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Rheinlands Notzeit, die seit dem unglücklichen Ausgange des Krieges herbes Schicksal über die einst so frohen Lande brachte, führte vielleicht tiefer, als es die Jahre des Glückes getan hatten, in die Seele des rheinischen Menschen. Als die Begehrlichkeit der Sieger auf geraden, dann auf krummen Wegen, die Rheinlande dem deutschen Vaterlande entreißen wollte, ward man drinnen und draußen des ungeheueren Geschehens sich bewußt, bei dem es um die deutsche Seele ging. Die deutsche Seele in doppeltem Sinne. Des rheinischen Menschen Seele kann nur stark und frei sein als deutsche Seele, und die deutsche Seele mußte verarmen, wenn ihr nicht aus der ewig sich erneuernden Frische der rheinischen Seele die Kräfte immer wieder zuströmten. Am ewigen Strome deutschen Schicksals leben diese eigenartigen Menschen, die bei allem Zeitergreifen, aller überschäumenden Lebenslust die Ewigkeitssehnsucht in ihren Herzen tragen. So ist es kein Wunder, daß am Rheine von der Quelle bis zum Niederrhein, bis dort, wo der Strom, müde und zum Sterben bereit, in ein anderes Land fließt, zu allen Zeiten Denker und Dichter wohnten. Vom lustigen Fabulierer bis zum grüblerischen Sucher sind sie alle vertreten, und wenn es auch in der zünftigen Literaturgeschichte bisweilen bestritten wird, so mag es dennoch nicht unwahrscheinlich sein, daß am Rheine die Wiege der deutschen Literatur gestanden hat.
Wen sollte es wundern, daß dort, wo im wahrsten Sinne das Rheinland Weinland ist, in jenen Gefilden, wo einst Karl der Große die Reben pflanzte und heute noch in lauen Sommernächten über die Brücke schreitet, die goldne Strahlen über den Strom bauen, im Nassauischen, so etwas wie eine Dichterecke zu finden ist, die im Rahmen der zeitgenössischen Literatur ihre Bedeutung hat.
Als die Waffen ruhten und die Stürme der Revolution über Deutschland dahinbrausten, erstand der wild zerklüfteten, zerrissenen Zeit in Fritz von Unruh, ihrem »chaotischen Sohn«, der Deuter und Dichter. Mit seinen Dramen »Geschlecht«, »Platz«, »Der Rosengarten« wird er als Repräsentant des deutschen Expressionismus seine Bedeutung behalten. Bilder von rasender Glut stempeln sein »Geschlecht« zu einem der leidenschaftlichsten Dramen, rücksichtslos ist im »Platz« der falsche Revolutionsgeist gegeißelt, während es im »Rosengarten« um die Rettung der deutschen Seele geht, die in der Wirrnis der Zeiten heimatlos geworden ist. Eigenartig ist Unruhs Entwicklung in der Lösung vom Zwange der Tradition. Er, der als Offizier einst noch den Krieg als etwas Heiliges betrachtete, sah diese angelernte Meinung draußen zerbrechen, rang sich durch zum Pionier neuen Menschentums: »Ich sehe tief in das Herz der Welt, da deine Kraft aus neuer Liebe neue Menschen schafft.« Auch in seinen Reden, in seinem Reisebuch »Flügel der Nike« tritt sein neues Ethos klar heraus, will Unruh der Zeit Verkünder und Führer werden, zu deren bedeutendsten Köpfen er gehört.
In diesem Sinne ist er, so verschieden auch sonst die beiden Dichter in allem andern sein mögen, eng mit Leo Sternberg verknüpft. Sternberg ist im Laufe der letzten Jahre immer mehr auf den ihm gebührenden Platz in der deutschen Literaturgeschichte gestellt worden. Seine blutverbundenen, in der Heimaterde wurzelnden Dichtungen sowie die Farbigkeit, Fülle und Geistigkeit seiner rheinischen Erzählungen: »Der Venusberg« und »Von Freude Frauen sind genannt«, tiefer, ewiger Gleichnisse, die seinen Ruhm als Erzähler fest begründen, machen ihn zum Repräsentanten des mittelrheinischen Kulturkreises. Typisch in dieser Hinsicht ist sein »Frühmesser«, jene ergreifende Erzählung, in der er, an ein schweres Schiffsunglück auf dem Rheine anknüpfend, in grauenvoller Realistik die Unglücksminuten schildert und im Anschluß daran, fast mystisch, von der Kraft des Glaubens, dem Wunder des Wollens redet. – Vielseitig, von edlem Suchertum erfüllt, ist Sternbergs Lyrik, deren Spannweite, vom reizenden Naturlied bis zur tiefsten Menschheitsdichtung reicht. Auch um die Anerkennung als Dramatiker ringt Sternberg. Ein starkes Erlösungsdrama »Gaphna« hat sich leider ebensowenig wie das geschichtliche Drama »Die Junggräfin« trotz guter Aufnahme der Uraufführungen weiter durchgesetzt. Aus dem Erleben der letzten Jahre erwuchs das Schauspiel »Judas«, das noch der Erprobung auf der Bühne harrt.
