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Die Paulskirche in Frankfurt

Von Max Spanier

Ideen leben wie Völker. Man kann sie eine Zeitlang unterdrücken, ihnen das Recht des Daseins und der Geltung wehren, töten kann man sie nicht. Ihr heiliger Odem pulst in unterirdischen Strömen weiter, in der Erinnerung; Sage und Geschichte künden den Heroismus der verflossenen Zeit. Bis eines Tages eine neue Jugend ersteht, die alten Ideale mit neuem Daseinsrecht füllt und für ihre Verwirklichung in den Kampf tritt. Die deutsche Jugend, die siegreich aus dem Befreiungskriege heimkehrte, erhoffte von ihren Regierungen die ersehnte Verfassung, das geeinigte Vaterland. Schmählich sah sie sich betrogen. Viele Patrioten, der Freiherr vom Stein mit ihr. Die Märzrevolutionen achtundvierzig in Berlin, München, Wien geboten den Kabinetten Halt, das Volk proklamierte seine Forderungen. Die Morgenröte einer neuen Zeit leuchtete. Jubelnde Begeisterung flog durch die Lande. Aber fünfhundert Abgeordnete des deutschen Volkes, von Tirol bis zur Insel Rügen, vom Rhein bis zur Weichsel, zogen in die Paulskirche zu Frankfurt am Main, um den deutschen Einheitsstaat zu beraten.

*

Selten war die Paulskirche so voll besetzt wie an diesem Mittwoch, dem 28. März 1849, ihrer 196. öffentlichen Sitzung. Die entferntesten Abgeordneten sind herbeigeeilt, der Entscheidung beizuwohnen. Sie ist zu bedeutungsvoll. Auf der Tagung steht der Welckersche Antrag, die erbliche deutsche Kaiserwürde Friedrich Wilhelm IV., dem König von Preußen zu übertragen.

Nie haben sich in Deutschland Männer mit mehr Geist, Charakter und Macht zu einem politischen Werk vereint: Fürsten, die Vertraute ihres Herrscherhauses, reiche Großgrundbesitzer, Philosophen, Rechtsanwälte, Theologen, Ärzte, Bankiers, Männer mit berühmten Namen, Jakob Grimm, die Dichter Ernst Moritz Arndt, Ludwig Uhland, Wilhelm Jordan (auch Anastasius Grün, die Lerche der Freiheit in Österreich, und Laube haben der Versammlung angehört), der Ästhetiker Fried. Theod. Vischer, der Turnvater Jahn, auffällig durch seinen weißen ehrwürdigen Bart, seinen altdeutschen Rock und sein Samtkäppchen; alle Konfessionen sind vertreten, Protestanten, Katholiken und Juden, alte Konservative und junge Revolutionäre. Die Elite einer Nation, wie sie kein Parlament herrlicher gesehen.

Von den Emporen und Fenstern weht ein schwarzrotgoldener Fahnenwald. Kanzel und Orgel sind unsichtbar. Hinter dem Sitz des Präsidenten flattert der zweiköpfige Reichsadler. Aber seinem Haupte thront die Fahne und Schwert tragende Germania; rechts und links von ihr prangen Eichenkränze mit der Devise der Freiheit und Einheit.

In der Diplomatengalerie harren die Gesandten Frankreichs, Englands, Rußlands und vieler Nationen der nahenden Entscheidung. Wie wird sich die Wage senken? Skeptisches Lächeln auf wohlgepflegten Gesichtern. Sie glauben nicht an die Einigung des deutschen Volkes, an die Geburt der neuen Nation. Auf den vordersten Bänken sitzen die Journalisten, die Korrespondenten deutscher und ausländischer Zeitungen. Die Galerien sind überfüllt, aus Mainz, Darmstadt und Heidelberg sind Neugierige herbeigeeilt. Es ist eine Sensation, einer Sitzung beizuwohnen. Stark sind die Damen vertreten, deren Liebe und Begeisterung der Linken gilt, die so mutig und voll Romantik das kommende Reich gestalten will.

