Ludwig Fulda
Melodien
Ludwig Fulda

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Der alte Weise

I

        Einsam steht des alten Weisen
Häuslein auf dem Felsen droben
Wo die wilden Adler kreisen,
Wo die rauhen Stürme toben.

Talwärts mag er nimmer wallen;
Nimmer öffnet er die Pforte,
Hört er von dem Berge hallen
Menschenschritt und Menschenworte.

Doch in abendlicher Stunde
Labt er sich an heitrem Feste,
Und an seiner Tafelrunde
Drängen sich willkommne Gäste.

Traulich nahn ihm die verwandten,
Die geschiednen großen Geister,
Steigen aus den Folianten,
Neu belebt vom stillen Meister;

Geben Antwort jeder Frage,
Lindern jedes Zweifels Nöte,
Und ein schwelgendes Gelage
Eint sie bis zur Morgenröte.

II

        Jung war einst der alte Weise,
Wohnte drunten in dem Tale;
Tänzer schwangen sich im Kreise,
Zecher hoben die Pokale.

Und er fand sich fortgerissen
Zu dem herrlichsten Gewinne:
Glühend war sein Drang nach Wissen,
Glühnder seine jungen Sinne.

In dem Haus, dem trauten, kleinen,
Nimmer öffnet' er die Pforte,
Tauschte einsam mit der Einen
Liebesblick und Liebesworte.

Mit dem treuesten Genossen,
Dem allein er Wünsche, Taten
Und sein Heiligtum erschlossen,
Hat die Treue ihn verraten.

Einen Dämon hört' er rufen:
Tilg den Frevel, töte, töte!
Und bewußtlos auf den Stufen
Lag er um die Morgenröte.

III

        Einsam steht des alten Weisen
Häuslein auf dem Felsen droben,
Wo die wilden Adler kreisen,
Wo die rauhen Stürme toben.

Talwärts wird er heute wallen;
Offen steht die schmale Pforte,
Und gedämpft vom Berge hallen
Menschenschritt und Menschenworte.

Doch er höret nicht die Kunde,
Seine Lippe bleibt verschwiegen;
Zu der hehren Tafelrunde
Ist er selbst emporgestiegen.

Und die hohen Geister werden
Ihn empfahn in ihrer Mitten:
»Alle haben wir auf Erden
So wie du geliebt, gelitten.

Antwort finden deine Fragen,
Heilung deines Zweifels Nöte,
Wenn sie dich zu Grabe tragen
Drunten in der Morgenröte.«

 

 


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