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Der Rheingau, jener scharf begrenzte Landstrich, den nach zwei Seiten der Rhein, nach Osten und Norden die natürliche Schutzwehr eines dichtbewaldeten Gebirges abschließt, gilt von jeher als das deutsche Italien, und kein Geringerer als Bulwer hat ihn das schönste Tal der Welt genannt. Um von einer solchen Landschaft eine Vorstellung zu geben, wußte Niklas Vogt seine Vorlesungen über rheinische Geschichte nur damit zu eröffnen, daß er seine Zuhörer auf die Rheinbrücke von Mainz führte, wo man jenes Bild von dem Stromtal empfängt, das Goethe in den berühmten Versen von
»Des Rheins gestreckten Hügeln,
Hochgesegneten Gebreiten,
Auen, die den Fluß bespiegeln,
Weingeschmückten Landesweiten«
nachzeichnete.
In dieses Gemälde der episch sich ausbreitenden Ufer von Mainz bis Rüdesheim gehört zur Vervollständigung noch die balladeske Stromstrecke unterhalb des Binger Lochs, die die Schiffer das Gebirg nennen. Die Ufer rücken hier dichter zusammen. An ihren steilen Flanken lodert Wald empor, die tausend Balkone und Erker kleiner Weingärten kleben an den Hängen, und Burgen, die nur Felsenzacken zu sein scheinen, sägen sich in die feuchte Luft.
Wie Homer die Schönheit der Helena daran entwickelt, daß er empfindungslose Greise bei ihrem Anblick in Tränen ausbrechen läßt, mag der Zauber des Gaues danach ermessen werden, daß er einer Zeit, die landschaftliches Empfinden sonst noch nicht kannte, dieses seelische Erlebnis aufschloß und schon im vierten und sechsten Jahrhundert zu Beschreibungen und Dichtungen begeisterte.
Aber die Anziehungskraft einer Natur, die neben der Weltfreudigkeit von Rebenhängen und stampfenden Flotten Pflanzstätten der Mystik aufwachsen ließ, hat im Landschaftlichen nicht ihre Grenze.
Wir ersteigen eins ihrer Felsennester und schauen von hoher Warte ins Stromtal hinab. Es ist die Rossel, die Gebirgskante, um die sich der Rhein rechtwinklig herumwendet, um seinen Lauf wieder nach Norden zu nehmen. Unter uns in dem Engpaß, den die Wassermassen in vorgeschichtlicher Zeit durch das uralte Schiefergebirge sich gegraben, keucht ein rauchender Schleppzug neben schäumenden Bänken durch die schmale Fahrrinne des Binger Lochs bergan, flankiert von der Mäuseturminsel und den Trümmern der Ehrenfels. Gegenüber, unter dem Rupertsberg, auf dem das Kloster der Mystikerin Hildegard gestanden, das eiserne Schienennetz von Bingerbrück; unter der Nahemündung die steinerne Brücke, die Drusus gebaut; aus Bingen sich emporgipfelnd Burg Klopp, wo Heinrich IV. als Gefangener seines Sohnes eingekerkert saß; noch überragt von der Kapelle des hl. Rochus, die das Andenken an die Pestzeit nach dem Dreißigjährigen Kriege wacherhält. Ingelheim taucht auf, wo die Pfalz des großen Karl gestanden; an unsrer Seite die Reben, die der Kaiser hier pflanzte, auf den Bergterrassen, die heute das Niederwalddenkmal krönt.
Dies alles umfassen wir mit einem einzigen Blick. Entfernungen von Ewigkeiten scheinen aufgehoben. Urweltliches Spiel der Naturkräfte, Römerbrücken und Kaiserpfalzen, Sagentürme und Burgen, Mittelalter und Gegenwart, Kultur und Landschaft, der werdende, der Geschichte gewordene und der arbeitende Strom lagern dicht beieinander zwischen den Weinhügeln des Lebens zu einem untrennbaren Ganzen verwoben, sich beschauend in demselben Spiegel, in dem sie zusammenfließen.
