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Geistesleben.

s. Bildunterschrift

H. Aulmann, Kamm der heiligen Hildegard. Karolingische Elfenbeinschnitzerei.

Die heilige Hildegard

Von Leo Sternberg

Als der Archipoeta, in dessen kecken Liedern die urwüchsige rheinische Weltlust übersprudelte, bei der heiligen Hildegard Erlösung von der Sinnenfreude suchte und unter ihrem Einfluß das Mönchsgewand anzog, verebbte die letzte Woge überschäumenden Heidentums am Strande der Mystik. Was Heinrich III. bei seiner Hochzeit mit Agnes von Poitiers begonnen, als er die Spielleute, die sich in Ingelheim in Scharen zu dem Feste drängten, unbeschenkt abweisen ließ, vollendete sich jetzt. Die Zunft, die dem Kult der Frau Welt am hemmungslosesten diente, mußte vor der geistlichen Dichtung, die sich in der asketischen Luft der cluniacensischen Reform ausgebildet hatte, abtreten.

Wie Bernhard von Clairvaux, ihr Zeitgenosse, betrachtete Hildegard von Bingen das unmittelbare Schauen des Ewigen als die Aufgabe der Menschheit. Noch war der Sonnengesang Franz von Assisis nicht erklungen, als die Visionen ihrer erleuchteten Stunden die Bewegung einleiteten, die mit Meister Eckhart und Heinrich Suso ihren Höhepunkt erreichte. Im Jahre 1098 als Tochter des Burgvogts von Böckelheim geboren, war sie ins Kloster Disibodenberg eingetreten und 1148 mit diesem auf den Rupertsberg bei Bingen übergesiedelt. Dort und in dem Tochterkloster Eibingen im Rheingau, das sie 1165 gründete, waltete sie als Äbtissin.

Deutlich hat ihr das Schicksal, das sie sofort in große Zusammenhänge stellte, den Weg vorgezeichnet. Der Kampf zwischen Papst und Kaiser um die Oberhoheit von Gottes- und Weltherrschaft und das durch die Erschütterung des Erdkreises auch in die menschlichen Ordnungen einbrechende Chaos konnte nicht dramatischer in ihr Gesichtsfeld treten, als da Heinrich, der Büßer von Canossa, von seinem eigenen Sohne entthront und verraten, als Gefangener in Böckelheim eingebracht wurde, wo sie als Kind bei ihm im Kerker weilte. Ebenso wurde sie von den Wogen der religiösen Erneuerung emporgetragen, die Bernhard von Clairvaux und die strenge Disziplin der eben gestifteten Bettelorden aufwarfen, und wie leidenschaftlich sie in die Kreuzzugsbewegung hineingerissen wurde, erzählt die Sage vom Brunhildenstein im Taunus, wo sie im Gebet gekniet haben soll, um Bernhards Aufruf zum Zweiten Kreuzzug zu unterstützen. Dazu kam, daß die Gabe, übersinnliche Erkenntnisse zu empfangen, sich früh bei ihr einstellte. Aber so wenig wollte sie daran glauben, daß ihr Leben ins Metaphysische ragen sollte, daß sie ihre Gesichte verschwieg und lange schwer an dem Kassandraschicksal trug, verborgener »Wahrheit sterbliches Gefäß zu sein«. Bis es kam, wie Prophetenwort es ausdrückt: »Da ich schweigen wollte, brannte es mir in den Eingeweiden.« Sie verfiel in Krankheit, die in lebenslängliches Siechtum überging, und erst als eine Stimme ihr zurief »Schreibe« – ebenso wie Jesaia und Jeremia ihre Berufung zum Prophetenamte schildern –, folgte sie dem göttlichen Auftrag.

Eine der kostbarsten alten Miniaturen des Codex Scivias, der sich mit ihren übrigen aus dem Tochterkloster Eibingen geretteten Schriften noch in der Landesbibliothek zu Wiesbaden befindet, stellt sie von feurigen Zungen umlodert dar, die vom Himmel herunter um ihre Stirne greifen. So schrieb sie, ihren beiden geistlichen Töchtern Richardis und Hiltrudis oder dem Benediktinermönch Volmar diktierend, der ihre Schriften auch grammatikalisch feilte. Denn sie schrieb wie alle frühen Mystiker, und auch Albertus Magnus noch, in lateinischer Sprache, von der sie nichts als die Anfangsgründe kannte.

