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Marianne vom Stein, des Reichsfreiherrn Schwester, war von seiner unbeugsamen Art, nur kränklich und schon ein ältliches Fräulein, als der Minister aus Preußen flüchten mußte. Um den Plackereien der Kriegszeiten zu entgehen, war sie Stiftsdame in Wallerstein geworden, wo sie äußerlich das Dasein alter Damen teilte, die zwischen der häuslichen Absonderung ihrer Familien auf die leeren Plätze geraten sind und lesend, musizierend, wohl auch mit einer Partie Tarock die unnützen Tage füllen, wenn sie nicht irgendwo mit Handarbeiten oder sonst der Wirklichkeit die kleinen Liebesdienste tun.
Doch auch dergleichen war damals staatsgefährlich; denn als nach dem verunglückten Putsch des Freiherrn von Dörnberg in Kurhessen eine gestickte Fahne gefunden wurde, hing irgendwie ein Faden daran, der den Franzosen den Weg nach Wallerstein zeigte, wo sie tatsächlich von einem Fräulein von Baumbach in aller Heimlichkeit gestickt worden war. Eines Abends langte dort eine geheime Warnung an, die alten Damen mit schlimmen Ankündigungen zu ängstigen, so daß ihrer neun am nächsten Morgen abreisten und Marianne vom Stein die alte Oberin mit einer halbtauben Dechantin nur mit Mühe dabehielt. Sie kannte aus eigener Erfahrung die Hinterhältigkeit solcher Warnungen und vermutete gleich, daß es den Franzosen mehr um das Stiftsvermögen von dreihunderttausend Talern als um die Fahne ginge. Fünf Tage später wurde Wallerstein frühmorgens von Husaren umzingelt, als ob es eine Festung wäre, und durch die Machtvollkommenheit ihrer Karabiner gedeckt, begann ein Kommissär die peinliche Untersuchung. Es war ein Franzose von der Zentralgewalt in Mainz, ein lang aufgeschossener Mensch, der seinen Schnurrbart in einem schwarzen Röllchen unter der Nase trug, um die Hasenscharte zu verdecken, er trat den Damen zunächst nicht bösartig und mit der sichtbaren Absicht entgegen, eine weltmännische Figur zu machen. Die Oberin, ein verdattertes altes Frauchen, das schon die Karabiner auf ihre Brust gerichtet sah, wollte ihm weinend ihre Unschuld beteuern; Marianne vom Stein aber drängte sie zu der Dechantin in den Stuhl zurück, der sie danach wie ein Kind weinend auf dem Schoße saß, und führte die Unterhaltung mit so kalter Würde, daß der Franzose seine galanten Versuche bald aufgab und diese Stiftsdame die umgedrehte Weltordnung höhnisch spüren ließ, wo ein Bedienter – denn das war er gewesen – auch einmal drei adelige Fräulein nach seinen Launen kujonieren konnte. Er machte ihnen zum Schluß, während draußen ein Frühlingswetter gemächlich heranballerte und die Oberin vollends blaß werden ließ, ein Protokoll, das die festen Versicherungen ihrer Schuldlosigkeit als überführte Ausreden und ziemlich alle Punkte der Anklage als Geständnis enthielt; danach quartierte er sich mit den Husaren im Stift ein, die Antwort von Mainz auf den Bericht abzuwarten.
Es dauerte fast eine Woche, bis sie kam, unterdessen stolzierte der mit der Hasenscharte in den Gemächern, den Gärten und Feldern des Stiftes herum, als ob er der Gutsherr wäre und die drei Stiftsdamen als unumgängliche Gäste hätte. Jeden Nachmittag um sechs Uhr ließ er im Speisesaal die Tafel aufs sorgfältigste herrichten, wobei ihm seine Erfahrung sichtlich zustatten kam, und ließ die Damen dazu bitten. Die eingeschüchterte Oberin, die heimlich dem Fräulein vom Stein und seiner Unbeugsamkeit das ganze Unglück zuschrieb, wäre jedesmal gegangen, wenn nicht Marianne sie und die andere mit bestimmter Gewalt im Zimmer gehalten hätte, während der Kommissär allein an seiner Tafel saß. Als ob die beiden nicht von den Husaren, sondern von ihr gefangen wären, so mußte sie aufpassen, daß sie die sorglos offenen Tore nicht doch noch kopflos zur Flucht benutzten und so den Franzosen das gewünschte Eingeständnis ihrer Schuld gaben.
