychions wieder in dem reitzenden Landsitz unsrer Freundin befand, den ich seit dem Anfang des zweyten Jahres der fünf und neunzigsten Olympiade nicht wieder gesehen hatte. Die neun Jahre, um die ich indessen älter geworden bin, haben ihm nicht nur allen Reitz der Neuheit wieder gegeben, sondern die Wirkung seines eigenen Zaubers noch durch tausend verwandte Erinnerungen verstärkt. Als ich an ihrer Hand zum ersten Mahl wieder in den Garten trat, tauchten plötzlich die Bilder der schönsten Gegenden und Lustörter, die ich binnen dieser Zeit gesehen hatte, in meinem Gedächtniß auf, und gewährten mir, indem sie sich an die vor mir liegenden Scenen anschlossen, einen unbeschreiblichen Augenblick. Aber fast eben so plötzlich wurden sie wieder, wie morgenröthliche Duftgestalten von der aufgehenden Sonne, von dem lebendigern Gefühl des Gegenwärtigen verschlungen. Weder Panionions liebliche Gefilde, noch die zauberischen Hügel und Thäler von Lesbos, noch das Elysische Tempe hatte ich an Ihrem Arm gesehen; in keinem von jenen zweymahl die schönste der Horen mit Ihr gefeiert, in keinem den Bund ewiger Freundschaft am Altar der Grazien mit Ihr beschworen. Welchen magischen Glanz gossen alle auf Einmahl erwachende Bilder der Vergangenheit über alles aus was ich sah, über jede Stelle, die ich betrat! über jede schattende Baumgruppe, unter welcher wir saßen, jede unter Blumengewinden hin schleichende Quelle, an deren Rande wir lustwandelten, jede dunkle Myrtenlaube, jede stille Grotte, die unsre glücklichsten Augenblicke unter den Zauberschleier des Geheimnisses bargen! – Könntest du dich wundern, daß dieß alles mein Gemüth in eine Stimmung setzte, die den Wunsch, mit welchem ich nach Ägina gekommen war, zu Hoffnung erhöhte, und, da Lais selbst durch eine gewisse, mir an ihr ungewohnte Innigkeit ihres ganzen Betragens gegen mich, ähnliche Gefühle zu verrathen schien, mich einige Tage lang glauben ließ, es könnte mir vielleicht gelingen, ihr meinen Plan für ihr künftiges Leben unvermerkt als ihr eigenes Werk in die Seele zu spielen? – Aristipp kann also auch schwärmen, wirst du denken? – Ich gesteh' es, und lasse mir's nicht leid seyn; im Gegentheil, da ich die Gabe habe, daß eine getäuschte Hoffnung für mich nichts weiter ist als das Erwachen aus einem schönen Traum, so danke ich der Natur auch für jeden Genuß, den sie mir in Träumen schenkt. Aber wozu hier diese voreiligen Betrachtungen, da alles noch so lächelnde Anscheinungen hat?

Unsre Freundin hat sich in den drey Jahren, die seit unserer Zusammenkunft zu Rhodus verflossen sind, so wenig verändert, daß ihre Schönheit vielmehr noch immer im Zunehmen zu seyn, und sogar von dem frischen Glanz der ersten Jugend nichts verloren zu haben scheint. Doch auch dieß ist vielleicht nur ein täuschender Schluß von Gleichheit der Wirkung auf Gleichheit der Ursache; denn es ist nicht unmöglich, daß die größere Sicherheit immer zu gefallen, und die größere Vollkommenheit in der Kunst zu gefallen, das Wenige, was Sie durch die Zeit verloren haben könnte, doppelt und dreyfach ersetzt. Dem sey wie ihm wolle, gewiß ist daß ich sie noch nie so äußerst liebenswürdig, nie in einer so sanften, beynahe möcht' ich sagen zärtlichen Stimmung gesehen habe, als in den ersten Tagen unsrer Wiedervereinigung. Sie schien sich nur in dem einfachsten ländlichsten Anzug zu gefallen. Das Marmorbecken vor ihrem Schlafgemach, worein ein schelmisch lächelnder Amor das Wasser aus seiner umgekehrten Fackel gießt, vertrat diese ganze Zeit über die Dienste der krystallenen Näpfchen und Alabasterbüchsen, womit ihr Putztisch beladen zu seyn pflegt. Ein leichtes weißes Gewand, eine Rose in den kunstlos sich ringelnden Locken, ein Veilchenstrauß am Busen, waren ihr ganzer Putz. Kurz, sie spielte eine Art Arkadischer Schäferin aus der goldnen Zeit, mit so viel Natur und Anmuth, als ob sie nie etwas anders gewesen wäre. Sie schien in diesen glücklichen Tagen beynahe für mich allein da zu seyn; und ich? – du kennst meine Weise – alles Gute (und wahrlich auch das Angenehme ist gut) dankbar anzunehmen und zu genießen, ohne zu fragen, oder mir Kummer darüber zu machen, wie lang' es dauern werde. Aber wenn ich sage, daß in einer einzigen Dekade wie diese mehr Lebensgenuß ist, als in neunzig Jahren, wie man gewöhnlich zu leben pflegt, so glaube ich keinen übermäßigen Werth auf sie gelegt zu haben.

