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Albertine von Grün. Ein Westerwälder Frauenleben in der Wertherzeit

Von Adolf Bach

Zu allen Zeiten hochentwickelten kulturellen Lebens beobachten wir Gestalten, die, ergriffen von der Wucht eines neuen Gedankens oder einer vorläufig vielleicht mehr geahnten als wirklich erschauten Form künstlerischen Erlebens, dennoch nicht berufen sind, Künder des Unerhörten zu werden, sondern nur Resonanz; jene Gestalten, die ahnend und überwältigt stammeln, aber das große freie Wort, die befreiende künstlerische Tat nur ersehnen, nicht vollbringen können. Und setzen sie tausendmal die Feder an, so bleibt es das Schicksal ihrer Muse, nur Totes zur Welt zu bringen. So sind sie mehr als Publikum und doch nur Publikum.

Einen solchen Typus glauben wir in der Hachenburger Honoratiorentochter Albertine von Grün wiederzuerkennen, die zu dem Kreise des jungen Goethe in entfernter Beziehung stand.

In dem hinkenden, zeitig von der Schwindsucht dahingerafften Fräulein von Grün erblicken wir eine der charakteristischsten Vertreterinnen des Zeitalters der Empfindsamkeit. Sie wurzelte mit allen Fasern ihres Herzens in dem Boden, dem der Werther entsprossen war; sie fühlte in sich selbst das Wehen des Geistes, dessen weithin hallendes Sprachrohr er werden sollte. So mußte er ihr erscheinen wie ein goldner Spiegel, in dem sie ihre eigene Empfindungsweise künstlerisch verklärt wiederfand, jene Empfindungsweise eines stürmisch aufstrebenden, Altes zertrümmernden jungen Geschlechts, dessen ungestümes Frühlingswettern uns in Albertinen, durch die Anmut und den Takt liebewarmer edler Weiblichkeit, durch innige Frömmigkeit und Menschenliebe, durch eine treuherzige Innerlichkeit, einen köstlichen Humor in die Maße gebracht und in eine reinere Sphäre entrückt, entgegentritt. Bei der ihr eignen Feinheit und Selbständigkeit des Geistes hat sie ein feines Ohr für die urwüchsige Echtheit und das Unverbildete im Stimmengewirr ihrer Zeit und bleibt kalt gegenüber den seichteren, mehr der Mode als dem Ewig-Menschlichen entquellenden Tönen (etwa in den Werken der La Roche). Dies alles, in prächtiger Ursprünglichkeit vereint, stellt sie neben die liebenswürdigsten deutschen Frauengestalten auf der Bühne des 18. Jahrhunderts.

Wir wissen nicht viel von Albertinens äußerem Lebensgang; sicherlich weil er alltäglich und alles Ungewöhnlichen bar gewesen ist. Ihre nächsten Verwandten waren »Pastöre und dergleichen ehrliche Leute«. 1749 als Tochter des Gräflichen Rates Detmar Heinrich von Grün in Hachenburg geboren, verbrachte sie fast 40 Jahre in der kleinen Westerwälder Residenz der Grafschaft Sayn-Hachenburg, und nur selten führten verwandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen sie auf kürzere Zeit in die Städte und Städtchen der näheren und weiteren Umgebung: etwa nach Butzbach oder Montabaur, nach Gießen zu den Freunden, nach Wetzlar zu den gesellschaftlichen Veranstaltungen, die sich hier die Beamtenaristokratie des Reichskammergerichts gab, oder nach Darmstadt, wo ihr in Merck ein lieber Freund wohnte, nach Frankfurt, wo sie, wie es scheint, mit jenem bei Frau Aja vorgesprochen hat. Als dann ihr Vater in den achtziger Jahren Komitialgesandter am Reichstag in Regensburg geworden war, folgte sie ihm dorthin; nach seinem Tode (1791) kehrte sie leidend in die Heimat zurück. Dort ist sie am 12. Mai 1792 noch nicht 43 Jahre alt gestorben.

