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Der Woost hatte sich hinter den Höllkopf auf die Lauer gelegt und verstellte sich, als sei er eingeschlafen.
Da gab mir mein argloses Frauchen einen Rat, während ihr lustiges Ringellöckchen am Ohr wackelte. Ich sollte mir eine Männerfreundschaft suchen. Sie verwies mich an den Hasselbächer Luis, der eine Stunde Wegs weit auf einem niederen Stockwerk der Heide wohnte.
Frauchen hatte den Hasselbächer richtig erkannt. Er hatte auf seinem Gesicht eine unsichtbare Tafel: Hier kann Schutt abgeladen werden.
Als geschworener Menschenfreund fiel der Hasselbächer wie die Katze immer wieder auf die Beine, sooft er aus allen Himmeln geworfen wurde.
Auch zu meinem Herzen hatte der Hasselbächer den Weg schon bald gefunden.
»Lüfte dich gut aus!« hatte mir Amalie nachgerufen. Sie begleitete mich zwischen den hohen Schneemauern bis zum Armenhaus, um der Säulies ihre Aufwartung zu machen. Die Säulies war die abgedankte Schweinehirtin und lag krank.
Die tiefverschneite Heide brach wie eine Eisscholle ab an der satten Himmelsbläue. Unbändig grell sprühte der Sonnenglanz von der Schneedecke auf und bestürmte meine Augen mit der übermütigen Lichtfülle, die ich nur in kleinen Schlucken mit halbgeschlossenen Lidern trinken konnte. Die verknorrten Ebereschen trugen wie verwundete Krieger einen einseitigen Watteverband. Es war ein mühsames Wandern. Weil ich mich aber durchschaffen mußte, erleichterte ich mein Gemüt und neckte mich mit Spitz Zottelohr.
Die Hasselbächer freuten sich meiner, als sei ihnen ein Geschenk gemacht worden. Nach dem Kaffee zogen wir Männer uns allgemach in die Studierstube und zum Berg Horeb zurück. So hieß der eiserne Kastenofen, der unten Feuer spie und oben die Opferung Isaaks zur Schau stellte. In der Ofenplatte war mit mittelalterlicher Naivität der biblische Vorgang eingegossen. Vater Abraham wollte eben die gezückte Räuberpistole auf das Isaaklein abdrücken. Aber ein rettendes Engelbübchen sandte aus den Wolken auf die Mordwaffe einen Wasserstrahl, den es geistesgegenwärtig am nächsten bei der Hand hatte.
»Schießen Sie los!« munterte mich der Hasselbächer an. Als ich ihm meinen Zustand freimütig bekannte, legte mir mein geistlicher Nachbar die Hand auf den Arm und besah mich mit gütigem Ernst.
»Ich freue mich, daß Ihnen die Westerwälder Rauhbürstigkeit so hart zu schaffen macht!«
Auch der Hasselbächer war vor einem Menschenalter aus der Stadt gekommen und nannte meinen Durcheinander eine Mauserung. Er hatte sich gleichfalls im ersten Winter, der mit Hörnern und Zähnen ihn anfiel, nicht so rasch wie sein Kirchengickel umstellen können. Der Woost wollte ihn aus seiner Stadthaut herausblasen. Der Hasselbächer besorgte wie ich, sich selber aufgeben zu müssen.
»Dabei hatte ich mich noch gar nicht gefunden! Ich hielt das aufgelesene und zusammengeborgte Sammelsurium von Meinungen und Angewohnheiten für meine Persönlichkeit. Inwendig war ich noch nicht bei mir. Ich verwechselte mich mit dem, was mir außen auf dem Buckel hing als Huckepack wie den Kietzeleuten beim Hausieren. Darum mußte ich von vorn anfangen und erst auf der untersten Schulbank das Stillsitzen lernen. Ich saß gegenüber einer hohen Wandtafel, darauf eine sichere Hand weite Linien zog, die hinreichten bis in die Unendlichkeit. Endlich verstand ich: ›Siehe, hier auf unsrer hohen Heide ist alles unverbildet und echt, ob's lind oder rauh ist. Alles ist bei sich. Jeder Baum sagt: Ich hehle nicht, was ich bin! Und der Woost weht unter den Wolken wie der allmächtige Geist. – Wir aber machen ihn klein mit unserm Geplapper vom lieben Gott-Großvater.«
Des Hasselbächers Brillengläser blitzten. Er wurde heute mein Bruder und gestand mir: Auf der Fuchskaute habe ihn der Sturm gegen die Wetterfichten taumeln lassen. Niemand kam zu Hilfe, aus den Wolken hing die Mondsichel wie ein bluttriefendes Augenlid. Da hieß es:
»Du bist die Stadtlüge! Mach dich fort, oder wage zu sein, was du bist, ein Mensch allerwege!«
Mir wurde seltsam zumute, als hörte ich unerhört Neues, das mir doch einfiel wie eine lang vergessene Selbstverständlichkeit.
