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Was für ein abscheulicher Geruch? Das schmeckt ja nach Krankenhaus und Apotheke!« So hat schon mancher Reisende gefragt, wenn der Zug in Höchst hielt und das geöffnete Wagenfenster einen Hauch »frischer« Luft herein ließ. Die Gedankenverbindung Höchst mit Farbwerken ist schnell hergestellt, zumal es kilometerlang an Fabrikgebäuden, rauchenden Kaminen, kugelförmigen Kesseln, wolkenkratzenden Silos, langgestreckten, raupenähnlichen Lagerhäusern bis zum nächsten Bahnhof Sindlingen weitergeht. Bei allen Weltreisenden, aber auch bei vielen Nassauern steht das Urteil fest: Höchst in ein langweiliges Fabriknest, verpestet durch die Farbwerke.
Ein wenig ändert sich das Urteil schon für den besinnlichen Beobachter, der den Strom der Arbeitermassen gewahrt, die in dichten Kolonnen, Heeressäulen vergleichbar, in beängstigendem Rhythmus die Straßen des Städtchens von und zu der Fabrik durcheilen, und der davon hört, daß den Bahnhof täglich zwanzigtausend Menschen passieren. Wer es nicht wüßte, müßte sich fragen: Woher und Wohin? Und die Antwort auf diese Schicksalsfrage lautete immer wieder: Farbwerke. Dort geht buchstäblich für viele Tausende die Sonne auf und unter. In den Wintermonaten sieht mancher Arbeiter Heim und Herd, Frau und Kind nur im Scheine künstlichen Lichtes. Auch vielen Chemikern und selbst Direktoren geht es nicht anders. Alle die Menschen mit ernstem Antlitz und karger Unterhaltung, die Mütze auf dem Kopf oder die Aktenmappe unter dem Arm, mit kurzer Pfeife oder Zigarette, dem Inbegriff des Lustgefühls für freie Stunden, sie gehen, jung und alt, tagaus tagein, nachtaus nachtein, in regelmäßigem Schichtwechsel von der Bahn zum Werk, von dem Werk zur Bahn. Es liegt etwas Ehernes in dem Pendelschlag dieser Bewegung. Man möchte wissen, wo die Flut verebbt. Nach der einen Seite gehen die Schwingungen bis in die hochgelegenen Taunusdörfer hinter dem Feldberg; bis nach Nieder- und Oberreifenberg kann man sie verfolgen. Nach der anderen Seite muß man vor eisernen Toren halt machen. Kein Neugieriger darf es wagen, auch nur den Vorhof des Heiligtums zu betreten. Ein dunkles Etwas, ein geheimnisvolles Ungeheuer, eine Sphinx an der Straße des Lebens verbirgt sich in den Farbwerken, die im Wunde der alten Höchster nur mit der Einzahl verbunden werden. Die Farbwerke »ist« ein Ganzes, ein Einziges, eine Erwerbsquelle, ein Auftraggeber. Die Stadt lebt davon, die Geschäfte sind durch sie groß geworden, die Handwerker, Schlosser, Schreiner, Anstreicher und alle andern erhalten von ihr Lieferungsaufträge von einem Umfange, wie sie sonst in kleinen Städten nicht zu finden sind. Die Altstadt hat ihren Rahmen längst gesprengt. Die Festungsgräben der mittelalterlichen Burg sind zu Grünanlagen geworden. Neue Stadtteile mit der langweiligen Bauweise des ausgehenden 19. Jahrhunderts bilden einen merklichen Gegensatz zu manchen malerischen Winkeln der einst blühenden mittelalterlichen Stadt. Wie stark das wirtschaftliche Leben der Stadt von den Farbwerken gespeist wird, zeigt sich im weiteren Umkreis an den neuzeitlichen Arbeitersiedlungen und geschmackvollen Einfamilienhäusern, die zum größten Teil von den Farbwerken errichtet wurden. Wenn schon im 18. Jahrhundert ein großzügiger Bebauungsplan durch den Mainzer Erzbischof und Kurfürsten Emmerich-Joseph vorlag, der als erstes industrielles Unternehmen in Höchst die später eingegangene Porzellanmanufaktur gründete, so wird das Höchst der Zukunft mit Gärten und Alleen geschmückt sein, wie sie den städtebaulichen Bedürfnissen einer Einwohnerschaft entsprechen, die nach Luft und Licht dürstet.