Am sechsten Abend endlich kam der Reiter wieder mit dem Bericht aus Mainz; die Angeklagten sollten in vier Tagen dort erscheinen. Die Oberin, die sich schon erschossen in einem Festungsgraben sah, konnte ihren Jammer nicht mehr verhalten, auch die Dechantin verlor die Schweigsamkeit der tauben Ohren und klagte den gefährlichen Eigensinn an; Marianne gab den Pächtern am letzten Morgen die letzten Anweisungen, packte die beiden Alten mit einem Husaren als Wächter in den geschlossenen Wagen und setzte sich selber zu dem andern auf den Bock, indessen der Kommissar in seiner Kalesche nachfuhr und rechts und links Husaren ritten. Es war im Juni, als diese dreitägige Fahrt geschah, die durch ein gutes Stück von Deutschland führte. Die Sonne schien wieder nach langem Regen, und die Wiesen standen vor dem ersten Schnitt; von den dunklen Tannenhöhen hingen die Buchenwälder bis dicht an die Dörfer herunter; überall war die heimelige deutsche Hügellandschaft, in der nur manchmal am Horizont die blauen Rücken höherer Berge standen oder ein Fluß aus einem fernen Tal glänzte: immer wieder aber trennten Grenzpfähle mit neugestrichenen Landesfarben die Landschaft in die Gebiete der Rheinbundfürsten ab, die um ihrer Existenz willen Vasallen Napoleons und Könige oder Großherzöge von seinen Gnaden geworden waren. Marianne hätte nicht die Schwester des reichsunmittelbaren Freiherrn vom Stein sein müssen, um diese Fürsten als Sinnbild der deutschen Zänkerei zu hassen; nun aber auf ihrem Bock kamen sie ihr wie die weinerlichen Damen in dem Wagen vor. Und obwohl sie ihren Bruder nicht verstand, daß er nach Preußen gegangen war statt zum Kaiser, wohin ihr jeder gute Deutsche in dieser landesverräterischen Zeit zu gehören schien, so billigte sie doch mehr als früher während dieser gewaltsamen Wagenfahrt sein Ziel, aufzuräumen mit der deutschen Kleinfürstenschaft.
Es war mehr als eine Stiftsdame aus Wallerstein, was da am dritten Abend auf dem Kutschbock durch das finstere Festungstor von Kastel rumpelte und nachher auf der Fähre über den breiten Rheinstrom hinüber in das neugebackene Rheindepartement eingebracht wurde. Es war die gefährliche Gesinnung des landesflüchtigen Ministers Stein, mit der die Hasenscharte um der mißachteten Manieren willen in einen bösartigen Zustand geraten war; ganz ahnungslos, und auch die Bureaukraten von der Zentralgewalt in Mainz, durch ihn berichtet, merkten nicht, wen sie da hatten. Sie ärgerten sich wie er als Sachverwalter der Revolution an ihrem freiherrlichen Hochmut in den Verhören; und da sich unterdessen das Fräulein von Baumbach freiwillig mit dem Geständnis in Mainz eingefunden hatte, sie allein habe die Fahne in aller Heimlichkeit gestickt – wodurch der Rechtsgrund der französischen Absichten auf das Stiftsvermögen ebenso klar wie durchscheinend wurde –, so daß sie die drei zu Unrecht beschuldigten Stiftsdamen auf freien Fuß setzen mußten; da ließen sie die beiden andern in Mainz vorläufig einen selbstgewählten Aufenthalt nehmen, das Fräulein vom Stein sollte erst noch um seiner hochmütigen Gesinnung willen eine schimpfliche Strafe leiden.