»Schau, alles was leibt und lebt im Hochland, ist aus der ersten Hand. Es hat wohl seine Nichtigkeit, daß Gott hier oben immer dicht dabei ist. Auch deine Wildendorner, das stachlichte Gewächs, sind wie ihre Wacholderheide, aber lauter Originale, ohne es zu wissen.«
Der Hasselbächer zögerte, mich ziehen zu lassen und zog die Stirne kraus: »Ich glaube, das Wetter ändert sich!« Der Himmel hatte sich grau überzogen und baute hinter den weißen Giebeln der Nachbarhäuser eine steile Schlucht auf.
Ob ich nicht im Hasselbächer Pfarrhaus zu nächtigen vorzog? Das mochte ich Frauchens wegen nicht. Mir schien schon überflüssig, daß mir mein Gastgeber seine Windlaterne aufnötigte. Eine Stunde Wegs bedeutete hierzuland einen Katzensprung.
Kaum hatte ich den steilen Küppel vor Hasselbach, den Lungenschinder, wie ihn mein Herzbruder nannte, erklommen, als ich dessen Besorgnis mit Schrecken begriff. Jählings überfiel mich der Schneewoost, als habe er mir aufgelauert. Spitz Zottelohr hielt sich dicht an meinen Kniekehlen, die er ab und an mit der Schnauze anrührte, um sich meiner zu vergewissern.
Gegen die Wildgewalt konnte ich nicht anders als seitlings mit der Schulter und mit tief geneigtem Kopf angehen. Die Augen vermochte ich kaum spaltweit offen zu halten. Das Untier Woost heulte voll schauriger Lustigkeit, raffte mit seinen Tatzen Schneestaub auf und warf ihn mir in die Augen. Die Luft zum Atmen wurde zu weißem Gewoge verdichtet, das jeden sichtbaren Anhalt für meine Wegrichtung fortschwemmte. Das Menschlein, das mit eigenem Willen vorwärts strebte, ging wie ein Taucher auf dem Meeresboden. Ich fühlte mich von tausend eisigen Fangarmen umschlungen, die mich als ungebührliches Weghindernis niederzuringen trachteten.
Von Schritt zu Schritt steigerte sich die Not. Ich sank bis unter die Arme in eine Schneewehe ein. Mein Windlicht erlosch. Vom Weg erkannte ich keine Spur. Ich kroch auf Händen und Füßen in dem daunenweichen Schneebett, bis ich wieder Boden unter mir spürte. Dabei ging mir die Richtung verloren. Ich wußte nicht mehr, wo Wildendorn und wo Hasselbach lag.
Meine Stimme gegen den Woost zu erheben, war vergeblich. Hohngelächter antwortete mir: ich sei das einzige Lebewesen weit und breit. Ich wurde dafür gegeißelt, weil ich mich nicht im Schlupf und Bau hielt, während der Unhold die Welt für sich allein haben wollte.
Mein Eigensinn hatte mich in Lebensgefahr gebracht.
Abermals wich mir der Halt unter den Füßen. Zugleich saß Spitz Zottelohr vor mir und leckte mir die Hände, während er in heller Angst aufheulte. Das Tier spürte unsre Todesnot.
Mir fiel ein, welch grausam letzte Unerbittlichkeit dem Woost nachgesagt wurde im Munde der Leute, und daß ich bisher an der Wahrheit ihrer Worte gezweifelt hatte.
Es war die wörtliche Wahrheit, daß einer, der sich im Schneewoost irrgelaufen hatte, gewärtig sein konnte, daß der Tod ihm begegne und mit ihm spiele wie die Katze mit der Maus. Nirgend fand dann der Verirrte einen Ausweg. Er ging und ging im Kreis herum, bis er entkräftet umsank und der Woost ihn einscharrte.
Mancher wurde aufgefunden, als schon die Raben an ihm waren.
Das Grauen trieb mich auf. Trotzdem ging die Wildnatur, deren Toben mir Hören und Sehen vergehen machte, nicht am ärgsten mit mir um. Vielmehr empörten sich aus meinem eignen Innern Stimmen gegen mich. Sie klagten mich an, nicht mit der Stimme des Hasselbächers, die voll gütigen Verstehens war. Aber die Stimmen eigneten sich dessen Worte an und verdammten mich. Sie richteten mein falsches Unwesen, das ich hochhielt als mein besseres Ich, während ich ein dummer Bettelstolz war. Nun erfuhr ich und bekannte, daß ich ein Nichts sei. Meine hochbeinige Gelehrsamkeit und verstädterte Hochehrwürdigkeit samt allen andern Heit und Keit befreite mich nicht aus der Gewalt des Unholds.
So sah ich mitten in der eisigen Hölle den Tod greifbar vor Augen, bevor ich angefangen hatte, mich selber zu leben.
