Ludwig Fulda
Melodien
Ludwig Fulda

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September

Marienkind

        Die Mutter Gottes, die im Himmel thront,
Stieg einst hernieder im Marienmond,
Aus goldnem Füllhorn streuend ihren Segen.
Sie kam zu einem Mann, der Hunger litt,
Und sprach: Gib mir dein Kind, ich will es pflegen.
Er war's zufrieden, und sie nahm es mit.

Ei, wie's dem Kind im Himmel wohlgefiel!
Die lieben Englein halfen ihm beim Spiel
Und tranken Milch mit ihm aus gleicher Schüssel.
Maria gab mit mildem Angesicht
Zu dreizehn Himmelstüren ihm den Schlüssel:
Zwölf darfst du öffnen, nur die letzte nicht.

War das Erlaubte von so lichtem Schein,
Wie schön erst mußte das Verbotne sein! –
Schlimm war dem Kind zumut, als glanzumflossen
Marias Augen auf sie niedersahn:
Hast du die letzte Tür nicht aufgeschlossen?
Da log es: Nein, das hab' ich nicht getan.

Verbannt, vertrieben aus des Himmels Schoß
In einer Wüste wuchs das Mägdlein groß.
Ein Prinz, der sie gefunden in der Wildnis,
Wob liebend ihr den Myrtenkranz ums Haupt;
Sie ward sein Weib, schön wie ein Engelsbildnis;
Jedoch der Sprache blieb ihr Mund beraubt.

Stets, wenn ein Kindlein sie zur Welt gebracht,
Erschien die Mutter Gottes ihr zur Nacht:
Hast du die letzte Tür nicht aufgeschlossen?
Sie sagte: Nein, das hab' ich nicht getan.
Da nahm Maria ihr den jüngsten Sprossen
Und trug ihn fort auf unsichtbarer Bahn.

Die Königin, der jedes Kind verschwand,
Ward schuldig schwarzer Hexenkunst erkannt.
Der König konnt' ihr Leben nicht erkaufen;
Erst als gefesselt aus dem Kerkerloch
Sie ward geschleppt zum großen Scheiterhaufen,
Rief sie: Maria, hör, ich tat es doch!

Schon prasselte die Flamme höllenwarm.
Doch die geraubten Kindlein auf dem Arm
Stieg nun Maria aus den Wolken nieder.
Der Scheiterhaufen ward sogleich entfernt,
Die Königin bekam die Sprache wieder;
Jedoch das Lügen hatte sie verlernt.

 

 


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