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Wilhelm Heinrich Riehl wurde den 6. Mai 1823 zu Bieberich a. Rh. geboren, wo sein Vater Schloßverwalter des Herzogs Wilhelm von Nassau war. Dort genoß auch Riehls Großvater mütterlicherseits als herzoglich nassauischer Haushofmeister nach vielbewegter Jugend und schwerer, aufopfernder Manneswirksamkeit einen wohlverdienten Ruhestand. Von ihm hat der Enkel eingestandenermaßen die Wanderlust geerbt, die ihn den Stoff seiner Schriften über deutsche Stämme und Landschaften, Sitten und Bräuche selbstschauend und fragend zu sammeln drängte. Von ihm leitet er auch den religiösen Grundzug her, der uns aus allen seinen Schriften so gesund entgegenweht. Aus der großväterlichen Saat erwuchs schon seiner gottergebenen Mutter »der Mut nicht nur des Duldens und Tragens, sondern auch pflichttreuen Zugreifens«, und nur dadurch bewahrte sie sich und ihre zwei Kinder, Wilhelm Heinrich und eine Tochter, vor schlimmster Not und schaffte dem Sohne die Möglichkeit zu studieren, als das Glück des Hauses Mitte 1836 jäh zusammengebrochen war und der Vater Anfang 1839 in Tiefsinn und Verbitterung ein tragisches Ende suchte.
Dem Sohne fehlten damals noch zwei Jahre bis zum Abgange vom Gymnasium zu Weilburg. Der Vater war nämlich Sommer 1836 als Verwalter des verwaisten Stammschlosses der nassauischen Herzöge dorthin versetzt worden, nachdem ihn eine tollkühne Stromüberfahrt bei Eisgang in die Wellen des Rheins und aufs Krankenlager geworfen hatte, und davon eine Erschütterung seines körperlichen und geistigen Wohlbefindens zurückgeblieben war, die es dem längst eifersüchtigen neuen Hofmarschall am Biebericher Hofe ermöglichte, unter Verleihung jenes Titels seine Entfernung nach Weilburg durchzusetzen.
Die Beeinflussung der Charakterbildung und Gedankenrichtung des Sohnes rührt aus der glücklichen Zeit in Bieberich her, wo der Vater, der Jugendgespiele des Herzogs, als einfacher Schloßverwalter eine weit über diese Stellung hinausgehende Bedeutung gewonnen hatte. Denn er war nach dem Urteile einer nassauischen Prinzessin der gebildetste Mann am Hofe. In dem weithin bekannten Riehlschen Hausquartett, zu dem er sich mit der vom Herzoge selbst nicht benötigten Hofkapelle fast jeden zweiten Tag der Woche in seinem Hause vereinigte, ist dem Sohn die Vorliebe für Haus- und Kammermusik und seine Schätzung reiner und edler Tonwerke erwachsen. Ein andrer, freilich nur mittelbarer Einfluß des Vaters war es, wenn ihn dessen rationalistisch freimaurerische Weltanschauung und etwas französisch gefärbte Weltbürgerlichkeit durch ihren Gegensatz zu der biederfrommen Deutschheit des Großvaters in seiner Neigung für die innigere heimische Art bestärkte, doch so, daß er vom Vater den Sinn und Blick für das Weite, für die Größe der Zusammenhänge hinzugewann. Vom Vater sog er auch den festen Unabhängigkeitssinn und aus dessen Stolz auf den Stand eines Hofbediensteten etwas von seiner Abneigung gegen die damals mächtig aufsteigende Bureaukratie ein; und von dem oft herben Humor, mit dem der ewig, selbst in der glänzenden Biebericher Zeit Unzufriedene bei innerer Unruhe andre durch Witz und Laune erheiterte, glänzt uns der gemilderte Widerschein aus manchem humorvollen Beispiele, mit dem der Sohn den lehrhaften Ton seiner wissenschaftlichen Werke belebt, wie aus mancher tragikomischen Wendung seiner Novellen entgegen. Vor allem aber wurden für den Sohn die Dienstreisen bedeutsam, auf die ihn der Vater mitnahm, um die Schulpflicht nach dem Grundsatze unbekümmert, daß man in der Welt mehr lerne als in der Schule, ein Grundsatz, den auch der Sohn so oft predigt. Auf diesen Reisen sah der Sohn nicht nur des Vaters Schaffen bei den Neubauten, sondern er konnte auch in alten Schlössern und Abteien des Landes die alten Kunstwerke und seltsamen Hausrat, zwischen denen er daheim in weiten, damit vollgestellten Magazinen spielte, staunend an ihrem ursprünglichen Platze betrachten. Hier empfing er den Anstoß zu seiner in erster Reihe kulturgeschichtlichen Betrachtung der ganzen Weltgeschichte.