Erst mit dem Fahre 1772 tritt das schlanke, schöne Mädchen mit dem geistvollen, ganz italienischen Gesicht und dem braunen Haar, das ein Zeitgenosse »lebendig, komisch, behaglich im Umgang, eine Seele voll Liebe und Treue« nennt, in unsern Gesichtskreis, und gleichzeitig hören wir von dem großen Erlebnis ihres Erdendaseins, ihrer Liebe zu dem Stürmer und Dränger Maximilian Klinger.

Auf einer ihrer Fahrten längs der Gevattermannstraße hatte sie in Gießen durch den dortigen Professor der Rechte Julius Höpfner, Goethes und Mercks Freund, der der Bräutigam ihrer Gießener Base Marianne Thom war, einen jungen genialischen Studenten, eben den Frankfurter Klinger, kennengelernt, der ihr eine kurze Zeit seine ernsten Huldigungen darbrachte. In seinem Wesen und Dichten die Verkörperung des himmelstürmenden Geistes der Zeit (Wieland nannte ihn später einen »Löwenblutsäufer«), von bestechenden äußeren Gaben, erlangte er bald Gewalt über Albertine. War das Mitleid die Mutter des Interesses, das das schöne Mädchen, das die Not nicht kannte, dem begabten, ehrgeizigen, mit den widrigsten Verhältnissen ringenden Sohn einer armen Wäscherin zunächst entgegenbrachte, so lohte aus dem Interesse bald »ohne alles Urteil und Recht« eine leidenschaftliche Liebe empor, die um so verzehrender werden mußte, als der Geliebte Albertinen nach kurzer Zeit den Rücken kehrte. Er dachte mit dem anmutigen, geistreichen Mädchen nur zu liebeln und wandte sich bestürzt ab, als er das Maß der Leidenschaft gewahrte, die er entzündet hatte. Albertine aber fühlte sich, da sie die tändelnde Absicht Klingers erkannte, in dem edlen Stolz ihrer weiblichen Seele, die sich rückhaltlos gab und rückhaltlose Hingabe verlangte, aufs tiefste verletzt. »Sie wissen (schrieb sie an Höpfner), daß ich ihn mit einer Liebe liebe, die zu den jetzigen Zeiten gewiß unerhört ist, doch will ich mir lieber gleich das Leben nehmen, als daß er denken sollte, er hätte eine Eroberung an mir gemacht, die er lieben könnte.«

Ein ganzes Leben trägt sie diese unerwiderte Liebe in ihrem Herzen: »Es ist ein Unglück für mich (schrieb sie 1780), daß ich mein Herz nicht mehr von ihm losreißen kann, und ein Glück, daß ich ihn so ohne alle Gegenliebe viel eher fortliebe, als daß er mein Stolz litte, auch nur den kleinsten Grad weniger mich geliebt zu wissen, wie ich selbst liebe.«

Als endlich die Jahre ihrer Liebe das Leidenschaftliche genommen hatten, begleitete sie die Erinnerung daran noch oft: 1789 interessiert sie Klinger noch so, »wie wenn ein Mädchen von 13 Jahren seine schöne Puppe fände, bei der es sich erinnerte, wie manchmal es die Rute bei diesem Götzen bekommen hatte«.

Kam das lebhafte Mädchen von ihren kleinen Fahrten zu den Freunden zurück nach dem stillen Hachenburg, das trotz des höfischen Glanzes, der es umgab, die spießige Physiognomie der kleinen Städte nicht verleugnen konnte, zurück in die behäbigen, aber allem geistigen Luxus fremden Kreise ihrer Heimat, so mochte es doppelt schwer an der Umgebung tragen, die ihr Empfinden und ihre Interessen nicht verstand. Wie oft seufzte sie über alles dies in dem bescheidenen Stübchen, das sie im Elternhause bewohnte, aus dem man – ein Symbol ihrer traurigen Lage – nur in ein ringsum mit hohen Mauern umgebenes, von Scheuern und Ställen eingeschlossenes Höfchen sehen konnte und in ein ganz kleines Stück blauen Himmels. »Führe mir hier die Seele aus (klagt sie einmal), sie würde eine schiefe Richtung nehmen müssen, um sich zu einer höheren Sphäre schwingen zu können.«

