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Man schrieb das Jahr 1666.
Der Pfarrer zu Flörsheim, Herr Licentiat Laurentius Münch, legte mit einem schweren Seufzer die Feder, mit der er soeben einen Eintrag in das Kirchenbuch gemacht hatte, nieder. Es war nun schon das drittemal, daß er sie an einem einzigen Tage ergriff, um abermals das Ableben eines seiner Pfarrkinder in die Totenliste einzutragen. Das Sterben war über Flörsheim gekommen, eine dumpfe Angst brütete über dem Orte, über den die Stürme des unglückseligen Religionskrieges mit ihren Schrecken dahingebraust waren, ein trostloses, unaufhaltsames Sterben.
Im Hause des Schneiders Johann Peter Schumacher war es angegangen. Der hatte, arm wie er war, nicht auf die ergangenen Befehle der kurmainzischen Regierung geachtet, hatte zu Sindlingen im Hause eines Bekannten die Kleider eines aus Mainz geflüchteten Mannes, der aber dennoch an der Pest verstorben war, erhalten, sie glückselig heimgetragen und aus ihnen für seine Kinder Hosen und Röcke gefertigt. Aber es sollten die Totenkleider für die Kinder sein. Eines nach dem andern starb dahin. Unvermögend, ihren brennenden Durst zu stillen, lagen die Kleinen auf dem Lager, erlitten die grausamen Qualen eines hitzigen Fiebers und starben geschwind dahin. Noch konnte er sie zu Grabe geleiten, dann aber legte er sich selbst, seine Frau folgte, und die Stille des Todes lastete schwer über dem verlassenen Hause. Und nun flog der Krankheitsstoff durch die engen Gassen. Wie einen blauen Dunst glaubte ihn die Grete Best gesehen zu haben. Sie war vor ihm geflohen wie eine von einem Dämon verfolgte, aber der Tod hatte sie eingeholt, und da sie allein in ihrem Häuslein wohnte, so ahnte keine sterbliche Seele, daß sie mehr als eine Woche unbeerdigt lag. Johannes Theis, ein Büblein von zehn Jahren, saß auf einem Baume um Vögel zu fangen; da kam das Übel an seinen Arm geflogen und der kleine Held packte sein Messer und schnitt sich alsbald die kranke Stelle aus dem Arme. Und nun ging das Entsetzen von Haus zu Haus. Wer mochte Pfleger sein bei einem solchen Sterben?
Laurentius Münch faltete die Hände. Es war furchtbar, was er gesehen hatte, und sein Herz krampfte sich zusammen vor Weh und Leid. Noch hatte er Tag für Tag mit seinem getreuen Nachbar, Adam Krämer einen Gruß und ein Wort gewechselt, wenn er in der Morgenfrühe ausgegangen war, von Haus zu Haus zu eilen und zu pflegen, leibliche und geistliche Hilfe zu spenden. Heute aber, als er an das Fenster pochte, war nur ein dumpfes Stöhnen die Antwort gewesen. Er war eingetreten und hatte seinen alten Freund in Todesnöten gefunden, während sein Weib bereits stumm und starr im hohen Bette lag.
Es war, als ob die Welt zu einem ernsten, tiefen Stillschweigen gekommen sei. Die Saaten reiften, aber kein Mensch setzte die Sichel an. Für Fremde war der Ort verschlossen, und scharf wachte man, daß nicht verdächtiges Gesindel heimlich einschleiche und zu der Pest die Greuel des Raubes bringe.
Nun ertönte das Glöcklein vom nahen Kirchturme. Laurentius Münch machte das Zeichen des Kreuzes und schritt aufrechten Hauptes, harte Zucht im Antlitz, zur Türe. Ob sie kommen würden? Er hatte sie alle bestellt, Alte und Junge, Eltern und Kinder, um mit ihnen zu den vier Stationen, an denen am Fronleichnamsfeste die heiligen Evangelien gesungen wurden, zu schreiten zu Bitte und Gelöbnis. Vor der Türe streifte er die Schuhe von den Füßen und ging barfuß, wie ein Büßer. Und nun wallte es aus den Häusern. Starke und Gesunde, Kranke und Hilflose, Kinder und Greise. Schweigend, ernst, feierlich formte sich der Zug. Nun standen sie an dem ersten Kreuze, warfen sich auf die Knie und beteten stumm. Dann aber erhob sich Anneliese Clee, hob ihr acht Wochen altes Kindlein gen Himmel und rief: »O, ihr Kindlein, betet! Betet, ihr Unschuldigen! Flehet auf und schreiet zu Gott unserem Herrn, daß er doch euch erhöre, wenn wir dessen nicht würdig sind l« Da erhob sich das Gebet der Kinder zu einem gewaltigen Dröhnen und das »Herr, erhöre uns! Herr, erbarme dich unser!« klang wie ein Schrei gen Himmel. Den Alten stockte der Atem in der Brust, als sie dies Rufen hörten; zerknirscht, die Hände zum Gebete verkrampft, Tränen in den Augen, lagen sie am Boden.
Nun erhob sich der Geistliche. Hoch aufgerichtet stand er da, das Heiligtum gen Himmel erhoben. Mit zitternder Stimme begann er: »So wollen wir, eine christkatholische Gemeinde zu Flörsheim alljährlich tun am Feste des heiligen Sebastian und des heiligen Rochus. Wie am Fronleichnamsfeste soll unsere Prozession sein, und eine Wachskerze, die die Gemeinde aus einem reumütigen und bußfertigen Herzen zu stiften gelobt, soll dabei getragen werden. Ein Dankamt zur allerheiligsten Dreifaltigkeit soll es sein, und die nach mir kommen, sollen tun, wie ich jetzt tue!« Er schlug das schmale Evangelienbüchlein auf und las mit bebender Stimme das Evangelium des 13. Sonntags nach Pfingsten, das Wort von der Heilung der zehn Aussätzigen. And als er seine Augen erhob, da stand ein überirdisches Leuchten auf seinem Angesicht. Mit fester Stimme begann er das Lied zu singen:
»Maria, Himmelskönigin,
Durch alle Welt ein Herrscherin,
Du Schutz und Schirm im Maingau bist,
Der schön Waingau dein eigen ist;
Darum dein Hand, o schön Jungfrau,
Halt gnädig über dein Maingau!«
Erst zaghaft, dann voller und sicherer setzten die Stimmen der Gläubigen ein und wundervoll feierlich verklang im Weiterschreiten der Choral.
Und siehe, die Seuche stand still und schritt im Flecken nicht weiter vor, kam überhaupt nicht mehr in den oberen Teil des Ortes oberhalb der Kirche, wenn sie auch im unteren noch ihre Opfer forderte.
»Zu größerer Ehr Gottes und Danksagung der allergnädigsten Erlösung von der Pest, so in Ao. 1666 grassiret, hat dieses Bild lassen auffrichten Georg Adam Seler und Maria Margaret« seine Hausfrau Anno 1712.« Diese Inschrift las bewegten Herzens ein Jahr vor seinem Ableben der im Ruhestand lebende Geistliche Laurentius Wünch, als er barfuß an der alljährlichen Prozession teilnahm. Seine müde gewordenen Augen grüßten den Schmerzensmann, der mit schmerzhaften Augen herniederschaute auf die Schar, die dem alten Gelübde Treue hielt.