Vielseitig angeregten Wissensdrang brachte also der junge Riehl mit auf die Universität Marburg, die er Anfang 1841 bezog. Obwohl ihn zunächst eine tiefsinnige Sehnsucht, Landpfarrer zu werden und als solcher einmal in eigener Unabhängigkeit tröstend, beglückend und veredelnd wirken zu können, dahin geführt hatte, war es demgemäß kein Wunder, wenn er begierig, das Geistesleben der Völker und den Geist der Menschheit überhaupt in seiner geschichtlichen Entwickelung erkennen zu lernen, auch Geschichte der Philosophie und Kirchengeschichte hörte und schon dabei auf die kulturgeschichtliche Fährte kam. Ja, indem sich ihm die Kulturgeschichte zur wahren Philosophie der Geschichte erweiterte und vertiefte, insofern ihm Philosophie die Erkenntnis vom Wesen des Geistes aus seinen verschiedenartigsten Werken war, fand er schon damals das kulturgeschichtliche Hauptproblem seines späteren Lebens, wonach ihm die Kulturgeschichte »die Geschichte der gesamten Gesittung der Völker ist, wie sich dieselbe in Kunst, Literatur und Wissenschaft, im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Leben und dazu auch in den – meist allein dafür gehaltenen – Privataltertümern ausspricht«. Die vom Großvater ererbte Wanderlust aber und die geringe Höhe des Jahreswechsels (300 Gulden), den durch Bitten um Unterstützung zu erhöhen ihm sein Selbstgefühl verbot und der ihm nicht gestattete, seinen Wanderdrang durch weite Reisen in entlegene Gegenden Deutschlands und des Auslandes zu befriedigen, wiesen ihm gleichfalls schon damals die Wege, die allein zu unverfälschten Belegen seiner Ansichten und zu ungetrübten Einblicken in das soziale Leben des eigentlichen Volkes führen konnten: die nächsten Berge und Täler bis in die entlegensten Winkel durchwandernd und in billigen Dörfern unter Bauern lebend, beobachtete er das Leben des Volkes persönlich und zeichnete es nach dem Leben, machte sich aber bei allen Erscheinungen über die darin wirkenden geistigen Kräfte seine eigenen Gedanken. Auch in Tübingen und Gießen fesselten den Wissensdurstigen namentlich die Philosophen, dort Zeller und Vischer, hier Carrière, von denen die beiden letzten seine kulturgeschichtlichen Einsichten durch kunstgeschichtliche und kunstphilosophische vertieften.
Trotzdem unterzog er sich im Herbst 1843 nach dem landesüblichen Brauche in Herborn der theoretischen Prüfung für nassauische Theologen. Da er der einzige war, den es zu prüfen galt, ward er mit einem ansehnlichen Stipendium nach Bonn geschickt, um dort die praktische Hälfte des theologischen Studiums zu treiben, für die sonst in Herborn ein Seminar eingerichtet zu werden pflegte. Hier traten die theologischen Studien bald hinter geschichtlichen und philosophischen zurück.
Als er in der klaren Erkenntnis, daß er zu etwas anderm als einem nassauischen Landpfarrer berufen sei, nunmehr die kleine stille Universität Gießen besuchte, war sein Vorsatz, mit ganzem Herzen ein Schriftsteller zu werden, schon mehr als Vorsatz. Denn schon jetzt erschrieb er sich neben dem Studium die Mittel zu diesem wie seinem gesamten Lebensunterhalt, und so beginnt mit Frühjahr 1844 seine Tätigkeit als Schriftsteller, die er selbst auf zehn Jahre ansetzt (1844 bis 1853). Echt konservativ von Haus aus, verband er überzeugte Treue gegen den Landesfürsten mit einer auf engeren und kräftigeren Zusammenschluß aller Deutschen gerichteten offen großdeutschen Gesinnung. Die Beobachtung des Treibens in der Frankfurter Nationalversammlung, die ihm sein Aufenthaltsort Wiesbaden aus nächster Nähe ermöglichte, bestärkte ihn in dieser Richtung; ja nach eigenem Bekenntnis erst damals bewußt konservativ geworden, gab er mitten in den Revolutionsstürmen seinem Heimatlande eine konservative Zeitung. In Wiesbaden gründete er nämlich damals die »Nassauische Allgemeine« und war zugleich mit der musikalischen Leitung des dortigen Hoftheaters betraut. Seine letzte derartige Stellung begleitete er an der »Augsburger Allgemeinen« von 1851 bis 1853. Hier hatte er auch Muße, seine seit der Universitätszeit durch die ebenso aufgeregten wie lehrreichen Revolutionsjahre rastlos fortgeführten Studien und Skizzen über Volkszustände zu verarbeiten. So konnte er 1851 sein erstes Buch, »Die bürgerliche Gesellschaft«, 1853 ein verwandtes, »Land und Leute«, und in dem Jahre dazwischen seine »Musikalischen Charakterköpfe« veröffentlichen. Da berief ihn König Maximilian II., für den und in dessen Auftrage der geistvolle Volksschilderer später auch eine ethnographische Skizze über die Pfälzer entworfen hat, für Ostern 1854 als Professor der Kulturgeschichte und Statistik an die Universität München.