»Was kümmert das Vergänglichkeits-Gestöhne
Unsterbliche? ... Was dich, daß Stein und Bein
Dereinst als Staub in alle Winde fliegen,
Solange deine Quellen nicht versiegen?«
Heitere Monumentalität! Wie hier, so ist die Schrift meißelnder Naturkräfte und in Natur sich wandelnde Vergangenheit überall an Uferhang und Seitental zu lesen. Die Klöster Notgottes und Eberbach, der Teufelskadrich und der Nolling, die Burgen der Brömser, der Wild- und Rheingrafen und der Scharfensteiner, die Wisper, die Hungersteine – jeder Fußbreit Erde und jeder Möwensand hat sein Sagengewispel. Die Fußtapfen der Geschichte zeichnen sich in alle Wege. Schöpferträume der Kultur ranken sich durch den Werktag und schauen uns an mit den Augen ihrer gewachsenen Welt. Denn die offene Verkehrs- und Grenzlage wie die innere Geschlossenheit und Solidarität des Kurstaates Mainz, dem der Landstrich über 800 Jahre lang angehörte, haben ihn trotz seines nur vier Quadratmeilen großen Flächengehaltes in die Schicksalsgemeinschaft des ganzen Stromgebiets oder – was gleichbedeutend ist – ganz Deutschlands verflochten. Noch steht in Winkel das Graue Haus, das älteste Steinhaus Deutschlands, der Wohnsitz des Hrabanus Maurus, der, mit der Hofakademie Karls des Großen in Beziehung, sein Kloster zum Mittelpunkt der damaligen Bildung machte. Noch spiegelt sich die Ingelheimer Au in den Fluten, wo Ludwig der Fromme, von seinen Söhnen auf dem »Lügenfelde« verraten, kummervoll seine Tage beschloß. Noch besitzen wir die kostbar illuminierte Handschrift der Visionen, die Hildegard in Bingen und Eibingen schaute, die erste Mystikerin des Rheinlandes, die zugleich als erste deutsche Naturforscherin und Ärztin gelten darf. Noch steht die Stätte in Eltville, wo Gutenberg die Brüder Bechtermünze in der Buchdruckerkunst unterwies. Schloß Vollrads mit seinem alten Turm ragt auf, der Stammsitz Richards v. Greiffenclau, des mächtigen Trierer Kurfürsten, an dem Huttens Reformationspläne zerschellten. Der grandiose Renaissancebau des Reichsfeldmarschalls Hilchen, des Waffengefährten Sickingens, pflanzt stolz sich auf in der Straßenfront von Lorch, kaum eine Wegstunde entfernt von dem Friedhof von Sauerburg, wo von dem Letzten aus dem Geschlechte seines Freundes Sickingen die halbverloschene Inschrift meldet: »Er starb im Elend.«
Natürlich mangelte es an den Ufern, wo die Schiffe der Normannen, der Kreuzfahrer und des Rheinischen Städtebundes vor Anker gingen, wie heute die Güterboote Hollands und die Schleppzüge des Ruhrreviers, nicht an Kunstschätzen. Von gleicher architektonischer Kraft wie die großen romanischen Dome, liegt Kloster Eberbach seit 700 Jahren in sein grünes Waldtal gebettet, während seine besten Bildwerke wegen ihrer mittelrheinischen Prägung die Zierde auswärtiger Museen bilden. Die weichen Madonnen von Kiedrich und Hallgarten sind ebenso wie diejenige von Eberbach, die sich im Louvre befindet und als » la belle Alsacienne« in die Kunstgeschichte eingeführt ist, echte Mittelrheinerinnen. Eine der seltensten Skulpturen besitzt die Kirche zu Hattenheim, eine weibliche Figur mit Bart am Kreuze, die hl. Wilgefortis, die zur Rettung vor dem Verfolger ihrer Unschuld sich in männliche Gestalt verwandelte – eine christliche Daphne. Die lebenswahren Grabdenkmäler und das mittelrheinische Altarwerk der gotischen Kirche zu Lorch, das romanische Aquamanile von Rüdesheim, der vorromanische Türsturz von Geisenheim – jeder Ort hat sein künstlerisches Juwel.
Ebenso wie man hier durch einen Naturschutzpark der Geschichte zu wandeln glaubt, in dem alle Kultur nur ein Stück der Landschaft zu sein scheint, sind auch die Bewohner hier »gewachsen«. Es ist gut, daß die Rheingauer im Rheingau wohnen – pflegt der Volksmund über die schwachen Kinder der rheinischen Sonne zu spotten. Winzer und Schiffer sind sie. Der Wein ist das Gold, das in Schweden- und Franzosenkriegen ihnen das Leben rettete. In Wein ausgemessen sind sogar die Strafen in ihren alten Brunnenbüchern. Ihr Wald, dessen Äste sie zu der lebendigen Festungsmauer des sogenannten Gebückes verflochten, bildete ihren Schutzwall, gegen den Friedrich von der Pfalz und Bernhard von Weimar nichts auszurichten vermochten. Und Rheingauer Luft machte – nach altem Rechtssprichworte – frei.
In diesem Himmelsstrich, dem deutsche Farbigkeit und italienische Formengröße das Gepräge geben, fanden Clemens Brentano und sein Kreis die phantastische Realität des romantischen Lebensgefühls. In dem Brentanoschen Landhaus zu Winkel, von dem die Rheinromantik ihren Ausgang nahm, schrieb Bettina in »kristallenen Mitternächten« jene Naturevangelien von »schwarzkantigen Pfalzen im Strom, die mit ihren elfenbeinernen Festen und silbernen Zinnen ganz ins Mondlicht eingeschmolzen sind«, und wies damit dem Zauber des Gaues in der deutschen Geistesgeschichte für immer seinen Platz an.
Nur ein Uferstrich, versetzt er auch den Geist an die Schwelle des Grenzenlosen. Jenseitig ist der Blick. Man stößt vom Ufer ab. Man schwimmt auf der Woge. Unendliche Unbedingtheit weitet die Brust. Man schaukelt im Körperlosen – im andern Element ...