Christoph Martin Wieland
Aristipp
Christoph Martin Wieland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

X.
An Kleonidas.

Du bist begierig von mir zu erfahren, was für eine Bewandtniß es mit dem Dämonion des Sokrates habe, von welchem dir dein Megarischer Gastfreund, wie es scheint, seltsame und unglaubliche Dinge erzählt hat. »Was denkt sich Sokrates dabey? Von welcher Gattung Dämonen ist dieses Dämonion? Hat es eine Gestalt? Oder ist es eine bloße Stimme, die ihm leise ins Ohr flüstert, oder vielleicht ohne Worte sich nur dem innern Sinne vernehmbar macht? Oder wirkt es etwa bloß durch leise Berührung? im Wachen oder im Traum? Gefragt oder ungefragt? Häufig oder selten? Hat es nie getäuscht? Sind die Dinge, die es ihm vorhersagt, so beschaffen, daß es schlechterdings unmöglich ist sie vorher zu sehen? Oder läßt sich begreifen, wie ein Mann von scharfem Blick in den Zusammenhang der Dinge sie auch ohne Dämonion errathen konnte?«

Alle diese kleine Fragen, mein Freund, könnte uns niemand besser beantworten als Sokrates selbst. – »Warum fragst du ihn denn nicht?« – Ich wollt' es wirklich; zwey oder dreymahl lag mir die Frage schon auf der Zunge: aber immer hielt mich ein ich weiß nicht was, eine Art von Scheu zurück, als ob ich im Begriff wäre etwas unziemliches zu thun. Aufrichtig zu reden, Kleonidas, ich schäme mich ein wenig, mit einem so ehrwürdigen alten Glatzkopfe von – seinem Dämonion zu reden, und es ist mir gerade so dabey zu Muthe, als ob ich ihn fragen wollte, was ihm diese Nacht geträumt habe? Wenn ich aber auch über diese Scham Meister werden könnte, so würde ich vermuthlich nicht mehr damit gewinnen als einer meiner Kameraden, Simmias von Theben, der sich das Herz nahm, eine Frage über sein Dämonion an ihn zu thun, und keine Antwort von ihm erhielt. Im Gegentheil (sagte mir Simmias in seiner böotischen Treuherzigkeit) er drehte sich mit einem so finstern Blick von mir weg, daß mir die Lust ihn wieder zu fragen auf immer vergangen ist.

Weil also, wie du siehst, die Quelle selbst, aus welcher wir allenfalls die reinste Wahrheit zu schöpfen hoffen dürften, unzugangbar ist, so wirst du dich schon an dem begnügen müssen, was ich von seinen ältern Freunden und Anhängern, nach und nach, meistens nur tropfenweise habe heraus pressen können. Denn es ist als ob sie Bedenken trügen, sich offenherzig gegen mich heraus zu lassen; woran freylich wohl die etwas unglaubige Miene Schuld seyn mag, die ich bey solchen Gelegenheiten nicht völlig in meine Gewalt bekommen kann. Ich habe immer bemerkt, daß Personen, die mit der Neigung wunderbare Dinge zu glauben etwas reichlich begabt sind, sich zurück gehalten fühlen, mit kalten Köpfen so freymüthig und nach Herzenslust von solchen Dingen zu sprechen, wie sie mit ihres gleichen zu thun pflegen. Was ich indessen von der Sache selbst herausgebracht habe (denn an den Meinungen dieser Leute kann dir nicht viel gelegen seyn) läuft auf folgendes hinaus.