Eine Auseinandersetzung mit den Menschen in den Tiefen des Menschenlebens ist vielleicht das charakteristischste Merkmal im Schaffen Fritz Philippis. Sein Schaffen ging aus von der innerlichsten Erfassung der Westerwälder Bauern, unter denen er lebte, um dann, durch die Erschütterungen des Berufslebens – Philippi war eine Zeitlang Zuchthausgeistlicher –, dem Seelenleben der Gefangenen nachzugehen und auch ihrer Seelennot gerecht zu werden. Es klingt in seinen Werken viel auf, was im Grunde an Gerhart Hauptmanns geistige Welt erinnert. Es ist der gleich brünstige Schrei nach Menschenliebe, es ist die gleiche innere Entrüstung über das kalte, selbstgefällige, unmenschliche Richtertum, das ihm, wie Hauptmann, das Richteramt als die größte menschliche Anmaßung erscheinen läßt und ihm, dem stillen Dichtersmann, der uns einen Strauß der zartesten Dichtungsbücher flocht, die Feder zur Kampfschrift über »Strafvollzug und Verbrecher« in die Hand drückte, einem Büchlein, das damals zu schreiben, Mut und Mannhaftigkeit erforderte.
Die Welten von Unruhs, Sternbergs und Philippis faßt in gereiftem Künstlertum Rudolf G. Binding in erstaunlich wesentlichem Werke zusammen. Quelle seiner Dichtung ist eine fast mystische Liebeskraft: ein liebender Glaube, der die Menschen in ihrer Schwäche groß und in ihrem Fehlen noch rein sieht. Zu immer leidenschaftlicherer Kraft wuchs seine dichterische Gabe auch im Kriege. Was andere zerbrach, – ihm formte sich auch das schrecklichste Erleben nur zu neuem Glauben: Alles Leben wird schön durch diese Kraft. Wenn wir uns nur »den Strom des Alls nicht bannen« lassen, dann wird uns
»Leben und Tod ... gleiches Berauschen«. Überall in Bindings zahlreichen Werken findet sich diese Einstellung, die Binding nicht nur innerhalb des nassauischen, sondern auch des deutschen Schrifttums unserer Tage zu einem eigenen, und was die Form angeht, glänzenden Dichter unserer Tage macht. –
Eine andere Seite des rheinischen Wesens offenbart Alfons Paquet. In seinen Adern rast das unruhige Blut, das durch die Welten treibt. Seinem Geiste genügt es nicht, am friedlichen Herd zu rasten und stille Weisen zu sinnen. Er gehört zu dem Schlag, den wir in den rheinischen Gauen so oft finden, der brüderlich die Menschen erkennen und umschlingen will. Er ist sich seines Odysseusloses aus der Erde innerlich bewußt. So liebt er die Welt und ihre Städte und setzt sich ein, »die Erde zu bezwingen und in allen Fugen sie auszuforschen und zu deuten wie ein Bote und Kundschafter von einem andern Stern«. Seine Dichtungen erfassen so die Welt, die Städte, die Menschen; sie gehen an die sozialen Fragen und finden von ihnen aus, wie es nun einmal Leitsatz unserer Tage ist, den Weg zur Menschheitsdichtung im anderen Sinne. Eine »Ehrerbietung des Menschen vor dem Menschen, des nächsten vor dem fernsten« muß wiederkommen, dann wird der Mensch auch wieder Gott schauen. Auch unseres rheinischen Landes Schicksalstage sind ihm nur eine Station auf dem Wege, auf dem wir Menschen, wie er einmal sagt, »durchs Trübe schauen und zur Reinheit dringen«.
Neben die bisher genannten Dichter, die über ihre Heimatgrenzen hinaus schon lange verdiente Anerkennung gefunden haben, tritt eine wackere Schar junger Talente, die aus der heimatlichen Scholle ihre Kraft nehmen und sich berufen fühlen, mitzuweben an einer neuen Zeit.