Eufranor, der auf dem Fuß einer vertrauten Freundschaft mit ihr steht, und dieses Vorzugs in mehr als Einer Rücksicht würdig scheint, hat eine Arbeit mitgebracht, womit er so eifrig beschäftigt ist, daß man ihn, außer bey Tische, nur in seiner Werkstatt zu sehen bekommen kann. Vielleicht ist dieß zwischen Lais und ihm so verabredet worden; doch halte ich ihn für edel und bescheiden genug, aus eigner Bewegung die Rechte einer ältern Freundschaft ohne Scheelsucht anzuerkennen. Überdieß scheint mir ein geheimes Verständniß zwischen ihm und einer von den Zöglingen unsrer Freundin vorzuwalten, wodurch ihm (wofern ich recht beobachtet hätte) die Tugend der Selbstüberwindung freylich so sehr erleichtert würde, daß sie beynahe aufhörte verdienstlich zu seyn.

Eufranor ist ein eben so gelehrter als geschickter Künstler; Bildner und Mahler zugleich, beiden Künsten mit gleicher Liebe zugethan, und in beiden gleich stark; was vielleicht Ursache seyn könnte, daß er in keiner die hohe Stufe der Vortrefflichkeit und des Ruhms erreichen wird, die ihm nicht fehlen könnte, wenn er sich einer von beiden allein widmete. Sein Kunstsinn will sich aber um so weniger auf ein einzelnes Fach einschränken lassen, da es ihm in allen gelingt, und die Abwechslung (wie es scheint) großen Reitz für ihn hat. Was er dermahlen für Lais arbeitet, ist ein goldner Becher, dessen Deckel, ein einziger herrlicher Sardonyx aus der Persischen Beute, mit halberhobenen Figuren von großer Schönheit von ihm geziert wird. Seit kurzem hat er angefangen, sich vorzüglich mit der Wachsmahlerey zu beschäftigen, die er der lebhaftern Wirkung und größern Dauerhaftigkeit wegen der gewöhnlichen mit dem Pinsel vorzieht, und zu einem bisher noch nie gesehenen Grade von Vollkommenheit zu bringen hofft. Man tadelt an seinen Werken, daß er die Köpfe, vornehmlich an seinen heroischen Figuren, zu groß mache,S. Plinii Hist. Natur. L. 35. c. 11. Euphranor – fecit et Colossos, et marmora, ac scyphos scalpsit; docilis et laboriosus ante omnes et in quocunque genere excellens atque sibi aequalis. Hic primus videtur expressisse dignitates Heroum et usurpasse symmetriam; sed fuit universitate corporum exilior, capitibus articulisque grandior. Volumina quoque composuit de Symmetria et coloribus. Alles dieß hängt nicht sonderlich zusammen, scheint aber durch das, was Aristipp in diesem Briefe von Eufranorn sagt, und diesen selbst sagen läßt, wenigstens was den ihm gemachten Vorwurf betrifft, ein ziemlich befriedigendes Licht zu erhalten. worüber man sich, wenn der Tadel gegründet wäre, um so mehr verwundern müßte, da er ein Buch über die Symmetrie geschrieben hat, und sich mit dem Fleiß, womit er diesen Theil der Kunst studiert habe, nicht wenig weiß. »Daß man, sagt er, meine Köpfe zu groß findet, hat eine sehr natürliche Ursache: es kommt nicht daher, daß meine Köpfe zu groß, sondern daß der andern ihre zu klein sind. Übermaß taugt in allen Dingen nichts: aber was an jedem Dinge zu viel und zu wenig ist, läßt sich nicht durch eine einzige allgemeine Formel bestimmen. Schwerlich wird man mir beweisen können, daß ich in der Proporzion meiner Köpfe über die schöne Natur hinausgehe; von dem gemein angenommenen Maß hingegen entferne ich mich geflissentlich, weil der Kopf unstreitig derjenige Theil ist, worin der Geist und Karakter an Menschen und Thieren sich am stärksten und deutlichsten ausspricht; wiewohl ich nie vergesse, daß alle, auch die kleinsten Gliedmaßen des menschlichen Körpers mehr oder weniger karakteristisch sind. Nur dann, wenn die Köpfe meiner Heroen durch das proporzionelle größere Verhältniß, das ich ihnen gebe, nicht auch an Bedeutsamkeit und Energie gewinnen, verdiene ich Tadel; und dieß ist noch auszumachen.« Ob Eufranor Recht hat, überlasse ich deinem Urtheil. Mir sind die Köpfe in den wenigen Werken, die ich von ihm gesehen habe, nicht größer vorgekommen als sie seyn sollen. Aber das geübte und gelehrte Auge des Kenners mißt freylich schärfer, als der Blick eines bloßen Liebhabers.


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