Sokrates glaubt, durch eine besondere göttliche Schickung von Kindheit an eine Art von ihm allein hörbarer Stimme vernommen zu haben, als ein Warnungszeichen, wenn er etwas beginnen wollte, dessen Ausgang oder Erfolg ihm nachtheilig gewesen seyn würde. Über die Art und Weise, wie diese angebliche Stimme ihm vernehmbar werde, hat er sich nie erklärt: gewiß aber ist, daß er sie für etwas Göttliches hält (δαιμονιον τι), oder genauer zu reden, für etwas divinatorisches von eben der Art, wie die Götter, nach dem gemeinen Volksglauben (welchem auch Er immer zugethan war) durch Orakel, oder die Eingeweide der Opferthiere, den Flug gewisser Vögel, und andere solche Anzeichen, den Menschen zukünftige Dinge, die sich durch keinen Grad menschlicher Klugheit und Erfahrenheit vorhersehen lassen, andeuten sollen. Niemand hat ihn je sagen gehört, daß er einen eigenen Dämon habe; dieß aber ist gewiß, daß er diese wahrsagende Stimme, – die er jedesmahl so oft er selbst oder seine Freunde etwas, das zu ihrem Verdruß oder Schaden ausgefallen wäre, unternehmen wollte, zu vernehmen glaubte, – für eine göttliche Wirkung hielt, und sich daher der Ausdrücke »die Stimme, oder das Dämonion, oder Gott hat mich gewarnt« als gleichbedeutend zu bedienen pflegte. Auch darüber, wie er dazu gekommen sey, die Bedeutung dieses göttlichen Warnungszeichens zu verstehen, hat er sich nie erklärt; vermuthlich mag es ihm in seiner frühen Jugend öfters begegnet seyn, einer Stimme, deren Sprache ihm noch unbekannt war, nicht zu achten; weil es ihm aber jedesmahl übel bekam, so ward er endlich aufmerksamer, und entdeckte auf diese Weise die Meinung und Absicht derselben. Auch ist bemerkenswerth, daß – nachdem er sich durch häufige Erfahrungen ein für allemahl überzeugt hatte, daß die Stimme sich allezeit richtig hören lasse, so oft er, oder einer seiner Freunde in seiner Gegenwart, etwas das unglücklich für ihn ausgegangen wäre, unternehmen oder beschließen wollte, – er nun auch das Stillschweigen derselben für ein sicheres Zeichen nahm, daß der Himmel sein Gedeihen zu dem, was er oder seine Freunde vornehmen wollten, geben werde: so daß er also diese Wundergabe sowohl auf der rechten als auf der umgekehrten Seite als Warnungs- und Billigungszeichen gebrauchen konnte. Zum Beweise, wie übel der Ungehorsam gegen die Warnungen dieses Orakels einigen Bekannten des Sokrates bekommen sey, sind mir verschiedene Beyspiele erzählt worden, womit ich dich verschonen will, da dir diese Leute unbekannt sind, und die Umstände, in welche ich mich einlassen müßte, kein Interesse für dich haben können. Genug, daß ich diese Thatsachen zum Theil aus dem Munde unverwerflicher Zeugen habe, und daß wenigstens nicht leicht zu erklären wäre, was den Sokrates hätte bewegen können, die besagten Personen durch ein erdichtetes Vorgeben, er höre das gewohnte Warnungszeichen, von Ausführung dessen, was sie im Sinne hatten, zurück zu halten. Übrigens muß ich zur Steuer der Wahrheit noch hinzu thun, daß ich den Sokrates selbst in den zwey Jahren, seitdem ich ihn alle Tage sehe und ihm oft in ganzen Wochen nicht von der Seite komme, dieser ihm beywohnenden Art von Divinazion mit keinem Wort erwähnen gehört habe. Dieß kann zufälliger Weise, oder vielleicht wohl gar auf Abrathen des Dämonions selbst geschehen seyn: denn ich habe zuweilen einen Argwohn, daß es mir nicht recht grün ist, und bin ziemlich geneigt, ihm die Schuld zu geben, daß Sokrates mich mit einer gewissen Zurückhaltung und Kälte zu behandeln scheint, die ich mir lieber aus dieser als irgend einer andern Ursache erklären mag. Indessen beruht die Sache auf so übereinstimmenden Zeugnissen aller, die schon viele Jahre mit ihm gelebt haben, daß es ungereimt wäre, daran zweifeln zu wollen, daß er wirklich und schon von langer Zeit her diese übernatürliche Einwirkung zu erfahren vorgegeben habe.