Dies war die schlimmste Stimme, die am ärgsten mir zusetzte. Wenn ich jetzt fortgenommen wurde, starb ich an der Schwelle meines Lebensanfangs. Inmitten der tobenden Besinnungslosigkeit bedrängte mich der Widersinn eines solchen Sterbens. Ich konnte dagegen nur mit Bitten anhalten: »Kannst du so grausam sein und mich jetzt elend umkommen lassen?«
Hintaumelnd stieß ich mit dem Kopf an einen Baum an und umklammerte ihn. Von seiner aufrechten Festigkeit ging ein sicheres Wissen aus, das mir aber nicht tröstlich war, sondern zur messerscharfen Erkenntnis wurde. Der Baum war Zeuge gegen mich und sprach die Wahrheit:
»Ich bin, was ich bin! Aber – was bist du?«
Ich nahm den Hund in meine Arme und bat ihm ab, daß ich mich über ihn erhoben hatte als sein Herr: »Auch du bist, was du bist!«
Dies alles dachte ich nicht gedankenblaß auf der warmen Studierstube, sondern erlebte es in meiner letzten Not als Wirklichkeit. Mich ergriff es, daß Gott selber, als allen Lebens Leben der allmächtige »Ich bin«, ohne Anfang und ohne Ende sei.
Indem ich mich so für den Allerletzten erkannte und mit Spitz Zottelohr zusammen wärmte im Rachen der fressenden Wildnatur, fand ich mich mit leisem Beginnen in eine große Veränderung hinein. Neue Stimmen wurden in mir hörbar. Ich hatte, wie die Wildendorner sagten, »erkannt und bekannt« und war dadurch bei der Wahrheit selber angekommen. Da gesellte sich zu dem Weltenaufruhr, der jeden Platz einnahm und Mund und Nase mir verstopfen wollte, eine höhere Macht, die in mir Raum schaffte für eine Stille, die an Weite und Tiefe zunahm. Deren Stimme sprach mir voller Sinn und Wissen: »Du bist mitten in dem allgegenwärtigen ›Ich bin‹, welches das Weltgeheimnis ist. Du bist in Gottes Hand gefallen.«
Im Augenblick wandelte sich meine Lage von Grund aus, obwohl sie, von außen angeschaut, nicht im mindesten sich verbesserte. Vielmehr spürte ich, wie das warme Brünnlein meines Bluts erstarrte in der Umschlingung der Unholdigkeit und zum Herzen wich. Aber in mir schieden sich Leib und Seele und erwählten ihr gesondertes Los. Die Seele erfuhr ihre Sondernatur und Selbständigkeit.
Der Mensch ist mit Leib und Seele ein Doppelgänger in zweierlei Welten.
Dem Sinnlosen war nur meine armselige Leiblichkeit preisgegeben. So feuerheiß meiner Jugend das sichtbare Hinscheiden ankam, war doch das blitzgleiche Zucken meines Schmerzes vorübergehend. Es galt dem Abschied von Frauchen und meinem werdenden Kindlein, das soeben in mein Bewußtsein hineingeboren wurde. Aber gleichzeitig sänftigte mich die Zuversicht, daß alles Lebendige im Glauben eins und untrennbar sei.
In dem neuen Raum, darin ich mich vorfand, waltete das Wirkliche, das mit Demut und Dankbarkeit gegrüßt werden wollte. Das Wirkliche machte mich Untertan und tief ergeben seiner allwaltenden Sachlichkeit. Ihr war alles Geschehen untergeordnet, selbst die Unholdigkeit, die mich fressen wollte.
So war ich trotzdem getrost, weil ich in meiner mutmaßlichen Todesstunde das Höchste erfuhr: »Er ward entrückt im Geist«! Ich faltete meine Hände um mein Hündlein und lehnte mich gegen den Baum wie an meinen Bruder.
Darum nahmen meine Ohren zuerst nicht den Wechsel auf, der in den heulenden Lüften vor sich ging. Erst als Spitz Zottelohr zu bellen anhob, horchte ich auf. Jetzt drang durch den Woost hindurch ein gleichmäßiges Rufen zu mir, im Auf und Ab eines hellen und dunklen Klangs.
Glockengeläute! ... Die Hilfe rief: »Hier bin ich! – Wo bist du, den ich suche?«
Es ist Brauch auf dem hohen Wald, daß die Glocken im Dorf geläutet werden, wenn einer im Schneewoost noch draußen ist. Dann kommt seine Freundschaft zusammen und hängt sich im Turm an die Glockenseile, damit der eherne Mund dem Vermißten draußen entgegenhallt durch den Sturm und den Tod von ihm scheucht.
Wie herrlich als Gottesgeschenk solche Nachbarschaft war! Ich wußte wieder, wohin und nahm von neuem den Kampf auf. Wohl sank ich noch öfter in dem Unwegsamen ein. Aber die Glockenrufe ermüdeten nicht. Ich erhob mich, drang vor, wich auch einmal einen steilen Hang hinab. Zuletzt sah ich rotes Licht winken und hörte Hundegebell, das Spitz Zottelohr freudeheulend beantwortete. Beim ersten Haus klopfte ich an das erleuchtete Fenster und frug: »Wo bin ich?«
Ich war wieder in Hasselbach. Mein Herzensbruder hatte mich ins Leben zurückgerufen.