Über 43 Jahre hat er dort des Amtes gewaltet, ein Stolz der Münchener Hochschule. Er durfte sich als den ersten betrachten, der die Gesellschaftslehre in Deutschland behandelte.
Der Verbreitung der Kunde deutschen Wesens, der Erhaltung und Wiedergewinnung deutscher Art und damit dem allgemeinen deutschen Gedanken, dienten alle seine größeren Werke; ebenso wie die zahlreichen wissenschaftlichen Wandervorträge, deren Einrichtung mit auf ihn zurückgeht und deren er allein von 1869 bis 1895 nahezu 700 gehalten hat. Die schon in der Augsburger Zeit erschienenen beiden Werke: »Die bürgerliche Gesellschaft« und »Land und Leute« erhielten ihre Ergänzung durch »Die Familie« (1855) und das »Wanderbuch«; diese vier Bücher, als Naturgeschichte des Volkes zusammengefaßt, werden immer das Werk bleiben, das seiner Volkskunde in breiten Kreisen Eingang verschafft. Verwandten Inhalts sind die »Kulturstudien aus drei Jahrhunderten« (1859) und das durch einen Wunsch und Gedanken König Maximilians angeregte, so gemütvolle wie gedankentiefe Buch »Die deutsche Arbeit« vom Jahre 1861, sowie viele seiner in mehreren Sammlungen herausgegebenen »Freien Vorträge«. Auch die »Musikalischen Charakterköpfe« fanden eine Ergänzung in der »Hausmusik« vom Jahre 1855. Im besonderen mag hier auf die vielseitigen »Kulturgeschichtlichen Charakterköpfe« hingewiesen werden, die gesammelt 1891 erschienen. Ihr erstes Stück ist zugleich typisch für einen schönen, aus unsern Gelehrtenschulen längst entschwundenen Geist und ergänzt den vorstehenden Abriß von Riehls Entwicklungsgange durch eine Schilderung der Gynmasialjahre in Weilburg. Andre Stücke darin gewähren einen gleich willkommenen Einblick in des späteren Professors Beziehungen zum Hofe und zu den Künstler- und Gelehrtenkreisen Münchens. Wir sehen ihn in der Schilderung einer Fußreise mit König Max, seinem verehrten, unausgesetzt lernbeflissenen Herrn, echt freimütig verkehren. Aus dem elfjährigen persönlichen Verkehre fußt auch die Charakteristik des Königs im siebenten Stück, den wir darin als den anregenden und treibenden Mittelpunkt jenes Gelehrtenkreises schätzen lernen, der in München etwa 1854 bis 1864 auf geistigem Gebiete die Einigung Deutschlands vorbereitete.
Doch die Reihe der Schriften des Meisters ist damit nicht erschöpft. In dem Gelehrten und Publizisten Riehl steckte zugleich eine Künstlernatur, die sich nicht darin erschöpfte, daß er gelegentlich komponierte, nach der Natur malte und seinen lehrhaften Schriften, namentlich seinen Charakterköpfen, plastische Form verlieh. Sie drängte ihn auch zu frei erfindendem, dichterischem Schaffen, und so wertete er seine kulturgeschichtlichen Erlebnisse und seine reichen Erfahrungen in zahlreichen Novellen aus, die, wenn nicht gewaltig, so doch immer geistvoll und feinsinnig gestaltet sind. Diese Sammlungen heißen der Zeitfolge nach: »Kulturgeschichtliche Novellen«, »Geschichten aus alter Zeit« (2 Bde.), »Neues Novellenbuch«, »Aus der Ecke«, »Am Feierabend«, »Lebensrätsel«.