s. Bildunterschrift

K. H. Zunn, Hachenburg, Schloßbogen.

Nichts kam ihrem weiblichen Bedürfnis nach Anlehnung, nach sentimentaler Freundschaft, nach »Götzen«, wie sie die Gegenstände ihres schwärmerischen Aufopferungsbedürfnisses nennt, in Hachenburg entgegen, auch nicht bei denen, die ihr am nächsten standen. Da waren die guten biederen Mädchen, ihre Schwestern, und sie war ihnen innig zugetan. »Aber ich muß ganz stillschweigen von dem, was mir lieb ist. Ich darf in ihrer Gegenwart nicht einmal Volkslied sagen, weil es ein nicht ganz gewöhnlich Wort, und es möchte romantisch sein. Empfindung ist romanhaft bei ihnen. Wie müssen da nicht alle Freuden für mich tot sein! Nein, wenn ich fortführe, Vergnügen an etwas zu finden, käme ich mir vor, wie einer, der Bälle gäbe und tanzte allein.«

Nicht anders als die Schwestern erschienen ihr die andern engen Menschen, mit denen sie umzugehen gezwungen war: »Was hilft mich nur um Gottes Himmels willen das Lesen (schreibt sie an Höpfner), wenn ich keine Seele habe, die mir ihre Bemerkungen, ich ihr die meinigen mitteilen kann – doch ich schweige! – denn wol schwerlich liegt die Schuld in etwas anderem als in mir selbst. Was kann der Himmel dafür, daß mir der Umgang mit den mehrsten Frauenzimmern beschwerlich ist? Warum wünsche ich mir doch lieber von einem achtzigjährigen Mann die Algebra zu lernen, als von einem schönen Putz und einer neuen Pariser Mode usw. Stunden, Wochen, Jahre unterhalten zu werden! Von der süßen Schwachheit, die wir Schwärmerei nennen, nicht befreit werden zu können, ist wahre Marter. An mir empfinde ich recht, daß die bedrängte Kirche die andächtigste ist.«

Vor dem Beengenden, das in der trivialen, verständnislosen Umwelt für Albertine lag, hat sie nicht ohne weiteres die Waffen gestreckt; ihr ganzes Streben läuft vielmehr auf ein Sichselbstbehaupten den ihrem Wesen unverwandten Widerständen gegenüber hinaus. Sie will sich nicht kleinkriegen lassen, nicht kampflos herabsinken auf das Niveau ihrer Umgebung, und so lernt sie, wie sie sagt, für ihre alten Tage, um beizeiten ein dauerndes Gegengewicht zu schaffen – allerdings um sich dadurch nur noch mehr von ihrer Umgebung zu entfernen und an ihr noch schwerer zu tragen.

Neben dem Studium fremder Sprachen – sie zitiert gern italienisch – scheint sie sich mit mathematischen Dingen beschäftigt zu haben. »Ein paar Bücher über die Malerei lese ich und bin in den mehrsten Stunden, die ich meinen nötigen Geschäften abzwacken kann, eine enthusiastische Zeichnerin.« Sie schriftstellert; sie verlegt sich planmäßig auf die »Charakterjagd« und studiert die Menschen ihrer Umgebung. Dann wieder sammelt sie Steine für Merck. Sie gibt sich einer ausgebreiteten Lektüre mit Leidenschaft hin, wenn auch ihr Bücherschrank »nicht die Physiognomie ihres Herzens und Kopfes, sondern ihres Geldbeutels« verrät. Sie dürfte im Grunde alles Wesentliche gelesen haben, was auf ihre Zeit gewirkt hat. Die Gestalten der älteren deutschen Volksbücher sind ihr ebenso lebendig wie dem jungen Goethe; sie liebt Klopstock und Bürger, sie lobt bei Gelegenheit Wieland und tadelt Voß; Goethe, Merck und Klinger verehrt sie als ihre »Götzen«.

