Ludwig Fulda
Melodien
Ludwig Fulda

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Gleichheit

        So verschieden unsre Lose,
Und so wenig volle Gleichheit,
Dieser Lieblingstraum der Armen,
Der Gedrückten und Beladnen,
Je hienieden Wahrheit wird,
Mindestens in einem Punkte
Hat Natur bereits verwirklicht
Jenes ausnahmslos gerechte
Demokratische Prinzip.

Alle Menschen dieser Erde,
Weiße, schwarze, kupferfarbne,
Mit und ohne Rang und Titel,
Untergebne, Vorgesetzte,
Niedres Volk und hoher Adel,
Paria sowie Brahmine,
Fürst und Bettler, Tor und Weiser,
Bösewicht und Tugendspiegel –

Alle Menschen werden älter,
Vierundzwanzig Stunden täglich,
Eine Woche wöchentlich.
Kaum geboren, wird das Würmlein
Schon erfaßt vom Zeitenstrudel,
Der es pünktlich und geläufig,
Ohne Stillstand weiterrauschend,
Bis zum Grabe transportiert.
Frühe Kindheit wächst und reift,
Flinke Jugend wird behäbig,
Starke Mannheit wird gebrechlich,
Müdes Greisentum erlischt.
Und so fort in stetem Kreislauf,
Ewigkeiten rückwärts, vorwärts;
Schon unzählige Geschlechter
In des Strudels Grund versunken,
Abgetan und ausgestrichen;
Tausende noch ungeboren,
Doch des gleichen Wegs gewiß.

Wir sind eben an der Reihe,
Erst seit kurzem, nicht auf lange,
Wir, die jetzt Lebendigen.
O wie machen wir uns wichtig
Auf dem schönen Erdenball,
Grad als ob er uns gehöre
Als ein dauernd Eigentum.
Ja, wir spielen Hausbesitzer,
Wir, die nur zur Miete wohnen,
Denen schon nach wenig Jährchen
Von dem Wirt gekündigt wird,
Neuen Mietern Platz zu machen.

Welch ein Kampf und welch Getümmel!
Alle treiben, drängen, stoßen,
Um zu leben, um zu herrschen,
Und der eine schaut den andern
Unverschämt von oben an!
Keiner dünkt sich so geringe,
Daß er auf den noch Geringern
Nicht mit Stolz hinunterblickt;
Jeder dünkt sich unentbehrlich,
Weil er mit dem besten Willen
Selbst sich nicht entbehren kann.

Weiter, weiter rauscht der Strudel,
Und ihn kümmert beim Verschlingen
Nicht der anerkannte Maßstab
Unserer Vortrefflichkeit,
Nicht der Vorzug, nicht der Nachteil,
Den Geburt und Würde spenden,
Nicht des höchsten Selbstbewußtseins
Unbeschränktes Eigenlob.

O wie seid ihr ungeduldig,
Ihr Gedrückten und Beladnen
Und ihr hochgesinnten Träumer,
Daß ihr mit so wildem Eifer
Immerfort nach Gleichheit ruft.
Wartet doch ein kurzes Weilchen;
Wartet, und die Menschen alle,
Die mit euch gemeinsam leben,
Teils beneidet, teils verachtet,
Teils geliebt und teils gehaßt,
Weiße, schwarze, kupferfarbne,
Mit und ohne Rang und Titel,
Untergebne, Vorgesetzte,
Niedres Volk und hoher Adel,
Paria sowie Brahmine,
Fürst und Bettler, Tor und Weiser,
Bösewicht und Tugendspiegel –
Alle liegen unterm Rasen,
Künftig ganz einander gleich.

 

 


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