Es war kein Urteil der Zentralgewalt, es war die Rachsucht mißachteter Behörden, der sich Marianne vom Stein nun ausgeliefert sah, als sie wie eine bösen Sieben nach einer hämischen Sitte die Gasse kehren sollte. Die Kommissäre versprachen sich einen Spaß davon, wie sich das Gassenvolk an dieser Freiherrin mit seinem Unflat auslassen würde, und ahnten nicht, wie übel ihre Rachsucht auslaufen sollte. Denn als sie am Morgen das Fräulein vom Stein hinausführten vor die Präfektur und sie vor den ersten Neugierigen den Besen in die Hand nehmen sollte, während die Trommler anfingen, ihre Felle zu schlagen: machte es sich, daß ihr zufällig mit der Hasenscharte ein Herr von Holm in den Weg trat, der hier zu den Franzosen in den Staatsdienst getreten war und den sie kannte. Irgendein verlorener Instinkt der Ritterlichkeit trieb den alten Galan, bestürzt zu ihr zu treten, als wenn er ihr mit seinem Einfluß aus der peinlichen Strafe helfen könnte; sie aber, die in diesen Tagen der Gefangenschaft an nichts so bitter als an solche Überläufer gedacht hatte und wie diese Rheinbunddeutschen den traurigsten Teil der französischen Beamtenschaft ausmachten; sie riß dem Büttel den verweigerten Besen als Waffe aus der Hand und begann zu kehren, daß der saubere Herr sich augenblicklich in einer Staubwolke befand und seine Schienbeine mit einem Satz auf die Treppe retten mußte; unter dem Gelächter des Volkes, das die Gebärde nicht mißverstand.
Nachdem Marianne vom Stein aber einmal den Besen in der Hand hielt und sich darin verstanden sah, was es hier auszukehren galt, lag es nicht mehr am Büttel, sie zu treiben. Die Trommler vor ihr konnten lange Beine machen, um nicht in ihren Besen zu geraten, so saß ihr der Zorn in den Händen. Sie hatte wie ihr Bruder viel in Mainz gewohnt und war bekannt. Drum standen manche in der Gasse, die ihren Namen wußten; doch war es keiner von ihnen, sondern ein fremder Wanderbursch mit dem Felleisen auf dem Rücken, durch das drängende Volk aufgehalten, der mit einer stillen Gebärde zuerst den Hut abnahm. Irgend etwas daran mochte in den andern die Ahnung auslösen, was für ein Zeichen ihrer eigenen Demütigung dieses Schauspiel war, bald standen ihrer viele mit dem Hut in der Hand, bis auch die Buben es nicht mehr wagten, die Mütze auf dem Kopfe zu behalten: als ob ein Priester mit dem Sakrament durch die katholischen Mainzer Gassen käme, so feierlich geehrt wie nie im Leben ging das Fräulein vom Stein mit ihrem Besen durch die entblößten Häupter hin. Und ob ihr fast die Arme abfielen, sie kehrte, weil sie den Atem der Feierlichkeit fühlte, als ob aus dem Volk – nicht von den Fürstenhöfen – vielleicht doch einmal die Kraft und der Mut zum Kehraus ausbrechen könnte!
Die Trommler durften nicht aufhören, und auch der Büttel vermochte nichts gegen den Befehl, so daß Hunderte von Franzosen aus den Fenstern ingrimmig das Schauspiel erblickten und den Sinn der Handlung erkannten. Bis endlich der Leutnant der Wache nach dem Lärm sah und kurzerhand den Zug kassierte. Es wurde keine Gewalttätigkeit begangen an dem Tag, und auch dem Fräulein, das auf der Wache fast ohnmächtig hinsank, weil es zuviel für seine Kräfte gewesen war, konnte nichts Widersetzliches nachgewiesen werden; aber es ging bis in die Nacht hinein eine Unruhe in den Mainzer Straßen, daß der Gouverneur selber nach der Ursache sah. Der freilich kannte den Namen Stein und wußte gleich, was für einen Vogel er da im Käfig hatte; doch auch, was für eine Ungeschicklichkeit mit ihm begangen war, so daß der Kommissär schon am Abend selber seinen Verweis erwartete. Die Sache schien ihm wichtig genug, dem Kaiser Meldung zu machen, auch wurde das Fräulein vom Stein danach mitten im Frieden als Kriegsgefangene mit allen Ehren nach Paris gebracht. Sie war krank, als sie dort anlangte, und mußte lange warten, bevor der badische Gesandte ihre Ungefährlichkeit auf Diplomatenwegen beweisen konnte; auch unternahm sie nichts mehr zum Werk der Freiheit, weil ihre Kräfte hinfällig waren; trotzdem blieb ihre Tat lebendig, bis der Kehraus begann. Doch heißt es, daß Marianne vom Stein den Kehrbesen in den Jahren danach noch manchmal gern in die Hände genommen hätte, wenn nicht auch ihrem Bruder des Staubes zu viel gewesen wäre.