Seit über zehn Monaten tagt man. Kostbare Zeit ist in Ausschüssen, in endlosen Debatten über die Grundrechte, Stärkung der bewaffneten Macht, über Staat, Kirche und Schule und über viele nebensächliche Fragen verloren gegangen. Die Pessimisten, die schon den Tod der Versammlung ausgerufen, haben zu früh geweissagt. Heute soll die große Tat erfolgen. Vor dem Tore der Kirche bis zum Römer drängt sich das Volk, das schon durch viele Feste und Fackelzüge seine Sympathie mit der Nationalversammlung, seinen Glauben an Großdeutschland bekundet.

Welcker, der einstige Vorfechter der großdeutschen Einheit, hat mit dem Ruf: »Das Vaterland ist in Gefahr ... retten Sie das Vaterland!« seinen Antrag glänzend eingebracht und mit Leidenschaft erhoben. Rießer, einer der besten Redner der Versammlung, die Flamme begeistert weitergetragen: » ... Wie Deutschland Preußen zu seiner Erstarkung, so bedarf Preußen Deutschland zu seiner inneren Versöhnung. ... Der Name ›Preußen‹ spricht mächtig zum politischen Verstand, aber der Name ›Deutschland‹ spricht zugleich zum Herzen ...« Nun kommt die Opposition zu ihrem Recht. Alle Augen richten sich auf den Führer der Linken, Karl Vogt aus Gießen, den »Affenvogt«, der schon manche kühne revolutionäre Rede in diese Versammlung geschleudert. » ... Ich bin der Ansicht, daß eine Krone, wenn sie von dem Volk oder dessen Vertretern gegeben wird, auch verdient sein soll ... Die Krone glänzt nicht, die man aus dem Sumpfe einer todesmüden Versammlung hervorzieht ... Ein Kaiserwort schmiedet heutzutage kein Volk mehr zusammen, ein Königswort ist nicht das, was in dem Sturm unserer Zeit hält ...«

Die Abstimmung erfolgt. 290 Abgeordnete haben sich für den König Friedrich Wilhelm IV. entschieden, 248 Stimmen sich der Wahl enthalten.

Der Präsident Eduard Simson verkündet das Ergebnis. »Gott sei mit Deutschland und seinem neugewählten Kaiser!«

Ein dreifaches jauchzendes Hoch erschallt auf der Rechten, im Zentrum und auf den Galerien. Die Glocken beginnen zu läuten. Das Volk auf der Straße jubelt. Kanonendonner verkündet das große Ereignis.

Dem Ruf des Volkes kann sich der König nicht versagen. Der deutsche Kaisertraum ist erfüllt. Barbarossa kann aufsteigen. Vox populi, vox Dei.

*

Ein südlicher Maiabend zieht den Main herauf. In seiner Mietwohnung sitzt Ludwig Uhland, der Dichter, der Abgeordnete der Wahlbezirke Tübingen-Rottenburg, und blättert in den Akten. Durch das Fenster strömen linde Lüfte; er hört das Rauschen der Bäume. Diese Melodie rüttelt ihn auf. Er beschließt auszugehen. Wenn die Sonne untergeht, die Dämmerung ihren Schleier streut, spaziert er am liebsten, dann gleitet er schnell hinüber in das goldene Märchenreich. Über ein Jahr ist er in Frankfurt und auch hier ein Einsamer geblieben. Die politischen Klubs hat er gemieden, die gesellschaftlichen Einladungen des Reichsverwesers v. Gagern und seiner württembergischen Freunde stets abgelehnt. In den Schwan will er diesen Abend nicht gehen, von der Stadt, die ihm viel von ihrer Vergangenheit geflüstert, an die fränkische Heldensage, seine Lieblingsmuse, erinnert, Abschied nehmen.