Durch den Main liegt Höchst am Meer, und durch das Meer in der Welt wie Amsterdam und Neuyork. Aber nicht deshalb kennt man Höchst in Chikago und Singapore. Es gibt noch viele Städtchen am Main, die der Berliner nicht einmal dem Namen nach kennt. Aber Freude an der Farbe findet man in allen Ländern. Sie ist eine Weltfreude ähnlich wie die Musik. Daher hat Höchst seine Weltgeltung. In Indien liebte man Farben von alters her, woher kommt sonst der Name »Indigo«? Wer kennt heute nicht »Indanthren«-Farben? Über den ganzen Erdball sind sie verbreitet. Wer freut sich nicht an dem Farbenspiel des Regenbogens? Schon im Jahre 1912 hatten die Farbwerke elftausend verschiedene Farbstofftypen. Man spricht nicht mehr von den giftigen Anilinfarben. Die stolzen Zeiten der »reinen« Spektralfarben sind vorüber. Das patentierte Aldehydgrün, Bleu de Paris und andere gehören ins Laboratorium. Woher kommen die zartgetönten Seiden- und Sammetstoffe, die Leinen und Ripse in allen Schattierungen, die Buntpapiere und farbigen Leder, die den verwöhntesten Geschmack der Buchliebhaber entzücken, die wundervollen lichtechten Tapeten?
Geh in die Krankenhäuser Brasiliens oder nach München. Woher kommt das Tuberkulin, Diphterieheilserum, Salvarsan, Veronal, Novocain, Panflavin und viele andere Arzneimittel zur Bekämpfung des Heeres von Krankheiten, die den Menschen plagen. In welches Haus ist noch nicht Pyramidon eingedrungen, wem ist noch nicht durch seinen Gebrauch lästiges Kopfweh oder lähmendes Fieber ins Nichts verflogen. Weiß auch jeder, daß es in Höchst hergestellt wird? Fiebermittel wie Aspirin haben sich von Höchst aus die Welt erobert. Es gibt wohl keine Krankheit, die Schlafkrankheit nicht ausgenommen, gegen die nicht von den Höchster Farbwerken mit Aussicht auf Erfolg der Krieg erklärt wird. Man mag über die chemischen Heilmittel als Verfechter der Naturheilkunde den Kopf schütteln, man mag die reinen Erzeugnisse der Natur höher schätzen als künstliche Präparate, aber wer möchte bezweifeln, daß ein unermeßlicher Strom des Segens für die leibliche Gesundheit von Tausenden und Abertausenden hier seine Quelle hat?
Neuen Ruhm haben sich die Höchster Farbwerke durch ihre Abteilung für Schädlingsbekämpfung erworben. Die Landwirte, Gärtner und Baumzüchter, die Winzer und Förster, alle kennen die künstlichen Düngemittel, den Raupenleim, die Rattengifte und so viele andere feurige Pfeile, die den kleinsten Raubtieren in den Rachen fliegen. Die Herstellung von Mischdünger aus Stickstoff, Kali und Phosphaten steht gegenwärtig im Vordergrunde des Interesses. Es braucht nicht darauf hingewiesen zu werden, welche Bedeutung die Farbwerke dadurch für die deutsche Landwirtschaft erlangt haben. Was ist aus der kleinen chemischen Fabrik geworden, die unter der Firma: »Meister, Lucius & Co.« im Januar 1863 gegründet wurde, um sich »mit der Darstellung der Anilinfarben und der in diese Branche einschlagenden Artikel zu beschäftigen«, wie es in ihrer ersten Geschäftsanzeige heißt! Ein Chemiker, ein Kolorist und fünf Arbeiter stellten damals täglich in einem Schuppen etwa 12 Pfund roten Farbstoff, sogenanntes Fuchsin her. Alle Gerätschaften fanden auf einem Handwagen Platz. 1925 beschäftigte die »Rotfabrik«, wie sie der Volksmund nennt, rund 10 000 Arbeiter, 1000 Aufseher. 1000 kaufmännische Beamte, 400 Chemiker und andere Wissenschaftler. Das Werk hat eine Schmalspurbahn von etwa 120 Kilometer Länge, vielfach als Hochbahn über die ganzen Anlagen geführt, eine eigene große Kai-Anlage für die Rheinschiffe, einen Grundbesitz von über 6 Millionen Quadratmeter und einen Aktienbesitz, der sich zahlenmäßig nicht gut aussprechen läßt.