Dennoch wäre ihr bei alledem die Seele eingeschrumpft und verdorrt, hätte sie nicht auch in ihrer Einsamkeit das Bild der Freunde im Herzen tragen können, die ebenso empfanden wie sie, die in ihrer Leidenschaftlichkeit nicht stets nur die Auflehnung gegen die geheiligte Konvention honoratiorenhafter Reserviertheit sahen, aus deren Seelen ein ersehntes Echo ihr entgegenrief. So wurden ihr Liebe und Freundschaft »der armen Menschen einzige und wahre Glückseligkeit«, und nicht zuletzt in dem Kultus einer enthusiastischen Freundschaft zeigt sie sich als echtes Kind ihrer Zeit, zeigt sie aber auch in kindlicher Unbefangenheit des Gemütes die ganze Weichheit und Reizbarkeit des Gefühls, die Glut der Leidenschaft, die uns im Werther begegnet.

Die Freundin, der sie sich ganz ergeben hat, ist Marianne Höpfner. »Ach ziehet doch nicht so geschwind, ihr Pferde (ruft sie ihr 1774 nach einem Besuche in Hachenburg nach), ihr reißt mir meine halbe Seele hinweg.«

Ist ihre Freundschaft für diese Frau ganz sentimental, drängt sich diese Sentimentalität auch Höpfner selbst gegenüber, dem sie sich als einem Verwandten hüllenloser zeigen durfte, beherrschend in den Vordergrund, – so hat sie für Merck einen eigenen Ton: den frischer Kameradschaftlichkeit, die nicht viel Worte macht von dem, worauf sie in der Tiefe ruht. Gerade deshalb gehören die Briefe Albertines an Merck zu den schönsten, die sie geschrieben, und wir können uns recht lebhaft vorstellen, was der Kriegsrat empfunden haben mag, wenn ihm zwischen den ernsten wohlversiegelten Auslassungen seiner gelehrten Korrespondenten einmal ein Brieflein wie dies auf den Tisch flatterte: »Diese Nacht träumte mir, ich ritte auf meinem zukünftigen Reitpferde bis unter Ihr Fenster. Poch! Poch! Poch! Sie sahen heraus. »Lieber Herr Kriegsrat, leihen Sie mir doch Ihren Mantel, es regnet!« Freundlich sagten Sie: Ja! und machten das Fenster wieder zu. Ich stellte mich auf den Sattel meines Pferdes und sah in Ihre Stube und siehe! da saßen Sie mit sehr finstrer Stirn und schrieben. Unterdessen kam die Magd und brachte mir den Mantel. »An wen schreibt Ihr Herr? Weiß Sie's nicht, Jungfer?« – »Nach Hachenburg! hörte ich vorhin zu Madame sagen.« O weh! dachte ich, ließ ihr den Mantel und galoppierte so geschwind fort, daß mir der Wind um die Ohren sausete, so lange, bis mein Pferd stolperte. Holla, Brauner, sieh vor die Füße! rief ich so laut, daß ich davon aufwachte. Heute ist's Posttag. Ich bin in völliger Erwartung.«

Das einsame Fräulein der Wertherzeit mitten in der schneeglänzenden Westerwälder Winternacht verstand sich auf das Geschäft des Briefschreibens, wenn sie es auch nicht wahr haben will.

Dabei war Albertinen das Briefschreiben nicht die billige Gelegenheit, vor der Welt ihr Pfaurad zu schlagen, keine Spekulation auf das beifalldurstige Mitteilungsbedürfnis vieler Zeitgenossen, die auf sentimentalen Kongressen am Teetisch ihre Briefschatullen öffneten, um vor den Gästen ein geistreiches oder gefühlvolles Feuerwerk abzubrennen und mit dem Witz ihrer Korrespondenten zu prunken. Dazu war sie zu natürlich, zu sehr aller Schaustellung abhold; und so begreifen wir, wenn sie nicht abließ (ebenso wie etwa Goethe seinen Fritz Jacobi), die Freunde zu bitten, ihre Briefe niemand sehen zu lassen.