Und hat er dieß vorgegeben, so zweifle ich nicht, und auch du, Kleonidas, würdest, wenn du nur ein paar Tage mit ihm umgegangen wärest, keinen Augenblick zweifeln, daß er selbst von der Realität der Sache vollkommen überzeugt ist.

»Aber wie sollen wir uns die Möglichkeit einer solchen Überzeugung, bey einem so verständigen, gesetzten und helldenkenden Manne, wie Sokrates ist, erklären?« fragst du. – Es giebt der Dinge so viele, mein Freund, die wir uns nicht erklären können, daß es auf Eines mehr oder weniger nicht ankommt. Soll ich dir indessen freymüthig sagen was ich denke? – Sokrates ist unleugbar ein sehr weiser Mann; aber am Ende sind wir doch alle – von Weibern geboren; und wem hängt nicht irgend eine Schwachheit an, die ihn mit allen andern so ziemlich auf gleichen Fuß setzt? Die seinige ist, (unter uns) daß er ein wenig aberglaubischer ist als einem weisen Manne ziemt. Es scheint wirklich ein Erbstück von seiner Mutter oder Großmutter zu seyn. – »Aberglaubisch? Sokrates aberglaubisch?« rufst du. – Ja, Kleonidas! entweder aberglaubisch, oder der größte Heuchler, den je die Sonne beschienen hat. Das letztere ist er nicht, bey Gott, kann er nicht seyn! – Also jenes! Oder wie nennst du den, der, nicht zufrieden in solchen Dingen den Gesetzen seines Landes genug zu thun, in ganzem Ernst an alle Götter und Göttinnen, von Uranus und Ge bis zum kleinsten Quellnymfchen auf dem Pernes, an Orakel, profetische Vögel, Träume und Anzeichen aller Arten glaubt, und seine Freunde nach Delfi oder Klaros schickt, um sich Raths zu erhohlen, ob das, was sie beginnen wollen, wohl von Statten gehen werde? Der Grund dieser Anhänglichkeit an den gemeinen Volksglauben muß tief und fest bey ihm sitzen, da Anaxagoras selbst, zu welchem er doch schon in seiner Jugend freyen Zutritt hatte, es nicht weiter bey ihm brachte, als ihm in den reinern Begriffen von der Gottheit in neues Mittel zu Unterstützung des Aberglaubens an die Hand zu geben. – »Die Gottheit, oder die Götter (denn er pflegt sich ohne Unterschied bald auf die eine bald auf die andere Art auszudrücken) die Gottheit also, sagt er, welche für alle Dinge, um des Menschen willen, und für den Menschen allein, als ihren Liebling, um seiner selbst willen sorgt, hat ihn mit einem Körper, woran alles zu seinem bequemsten Gebrauch und Nutzen aufs künstlichste eingerichtet ist, versehen; und damit er im Stande sey, alle mögliche Vortheile aus der Natur der Dinge zu ziehen, hat sie ihm die Vernunft mitgetheilt, um ihre Eigenschaften und Beziehungen auf ihn zu erkennen und sie zu dem, was sie seyn sollen, zu Mitteln seines eigenen Zwecks zu machen. Aber seine Vernunft dringt nicht so tief in den Zusammenhang der Dinge, daß sie ihm auch ihre künftigen Verknüpfungen und den Nachtheil, der seinen Unternehmungen dadurch zuwachsen kann, hinlänglich zu enthüllen vermochte. Sie zeigt ihm wohl, wo, wann und wie er handeln soll; aber die Folgen und der Ausgang seines Thuns und Lassens bleiben meistens ungewiß. Sollten die Götter für ihren Liebling nicht besser gesorgt haben, als ihn ohne alle Gewähr und auf bloßes Gerathewohl im Dunkel der Zukunft umher tappen zu lassen? Allerdings! Sie selbst kommen der Unzulänglichkeit seiner Vernunft zu Hülfe, und entschleiern, so weit sie es ihm nöthig oder zuträglich finden, durch Orakel, Träume und Vorbedeutungen die Zukunft vor ihm. Da es also in seiner Macht steht, sich auf diesem Wege über den Ausgang seiner Unternehmungen zu unterrichten, so wäre es eben so thöricht und gottlos, diesen ihm angebotenen Beystand der Götter zu verachten, als es thöricht und vermessen wäre, wenn er in Dingen, worin seine Vernunft ihm hinlängliches Licht geben kann, zu Orakeln und Divinazionen seine Zuflucht nehmen wollte.«