Nachdem die »Farbwerke vorm. Meister, Lucius & Brüning, Höchst am Main« im November 1925 mit sechs anderen Werken eine große Interessengemeinschaft gebildet haben, die ihren Gesellschaftssitz nach Frankfurt am Main verlegte, haben sie der kapitalistischen Wirtschaftsform des Trustes ihre Selbständigkeit geopfert. Die Firma besteht nicht mehr für sich. Der Kopfdruck aller Formulare lautet: »I. G. Farbenindustrie A. G.«, bescheiden darf »Werk Höchst« hinzugefügt werden. Der überaus vielseitige Farbenkonzern gliedert sich in fünf Arbeitsgebiete: 1. Farben, 2. Stickstoff, 3. Pharmazeutische und Schädlingsmittel, 4. Photographie und Kunstseide, 5. anorganische Produkte und organische Zwischenmittel. Für Höchst dürfte bei der Umgruppierung die Herstellung von Farbstoffen und Pharmazeutischen Mitteln im weitesten Sinne auch fernerhin die Hauptsache bleiben. »Verbunden werden auch die Schwachen mächtig.« Das mag man als Gesichtspunkt für die Bildung von Weltkonzernen gelten lassen. Der deutsche Farbentrust hat denn auch schon der außerdeutschen Wirtschaft das Gesetz des Handels mehrfach aufgezwungen. In neuester Zeit erregt die größte Aufmerksamkeit die Frage der Kohleverflüssigung, d.h. der Gewinnung von Treibölen aus Kohle, wie sie dem Heidelberger Professor Bergins geglückt ist. Die Durchführung des »Bergin-Verfahrens« hat in größtem Ausmaß die I. G. Farbenindustrie übernommen. Dies wird voraussichtlich nicht nur die gesamte deutsche Kohlenwirtschaft auf neue Bahnen lenken, sondern auch das Monopol der großen amerikanischen Erdöl-Gesellschaften brechen, die bisher die Versorgung Deutschlands mit Mineralöl-Produkten »von der Quelle bis zur Lampe« in Händen hatten. Die internationalen Verhandlungen, die Verständigung über Benzinpreise und Benzinabsatz mit England, Amerika, Japan, können ohne die Vertreter der I. G. Farbenindustrie nicht geführt werden.
Wer unser liebes Nassauer Ländchen mit seinen mannigfaltigen Sehenswürdigkeiten durchwandern will, darf an Höchst nicht vorübergehen. Die unangenehmen Abgase werden mehr und mehr entgiftet. Es bleibt nicht nur der Duft und die Patina der Justinuskirche, des alten Schlosses und des Bolongaro-Palastes, es weht auch frischer Zug neuzeitlicher Schaffensfreude um den Turm und durch die lichterfüllten Räume des neuen Verwaltungsgebäudes der Farbwerke von Peter Behrens. Mit dem alten Direktionsgebäude von 1893 ist es durch eine die Straße kühn überquerende Brücke verbunden. Wie ein Sinnbild der Arbeit und des Wiederaufbaues wirkt dieser streng-sachlich gegliederte Bau eines neuen Geschlechtes. Kein falsches Zierstück wie an seinem Gegenüber, keine einen italienischen Palast vortäuschende Front und Freitreppe stört den Ausdruck deutschen Willens. Von der Straße geht man ebener Erde in die Eingangshalle, die uns wie ein Farbenhimmel empfängt, aus dem Alltag in den Feiertag, der uns ahnen läßt, was das Goethewort bedeutet: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.«