Was uns Albertine aber recht eigentlich als Vertreterin der Wertherzeit ansprechen läßt, ist mehr als der Kultus der Freundschaft die widerstandslose Hingabe an eine mit Lust auch im Schmerze wühlende Schwärmerei, die wir allerdings mit gutem Recht zu dem Befreienden in ihrem Leben rechnen dürfen, denn ihr verdankt sie die Augenblicke höchster beglückender Begeisterung, sie ist die Achse ihres persönlichen Lebens, um die sich alles andere dreht, die allem seinen Schwung und seine besondere Not verleiht: dem Gefühl der Verlassenheit daheim unter den nüchternen, der Konvention verfallenen Menschen in ihrer Enge, den Flügen in die Domäne des Geistigen und Schönen, der heischenden Hingabe an den ungetreuen Geliebten und die Freunde, dem nimmer rastenden Briefwechsel. Bei allem vor Extremen zurückschreckenden feinen Takt ist diese Schwärmerei voll bewußt, voller Absicht und ein System: »Stella hab ich noch nicht gelesen (schreibt Albertine 1780). Hätte ich sie doch nur schon gelesen! Ich fürchte mich davor. O wer doch ein paar Maß kaltes Blut kaufen könnte! Doch nein! Pfui, Henker! Ich wollte ein Tröpfchen warmes Blut für eine ganze Maß kaltes geben ...«

In ihrer Empfindsamkeit und Schwärmerei mag nicht zuletzt der Grund liegen, warum ihre rastlosen poetischen Versuche nie zur Reife gediehen. Sie hatte die lebhafte Phantasie und die Herrschaft über die Sprache, die Tiefe des Gemüts und den realistischen Scharfblick, die den Dichter machen. Der Empfindsame aber bringt meist deshalb nichts Bleibendes und Reifes hervor, weil er sich keines Dinges bemächtigen kann, sondern von allem selbst überwältigt wird.

Immerhin lassen die Bruchstücke ihrer Lieder, die sich erhalten haben, in uns den Wunsch nach mehr lebendig werden, besonders aber jene Westerwälder Dorfgeschichte, die sie bezeichnenderweise mit den Worten einleitet: »Meine Geschichte ist mir nur dessentwegen so sehr lieb, weil sie die Heftigkeit der leidenschaftlichen Liebe anzeigt auch in Herzen, die nicht schwärmen.« Aber man täuscht sich, wenn man sich nun auf eine überspannte Herzensgeschichte gefaßt macht. Dazu fühlte Albertine trotz aller Schwärmerei zu realistisch. Werthers einfach-ergreifender Art verwandt, anschaulich und ohne viel Worte, ohne übertriebene Empfindsamkeit, zeigt sie uns ein Stück Wirklichkeit, gesehen im ungekünstelt-tiefen Sinne der Volksballade.

Auch Albertine von Grün hatte das »Zurück zur Natur!« des Genfer Uhrmachersohnes gehört, und es doppelt tief empfunden, weil jeder Schritt, durch den sie sich von den schlicht-natürlichen Verhältnissen, in denen sie viele um sich glücklich sah, entfernte, sie in Konflikte brachte, deren lastende endlose Kette, wie sie glaubte, das Verhängnis ihres Lebens wurde. Von einem Bauern, der zehn Nester voll junger Nachtigallen aushebt, die Tierchen blendet, nur um den ganzen Winter ihren Gesang zu haben, schreibt sie: »Der Glückliche hat keine Romane gelesen, raubt sich durch romanhaftes Mitleid keineswegs das Vergnügen, den ganzen Winter den göttlichen Sänger zu hören, da er es doch kaum halb fühlte, wie melodisch sein natürlicher Gesang ist. Wie viele Tränen, Kummer und Sorgen hat mir schon mein (durch die Kultur) verderbtes Herz gekostet!«

Rousseaus Optimismus hat sie sich allerdings nicht zu eigen gemacht.

Der Kampf zwischen dem Beengenden der massiven Westerwälder Wirklichkeit, die sie umgab, und dem in ein weites ideales Land gerichteten Flug ihrer Seele, den sie ein Leben lang seufzend anzufechten hatte, konnte bei ihrer zarteren Natur und der Reizbarkeit ihres Empfindens ihre Lebensanschauung auf die Dauer nicht unbeeinflußt lassen. Denn da sie bei jedem Aufstieg, zu dem sie ansetzte, der Ballast der Realitäten unsanft wieder zur Erde zog, und sie, den Blick auf das ferne Leuchten gerichtet, ihm doch nicht näher kam, ein Menschenleben lang, mußte sie notwendig verzweifeln an der Verwirklichung dessen, was ihr begehrenswert erschien, und der Meltau des Pessimismus mußte ihr die bunten Blumen ihres Lebens bisweilen grau in grau erscheinen lassen. Vielleicht empfand sie dies drückender in jüngeren Jahren, ehe ihr das wehmütige Lächeln der Resignation um die Lippen spielte, wenn auch von einer tiefer gehenden Entwicklung ihrer Persönlichkeit in dieser Richtung nicht die Rede sein kann: sie ist dieselbe in all den 20 Jahre umfassenden Briefen.

