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Als über die Lande zum erstenmal
Sich flammend ergoß wie ein Morgenstrahl
Des Geistes siegende Leuchte,
Und als der Taggott, jauchzend und jung,
Die lange, die lastende Dämmerung
Mit blitzendem Schwerte verscheuchte,
Rief Ulrich von Hutten, der sonnige Held,
Die Brust von wagendem Mute geschwellt,
Das Herz dem Morgen ergeben:
»O goldene Zeit! O herrliches Glühn!
Die Wissenschaften, die Künste blühn;
Es ist eine Lust zu leben!«
Auf Morgenröte und Lerchenschlag
Kam ernst und gebietend der nüchterne Tag,
Kam Not und Kampf und Ermatten;
Das Frühlied wich vor dem Kriegesruf,
Die Knospe starb unter stampfendem Huf,
Und länger wurden die Schatten.
Die Sonne, die einst so verheißend geglüht,
Sank tiefer und tiefer, bis todesmüd
Ihr letzter Schimmer verglommen;
Da wurde der Trunk dem Zecher vergällt,
Da welkte die Lust, da war in die Welt
Schwermütig der Abend gekommen.
So fordert das Schicksal sein eisernes Recht,
So wechseln die Zeiten dem Menschengeschlecht:
Weh dem, der am Abend geboren,
Sofern er nicht selber nach göttlicher Art
In mächtigem Herzen die Sonne bewahrt,
Die all seine Brüder verloren.
Und wer aus des Nichtseins dunkeler Nacht
Zum Leben und Denken und Schaffen erwacht,
Zum Kämpfen und Leiden und Sorgen,
Der frage sich, ehe die mutige Hand
Den Hammer ergreift und das Schwert umspannt:
Ist Abend oder ist Morgen?
So fragt auch der Völker aufhorchende Schar,
Wenn wieder und wieder ein Weltenjahr
Ins schweigende Meer sich ergossen;
So fragt die Hoffnung, so fragt das Leid,
Wenn zwischen vergangner und künftiger Zeit
Das eherne Tor noch verschlossen.
Wird reifen zur Ernte die schlummernde Saat?
Ist Sieg verheißen der keimenden Tat?
Darf wagende Jugend frohlocken?
Wird Totes erstehn? Ist Altes erneut?
Ist Abend, ist Morgen? So fragen wir heut
Beim Klingen der festlichen Glocken.
Wohl haben dem Tage, der längst entschwand,
Viel trauernde Herzen sich zugewandt
In abendlich düsterem Sinnen;
Sie trotzen des Todes zermalmender Macht
Und wollen aus modernder Kirchhofpracht
Ein neues Leben gewinnen.
Sie schmücken die Särge mit Frühlingslaub,
Sie graben geschäftig aus Schutt und Staub
Kleinode, die bröckeln und rosten,
Und weil sie beschwören den finsteren Tod,
Drum stehen sie blind vor dem Morgenrot,
Das freudig leuchtet im Osten.
Ja, Morgen ist! Wir fühlen es tief;
Wir glauben's der Lerche, die schmetternd rief,
Den Strahlen, die festlich lohten;
Wir glauben's den Brüdern, wir glauben's dem Tag,
Wir glauben es unserem Herzensschlag
Und tausend untrüglichen Boten.
Jahrhunderte mochten in heiligem Wahn
Nacheifern den Taten, die andre getan,
Sehnsüchtig nach rückwärts schauen;
Wir blicken frisch in die Zukunft hinein
Und wollen mit eigenem Meißel und Stein
Das eigene Leben erbauen.
Selbstherrlich und frei, wie der Adler kreist,
So schwingt sich empor der forschende Geist
Und steigt hinab in die Tiefen;
Er hat den Flug der Sterne beschämt,
Er hat zu willigen Sklaven gezähmt
Die Mächte, die tatlos schliefen.
Er darf, dem Erdenbereich entflohn,
Von seinem erhabenen Weltenthron
Die Sonne brüderlich grüßen,
Und doch mit groß bescheidenem Sinn
Legt er den ganzen stolzen Gewinn
Still dienend der Menschheit zu Füßen.
Selbstherrlich und frei, wie der Adler kreist,
So schwingt sich empor der schaffende Geist
In nie vernommenen Tönen;
Er hat die Masken hinweggestreift
Und ist zu eigener Form gereift
Gleich Hellas' göttlichen Söhnen.
Er weilt nicht mehr im Olymp zu Gast,
Nicht mehr im goldenen Fürstenpalast;
Er stieg hinab in die Seelen
Und adelt des Bettlers Lumpenkleid,
Wenn Menschenlippen von Schuld und Leid
Das heilige Märchen erzählen.
Selbstherrlich und frei, werktätig und wahr,
So walle die Menschheit dem kommenden Jahr,
Dem neuen Jahrhundert entgegen;
Sie webe mit nimmer ermattender Hand
In ihr zukünftiges Feiergewand
Den Enkeln köstlichen Segen,
Bis auch der bitteren Lebensnot
In Hütten und Herzen befreiend loht
Des Morgens weckende Wonne,
Bis, wenn der Tag hinsterbend versinkt,
Die Bruderliebe herniederblinkt
Als tröstende Mitternachtssonne.
Ja, Morgen ist! Nicht länger geträumt!
Die Spitzen der Berge sind rot gesäumt
Wie flammende Freudenmale;
Nun forschet und schafft, nun kämpfet und ringt,
Auf daß ihr die dunkelen Schatten bezwingt,
Die wuchten über dem Tale!
Und gilt es zu streiten mit Geistern der Nacht,
Wir wollen im wilden Getümmel der Schlacht
Den jauchzenden Ruf erheben:
»O goldene Zeit! O herrliches Glühn!
Die Wissenschaften, die Künste blühn;
Es ist eine Lust zu leben!« |