Da ist das vielseitige Talent Otto Stückraths, der in jeder Dichtungsform in künstlerischster Weise und Gedankentiefe sein Suchertum ausströmt. Stückraths Weg führte in zähem Ringen aufwärts. Ihm wuchs seine dichterische Kraft aus den Tiefen des Volkstums. Je mehr er sich darin versenkte, mit um so größerer Instinktsicherheit lernte er Menschen und Volk zeichnen in all ihren Lebensäußerungen. In ihrer Vielgestaltigkeit lockten sie den Dichter, ihnen in jeder dichterischen Form nachzugehen, was Stückraths Schaffen einen besonderen Stempel ausdrückt. Aus seinen tiefen volkskundlichen Kenntnissen erwachsen ihm blutwarme Erzählungen von unerbittlicher Wahrheit. Erfreulicherweise hat in den letzten Jahren auch Willy Arndt die Anerkennung gefunden, die dieser ehrliche Ringer und verinnerlichte Lyriker verdient. Sein Dichten treibt aus dem Herzen, strömt aus der Verbundenheit mit der Erde; so ist seine Kunst tief, bodenständig, und seit seinem lyrischen Erstling »Leben, Liebe und Licht« und dem »Eitelborner Krippenspiel«, einer echten Volksdichtung, in ständigem Aufstieg begriffen. Man muß weiter Hans Gäfgen nennen, mit seinem Faltermärchen, das mit seiner verträumten Welt einen Romantiker offenbart, wie er nur am Rhein gedeihen kann. Heinrich Leis, ebenfalls »ein Romantiker der Jetztzeit«, ist ein Dichter mit Spielmannsblut, dem's darum geht, »mit seiner Träume erdentbundenem Schweifen / Den Mantel der Unsterblichkeit zu streifen«. Sein letztes Büchlein »Zwischen Traum und Tag« wird gewiß nachdrücklicher auf ihn aufmerksam machen, nachdem er bereits mit »Der König und der Narr« und »Der Wanderer ins All« von der Bühne zu uns sprach. – Durch die Welt gekommen wie Paquet ist Hans Grimm. Doch formten sich ihm die Erlebnisse in Afrika und Europa zu ruhigeren Bildern, ernst und beschaulich gestaltet er das Leben, und aus abgeklärter Lebensauffassung verkündet er sein Ethos. Dieser Dichter konnte deshalb auch mit seinem großen Roman »Volk ohne Raum« daran gehen, den Roman des deutschen Menschen »im Geflechte deutscher Erfahrungen« zu schreiben. Welterfahrung und Lebensweisheit schufen hier ein Buch, das in einer Sachlichkeit ohnegleichen das Wesentliche eines Volkesschicksals in zwingender Weise Erlebnis werden läßt. Mit diesem Buche ist Hans Grimm mit entscheidendem Schritt in den Kreis der Dichter der Zeit getreten, mit denen man sich noch lange wird auseinandersetzen müssen. Hans Ludwig Linkenbach hat für sein Talent in dem Berufe, der ihn ins Reich der unterirdischen Erzadern führte, die Anregung gefunden. So wird dieser Sohn des Lahntales zum Dichter der Arbeit, ein Vorläufer eines heute besonders im Schwange stehenden Schrifttums. Die frische Kraft und der unbändige Freiheitsdrang seines Werkes macht es auch da sympathisch, wo der Dichter noch nicht das Letzte leistet. – Auch Willy Rath ringt noch um dauernde Bedeutung. Auf der Bühne hat er, gestützt auf eine Reihe schlagkräftiger Lustspiele, z.B., »Der Scharfrichter«, »Hans Distelfink« u.a. schon manchen Erfolg errungen. Daneben ist er als Epiker, Lyriker, Satiriker nicht zu übersehen. Mit Recht sagt Leo Sternberg Die nassauische Literatur. (Staadt, Wiesbadens) von ihm: »Die schon in dem Grundton seines Prosastils vernehmbar gewordene lyrische Begabung ..., die durch seine »Vielverschlagenheit« erlangte Weltkenntnis, die für den Lustspieldichter unerläßlich ist, der echte rheinische Humor und die menschliche Weise Raths sind Eigenschaften, die bei seinem ausgesprochenen Lustspieltalent zu schönsten Erwartungen berechtigen«, die Rath gewiß zum Teile schon erfüllt hat. Wie Linkenbach seine Stoffe in seinem Berufe suchte, Grimm und Paquet sie oft in fernen Landen fanden, hat sich auch bei Otto Anthes das Talent in der Schule des Berufes gebildet. Grazie des Geistes und Ernst der Problemstellung, die er seinein nassauisch-rheinischen Blute verdankt, erheben ihn zu einem beachtenswerten Epiker und Dramatiker von allgemeiner Bedeutung. Als feinsinniger Lyriker, vor allem als Vermittler zartfarbener Naturstimmungen muß August Kruhm mit seinem kleinen, zu Hoffnungen berechtigenden Gedichtbande »Klänge« hier ebenfalls genannt werden. Am bekanntesten nach außen hin ist aber wohl Rudolf Presber geworden. Im Geiste seiner Dichtung will man das echte Rheingauer Blut erkennen. Und in der Tat: von seinen ersten Werken, wie etwa: »Aus dem Lande der Liebe« oder »Von Leutchen, die ich liebgewann« bis zu »Haus Ithaka«, dem letzten frohgestimmten Roman, liegt über Presbers Werken der behagliche Humor, wie er wohl dort seine Heimat hat, wo beim Dufte der Rebenblüte frohen Menschen im Sonnenglanze des Lebens goldne Jugend lacht.
Das nassauische Schrifttum, vielseitig, von anspruchsloser Heimatdichtung bis zum tiefsinnigen Problemwerke, hat seinen unbestreitbaren Platz im deutschen Schrifttum der Gegenwart: es ringt, mit den Brüdern stromabwärts zusammen um den neuen Menschen, der schließlich kommen muß, wenn das Geschehen der furchtbaren Jahre auch nur irgend einen Sinn gehabt haben soll. Nassaus Dichter mühen sich als geistige Kämpfer mit darum, daß Deutschland in Zukunft »ein Volk des Weltbeseelens neben und über dem Weltbesitzen, ein Volk des Denkens und Dichtens, neben und über dem Welterraffen werde«.