Trotz der Weltverachtung jedoch, die aus diesen Bekenntnissen spricht, fühlte sie sich in ihren gesunden Tagen nicht unglücklich. »Mein Leben fließt so ruhig dahin, wie der Bach Gideon, an dem die Gottheit vorüber wandelte (versichert sie Merck 1784). Ich kenne endlich, Gott sei Dank, meine Menschen so genau, daß ich jede Klippe weiß, die ich vermeiden muß ... Ich habe keine Leidenschaften und keine Vorzüge, die mich in Gefahr setzten, ein ruhiges Glück zu verlieren. Nur der Umgang mit meinen Freunden fehlt mir. Ich bin so unabhängig, als ich bei meiner mittelmäßigen Fortune sein kann, gesünder als ein Fisch im Wasser und fast immer guter Laune.«

Manchmal allerdings, besonders in jüngeren Jahren, als das Leben noch begehrend in ihr flutete, übermannte die Erkenntnis des alles Lebende verzehrenden Leids sie mit solcher Gewalt, daß sie nur in dem Gedanken der Nichtigkeit aller Dinge unter der Sonne ihren Gleichmut wiederfinden konnte: »Laßt mich immer in Ruh mit der Liebe (schreibt sie kurz nachdem sie Klinger erkannt hatte). Wenn ich's nur hier (in Hachenburg) besser gewöhnen könnte, so wäre alles gut. Doch hab' ich mir ein Mittel gesucht, und das fängt an ziemlich gute Wirkung zu tun. Nämlich ich habe mir einen fürchterlichen Totenkopf in meinem Zimmerchen aufgehängt. Seitdem bin ich viel zufriedener. Ich sehe in ihm ein wohlgetroffenes Bild von mir und denke jede Stunde: Ach, wenn ich dir ähnlich bin, wird ja Ruhe, Zufriedenheit und Wonne von Ewigkeit zu Ewigkeit in meiner Seele wohnen.«

Als Quell und Ursprung alles Unheils betrachtet sie ihr Mitleid. Das dem Mitleid entsprungene Interesse an Klinger, das sich bald in eine leidenschaftliche Liebe wandeln sollte, hatte sie tief unglücklich werden lassen. Überall und immer machte ihr zartes Empfinden die Leiden der gequälten Kreatur zu den ihrigen: »Ich habe schon erstaunlich viel traurige Folgen von meiner Gutheit gehabt, bin schon oft mißhandelt und verleumdet worden über gewiß wahrhaft gute Taten, und doch kann ichs nicht lassen, ohne alle Rücksicht auf mich selbst zu handeln.« Doch sie glaubt als Christin an das Heilige, das Ewige in diesem Zug ihres Herzens: »Es ist ein Richter in meiner Brust, der dem Sturm gewachsen ist.«

Dies ist das Porträt des Westerwälder Fräuleins aus der Wertherzeit, und die Geschichte des einst so leidenschaftlich schlagenden Menschenherzens, das vor nun fast 150 Jahren unter dem schlichten Stein auf dem Hachenburger Friedhof endlich zur Ruhe kam. Wahrlich, eine rührende Gestalt! Von den vielen, die in dahingesunkenen Zeiten mit aufgeschlossenem Geist und Herzen über unsere heimische Erde gegangen sind, eine der wenigen, die uns noch heute menschlich nahe zu kommen vermag. Denn noch heute pulst in ihren Briefen das schöne rote Leben, frisch wie am ersten Tag, und die Stimme, die aus ihnen zu uns dringt, bewegt unser Herz noch zu derselben Ergriffenheit wie zu ihrer Zeit das ihrer Freunde.


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