Nach zehnjähriger Arbeit lag ihr erstes mystisches Werk »Scivias« vollendet vor: 26 Visionen von der Erschaffung, der Trinität, dem Opfer, dem Antichrist, dem Weltende, in denen sie dogmatische und moralische Wahrheiten, eingekleidet in die Rätsel kühner und eigenartiger Bilder, vermittelt. In ihren beiden Werken »Physica« und »Causae et curae«, auf denen ihr Ruf als erste deutsche Naturforscherin und Ärztin beruht, deutet sie die Gesetzlichkeit der Natur als ein Sinnbild des göttlichen Lebens. Die Einheit der Schöpfung ist der Gedanke, der ihr »Buch von den göttlichen Werken« beherrscht, während sie in dem »Buch von dem verdienstlichen Leben« das System der christlichen Moral in dramatischen Zwiegesprächen zwischen Tugenden und Lastern entwickelt. Neben ihren Lebensbeschreibungen der Heiligen Disibod und Rupert ist ferner als literarhistorische Kuriosität die lingua ignota zu vermerken, die von ihr geschaffene, 900 Worte umfassende Geheimsprache. Von eigentlichen dichterischen Werken besitzen wir ein geistliches Singspiel von ihr, ein Melodram, das den Kampf einer Seele um die Tugenden vorführt, 70 Lieder, Antiphonen, Sequenzen, Hymnen und Responsorien, die sie selbst vertonte, sang und in Neumenschrift niederschrieb, »ohne von einem Menschen darüber belehrt worden zu sein, denn niemals hatte ich – wie sie sagt – irgendeinen Gesang gelernt«. Kraft der Inspiration und dichterische Phantasie sprechen hier vielleicht noch am lebendigsten zu uns.

Ihrem gesamten Werk aber kommt schon als Erkenntnisquelle für das Seelenbild der frühen Mystik unvergleichliche geistesgeschichtliche Bedeutung zu. Hildegard stand nach ihrem eigenen Zeugnis in beständiger Anschauung eines Lichts, das ihr als »Schatten des lebendigen Lichtes« erschien und ihr zuweilen auch das wahrhafte lebendige Licht zu erkennen gestattete. In diesem Lichte, das sie nicht mit den leiblichen Augen erblickte, erfaßte sie alle Dinge; Schriften und Reden, Tugenden und Werke der Menschen leuchteten ihr daraus entgegen wie Spiegelungen im Wasser. Doch vernahm sie Worte und Stimme nicht, wie sie aus Menschenmund ertönen, sondern wie eine leuchtende Flamme oder eine in reiner Luft sich bewegende Wolke. Sinn und Auslegung des Psalters, der Evangelien, aller Bücher des Alten und des Neuen Testaments wurden ihr klar, ohne daß sie die Texte zu übersetzen verstand. Doch so wenig wie verstandesmäßiges Denken, waren Zustände des Außersichseins dabei im Spiel. Bei offenstehenden Augen, ohne je in Ekstase zu geraten, wurden ihr – wie sie bekennt – die Gesichte zuteil.

Auch wenn Mystik sich zuweilen als sublimierter Eros darstellt, wie sie etwa in dem »Badeliedlein« oder dem »Geistlichen Trinklied der Nonnen am Niederrhein« vibriert, so tritt sie hier als Amor dei in reinster Form auf. Hildegard empfindet sich zwar nur als Posaune, als Zither, auf der ein Höherer spielt, als eine Feder ohne eigne Flugkraft, die vom Winde emporgetragen wird, allein damit charakterisiert sie dasselbe, was Tauler das Entwerden, das Verlieren der Ichheit und die Vergottung nannte. Die Zeitgenossen glaubten an eine magische Kraft. Bischöfe, Äbte, Fürsten, selbst Kaiser und Päpste traten mit der Prophetin in brieflichen Verkehr, unzählige Scharen wallfahrten zu ihr, sie reiste selbst lehrend und läuternd im Lande umher. Sagen und Wunder umwoben bald die heroische Erscheinung der Mystikerin, deren Wahlspruch hieß »Ich leide gern«; und noch heute bildet die Gottsucherin mit der verzehrenden Sehnsucht im Leben des Rheingaus eine geistige Macht.


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