Was meinst du, Kleonidas, sollte ein Mann von sehr lebhaftem Geiste, der so räsonniert, nicht unvermerkt dahin gelangen können, das divinatorische Vermögen der Vernunft, das in höherm oder geringeren Grade allen Menschen beywohnt, zumahl das dunkle Vorgefühl eines Übels, welches uns oder andere unter gewissen Umständen und Anscheinungen treffen könnte, für einen Wink der Gottheit, eine seinem Innern zuflüsternde dämonische Stimme, zu halten, und wenn etwa der Erfolg zufälliger Weise einem solchen vermeinten Wink entsprochen hätte, sich in seiner Einbildung dergestalt zu bestärken, daß was vielleicht Anfangs eine bloße Vermuthung war, ihm endlich zur Gewißheit würde; und dieß um so leichter, wenn er, wie Sokrates, sich angewöhnt hätte, von der Gottheit, nach morgenländischer Weise, bey allen Gelegenheiten so zu reden, als ob sie die unmittelbare Ursache aller natürlichen und menschlichen Dinge sey?

Doch bin ich nicht selbst ein Thor, dich und mich mit einer Sache dieser Art so lange aufzuhalten? Muß denn an einem so ungewöhnlichen Manne, wie Sokrates, alles so begreiflich wie an einem Alltagsmenschen seyn?

Die neuesten Berichte, die ich aus Cyrene erhalte, lassen mich ohne Dämonion voraussehen, daß Ariston, durch das Übergewicht, das ihm seine eigennützige Freygebigkeit bey der zahlreichsten und handfestesten Volksklasse verschafft, vermuthlich in kurzem den Sieg über seine Nebenbuhler davon tragen, und es in seine Gewalt bekommen wird, der Republik eine neue Gestalt zu geben. Ob auch eine bessere?

– das liegt im Schooße der Götter.

Immer finde ich, daß deine Familie nicht übel gethan hat, sich, wie du mir meldest, noch in Zeiten und mit guter Art an die Partey anzuschließen, die, allen Anscheinungen nach, das Spiel gewinnen wird. Wenn man keine Hoffnung hat, etwas fürs Allgemeine ausrichten zu können, so gebietet die Klugheit, wenigstens für sich selbst zu sorgen. Aber sollte denn wirklich für die Republik nichts mehr zu thun seyn? Ich fürchte, nein! und sehe, bey der allgemeinen Verderbniß unsrer Sitten, es noch für ein Glück an, daß es keine energische Seelen unter uns giebt, die uns den schnell verlodernden Enthusiasmus für Freyheit und Gleichheit, unter dessen Gewalt wir gar bald zusammen sänken, mit schrecklichen Krämpfen und Zuckungen büßen lassen würden. In unsrer Lage wäre vielleicht das schlimmste was begegnen könnte, wenn die demokratische Partey Mittel fände, sich der Zügel zu bemächtigen. Indessen, da der Ausgang bürgerlicher Unruhen immer ungewiß ist, rathe ich dir und deinen Freunden, es mit keiner Partey ganz zu verderben, und keine so eifrig zu nehmen, daß ihre Niederlage auch euern Untergang nach sich ziehen müßte.


 << zurück weiter >>