Er wandert dem Ufer entlang. Der Strom singt. Vögel zwitschern in den dunklen Wipfeln. Er schleicht durch die Schatten der Bäume, will niemand begegnen, will von keinem erkannt werden, sonst bringen sie wieder ein Hoch auf den Dichter Uhland aus. Es ist still in den Straßen geworden, sehr still. Welch ein Leben, welch eine Begeisterung war gewesen, als im vorigen Mai die deutschen Abgeordneten mit den österreichischen Brüdern Arm in Arm einzogen! Mit welchem Jubel waren sie von den Republikanern Frankfurts empfangen worden. Großdeutschland sollte erschaffen, der hohe Dom der deutschen Einheit erbaut werden. Daß diese Versammlung so schmählich enden würde, hatte er nicht geglaubt. Sich selbst fühlte er frei von jeder Schuld. Wie ein tapferer Soldat hat er ausgeharrt, bis die letzte Kugel verfeuert war. Nun kehren sie mit leeren Händen zu ihren Wählern zurück. Österreich ist aufgegeben, die Hoffnung auf Großdeutschland, auf die demokratische Verfassung verloren. Die Wahl des Erbkaisers hatte er abgelehnt, und die Folge hatte ihm recht gegeben. »Ein König von Preußen nimmt keine Krone aus des Volkes Händen« – hatte die Antwort auf den Ruf des Volkes gelautet. Nur von Fürsten hatte sie der Fürst entgegennehmen wollen. Allein, eine so mächtige Volkserhebung wie die deutsche mußte sich aus ihrem eigenen Geist die rechte und lebenskräftige Form erschaffen. Nicht von den Fürsten, vom Volk waren sie nach Frankfurt gesandt worden. »Es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem vollen Tropfen demokratischen Öls gesalbt ist.«

Über die Mainbrücke eilt er dem Dom zu. Er kennt genau jede Gasse, weiß um ihre Geheimnisse und Schönheit. Dort jener hervorstehende Giebel: Goethes Geburtshaus. Auch der Weise von Weimar hatte ihn nicht verstanden, hätte er ihm sonst zürnen können? Die Politik verderbe den Poeten. Nie haben ihn Ehrgeiz oder Ruhmsucht getrieben. Er ist immer seinem Gewissen gefolgt. Die Liebe zu seinem Volk, zur Freiheit, zum großen Vaterland, dem er seine Lieder geweiht, hat ihn bestimmt, sein Studium über die Poesie des Mittelalters zu unterbrechen und die politische Rednerbühne zu besteigen. War ihr Wirken nicht auch ein Heldensang?

Aus der Dämmerung ragt die Kuppel der Paulskirche. Eine heilige Stätte. Voll Ehrfurcht neigt sich sein Haupt. Reden und Bilder durchjagen sein Hirn, frohe Erinnerungen und verhallende Töne. Morgen wird die schwarzrotgoldene Fahne auf dem Turm nicht mehr wehen. So versinken auch wir. Was bleiben wird, ist die Erinnerung an unser Bemühen.

*

Mittwoch, den 11. August 1926. Wieder wallen schwarzrotgoldene Fahnen von den Wänden der Paulskirche, und eine festliche Menge hat sich in dem Schiff versammelt, um eines Tages zu gedenken und einen Toten zu ehren. Am 11. August 1919 gab sich das deutsche Volk aus eigenem Willen und Vermögen die demokratische Verfassung. Nicht alles, was unsere Väter erstrebten, ist erreicht, die 38 Throne sind zerbrochen, der Volksstaat ist geschaffen, nur Österreich fehlt noch.

Auf dem Paulsplatz wird ein Erinnerungsmal für den ersten Präsidenten der deutschen Republik enthüllt. Auf einem Sockel erhebt sich die erzene Gestalt eines Jünglings. Seine Knie sind gebeugt, der Jüngling richtet sich erst auf. Der linke Arm fällt schlaff, der rechte reckt sich über den Kopf, allen Gefahren und feindlichen Angriffen Halt zuzurufen. Ein Erwachen durchzittert den Körper. Ein Glanz leuchtet auf dem Gesicht, der Glaube an die Freiheit, an den Sieg des neuen Reiches. Der Jüngling verkörpert Deutschland, das sich nach dem Zusammenbruch von 1918 verjüngt erhebt. Seine Seele leuchtet seinen Schritten voran.

Die Zeit schreitet langsam ihrem Ziele zu, einmal naht den Ideen des Wahren und Guten ihre Erfüllung. Ein Jahrhundert ist im Ausmaß der Geschichte wie ein Tag in der Unendlichkeit. Was unseren Vätern ein Traum erschien, ist unser Besitz. Und wir stürmen darüber weg neuen Idealen zu.


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