Er selbst hat mir mehr als einmal versichert, daß er »seine Novellen für das Dauerhafteste halte, was er geschrieben habe«. Es sind durchweg kulturgeschichtliche Novellen, für die er diese Bezeichnung mit der ersten Sammlung aus dem Jahre 1856 selbst geprägt hat. Sie sind nicht um geschichtlicher Belehrung willen geschrieben, sondern wollen durchaus dem Kunstgenuß dienen, nur daß ein auch die Gegenwart noch bewegendes psychologisches Problem, ein Seelengeheimnis seine Lösung auf dem sachkundig gezeichneten Hintergründe einer Zeit findet, mit der es naturhaft verwachsen ist. Und mögen diese nach Art vorklassischer Sarabanden und Suiten graziös im doppelten Kontrapunkt über zwei thematischen Motiven aufgebauten Erzählungen in ihrer wohlgegliederten und durchdachten Gedankenführung immerhin nicht die Leidenschaftsglut, die sich überschlagende Laune anderer Meister der Novelle haben, eines zeichnet sie vor allen andern aus: »weil ihm vor allem unser deutsches Land und Volk lieb war, ist der Verfasser stets auf deutschem Boden geblieben«. Vielfach bewegt er sich darin auf nassauischem Schauplatz, dem Boden seiner Heimat. Er umspannt mit seinen 50 Novellen über ein Jahrtausend deutscher Geschichte, von 762 bis 1880, und seine Erzählungen enthüllen von den mannigfachsten Seiten alle Eigenarten der deutschen Volksseele. Mit den ersten drei Bänden seiner »Naturgeschichte des Volkes« sind sie weit über die deutschen Grenzen hinaus gelesen.
An der Schwelle des Greisenalters, im Jahre 1892, ward dem rastlos Tätigen eine schwere Prüfung auferlegt in einem sich rasch fast bis zur vollständigen Erblindung steigernden Starleiden. Doch er, der in seinem Buche von »Der deutschen Arbeit« wahrhaft ein hohes Lied von der Arbeit gesungen hat, überwand auch dieses Hindernis. Fast ohne daß außer seinen Angehörigen jemand die Schwere seines Lebens ahnte, hielt er seine bis zuletzt begeisternden Vorlesungen. Vor allem aber sammelte er sich in diesem »dunklen Jahre« zu geistigem Schauen, zu einem inneren Überblick über seinen Entwicklungsgang und die Einwirkung all seiner reichen Erfahrungen und Studien auf sein innerstes, seelisches Teil. Die Frucht dieser Sammlung war ein Buch, das er einer Freundin seines Hauses, seiner späteren zweiten Gemahlin, in die Feder diktierte: »Religiöse Studien eines Weltkindes«.
In der schlichten Sprache des echten Künstlers erhalten wir darin zu der heute wieder mächtiger als seit langem die Welt bewegenden Frage vom Wesen und Werte der Religion und der Kirche ein Zeugnis, wie es so ernst, vielseitig und gewichtig nur ein Mann abzulegen vermag, der wie Riehl neben dem umschauendsten Studium des Kunst- und Geisteslebens aller Völker und Zeiten auch denkend ein eigenes Leben reicher Erfahrung leben durfte und der mit evangelischer Bekenntnistreue den Geist echter Duldsamkeit verbindet. –
Gerastet hat der Unermüdliche, der »den wahrhaft Gebildeten den Vorschmack des Himmels auf Erden in der Seligkeit der Arbeit finden« läßt, bis zuletzt nicht. Als er am 16. November 1897 starb, war eben noch ein Roman von ihm ausgegeben worden unter dem Titel: »Ein ganzer Mann.« Nicht mehr allzu gestaltungskräftig und oft reichlich lehrhaft, hat er damit gleichwohl seinen lieben Deutschen als Bürgern wie Menschen einen letzten köstlichen Mahnruf hinterlassen, worin mit liebenswürdigem Humor die mannigfaltigen Erfahrungen eines erfolgreichen Lebens und Forschens und einer vielseitigen Verwaltungs- und Lehrtätigkeit verbucht sind.
Wie der bürgerliche Alfred Saß, der führende Mann mit dem niederdeutschen Namen, in der Vereinigung mit der wärmer empfindenden Hermine Aweling, der Trägerin eines süddeutschen Namens aus adligem Hause, erst völlig hineinwächst in die große neue Pflicht, auch zu können, was man soll in der großen neuen Zeit, steht die liebevolle Versenkung in die deutsche Vergangenheit und das Wirken für die größere Gegenwart darin in innigster Wechselwirkung.