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Nur eine Wegstunde von Dillenburg, der Wiege des weltbekannten Oraniergeschlechts, liegt das freundliche Städtchen Herborn. Manch Straßenbild von rotenburgischer Schönheit erfreut den Kunstfreund; Mauern und Türme erzählen von alter Wehrhaftigkeit, und das mächtige, vieltürmige alte Oranierschloß schaut beherrschend über die Stadt. Sie träumt aber nicht den Schlaf verlassener Kleinstädte – reger Verkehr vom Westerwald und Hinterland zieht durch ihre Straßen, und vor der Stadt ist seit langem eine lebendige Industrie aufgeblüht, die Geld und Brot schafft.
Die deutsche Welt in der Zeit der Großstädte kennt Herborn nicht mehr. Gehen wir aber dreihundert Jahre zurück, vor die verheerenden Sturmzeiten des Dreißigjährigen Krieges, so steht Herborns Name mit Ehren in der Zahl der akademischen Bildungsstätten, nicht eine Universität, nur ein Gymnasium mit akademischem Aufbau, aber durch die Leistungen seiner Professoren weit über Deutschlands Grenzen bekannt.
Der Frühlingssturm der Reformation war verbraust; es kam die Zeit der großen Klärungen. Was der kühne Angriff der Reformation schnell erobert hatte, wurde auf weiten Gebieten durch die stille Arbeit der Gegenreformation zurückgewonnen. Unselige dogmatische Kämpfe zerrissen die Evangelischen in Lutheraner und Reformierte. Die Söhne Calvins führen die Kriege des Protestantismus: in Frankreich, Holland, England auf dem Schlachtfeld, in Deutschland in geistigen Kämpfen. Das Dillenburger Grafenhaus hat in diesen Streit jahrzehntelang seine Söhne entsandt, bereit, ebensogut ihr Leben zu lassen auf blutigem Feld, wie Waffen zu schmieden für die Wahlstatt des Geistes.
Johann VI. von Nassau-Dillenburg († 1606) ist ein würdiger Bruder des großen Oraniers; die Wissenschaft schuldet ihm noch den Lorbeer, den sie Wilhelm dem Schweiger längst gewunden hat. Der weitsichtige Staatsmann und schlachtenerprobte Krieger ist ebenso groß in Kulturwerken des Friedens. Als Jüngling hatte er in Wittenberg zu Füßen Melanchthons gesessen, des »Lehrers Deutschlands«; als Landesherr förderte er das Schulwesen; als reformierter Fürst gründete er die Hohe Schule Herborn: dem reformierten Bekenntnis wollte er durch Erziehung der künftigen Führer des Volkes in reformiertem Geist Kraft zum Wagen wie zum Tragen verleihen. So schuf er 1584 die Hohe Schule, die kein Heidelberg und kein Weimar, aber eine Wartburg und ein Wittenberg geworden ist. In den Namen der ersten Professoren lag ein Programm: Caspar Olevian und Johannes Piscator, heimatlose, in der Wissenschaft wie im Leiden erprobte Männer, fanden hier arbeitsvolle Stille: Olevian, der Mitverfasser des klassischen Heidelberger Katechismus und tiefgründige Denker, und Piscator, der grundgelehrte Bibelforscher und Bibelübersetzer. So einte sich, Jahrhunderte lang den Geist Herborns bestimmend, das Pädagogische mit dem Akademischen.
Lernbegierige Jugend strömte schnell zu. Sie bevölkerte den gymnasialen Unterbau, die vier Klassen des Pädagogiums und die Hohe Schule mit drei (später vier) Fakultäten. Ihre Heimat war Nassau, aber noch viel öfter das Ausland: alle reformierten Gebiete, von Dänemark bis Ungarn, von Schottland bis Danzig, sandten ihre Studenten. Wie mochte sich die naive Schuljugend des Pädagogiums und die lebensfrohe Studentenschaft der Hohen Schule mit dem ernsten, stillen und doch weltumfassenden und weitblickenden Geist der reformierten Kirche vertragen? Daß sie sich vertragen haben, zeigt die in den ersten Jahrzehnten ununterbrochene Fülle von Schülern und Studenten, ja die strenge Schulzucht und die ganz auf wissenschaftliche Ziele gerichtete Arbeit scheint vielen Eltern im Reich und darüber hinaus Herborn besonders als Bildungsstätte ihrer Söhne empfohlen zu haben. Das ist so geblieben, bis der Große Krieg die Blüte knickte; das siebzehnte Jahrhundert hat das sechzehnte nicht mehr erreicht, weder an wissenschaftlicher Leistung der Professoren noch an Zahl der Studenten, und das achtzehnte hat die Hohe Schule zu provinzieller Bedeutung herabgedrückt. Als Napoleon die Hohe Schule aufhob, war sie schon innerlich tot; aber sie war in Ehren gestorben, hatte sie doch das kirchliche Leben des Dilltals zu Ernst, Innerlichkeit und Tatkraft erzogen, dazu dem nassau-oranischen Staat tüchtige Beamte gebildet, die ihn zu einem der bestverwalteten Länder Deutschlands gemacht haben.
Der Nachwelt erscheint heute noch viel bedeutender als die pädagogische Leistung der Hohen Schule die wissenschaftliche Arbeit ihrer Professoren, die ihr einen Ehrenplatz in der Geschichte der Wissenschaften sichern. Johann VI. hat gleichzeitig mit der Hohen Schule eine akademische Druckerei gegründet, aus der über 3000 Werke hervorgegangen sind, zum großen Teil Erzeugnisse Herborner Professoren. Der forschende Geist des Gelehrten und die geschickte Hand des Druckers haben sich Jahrhunderte lang verbündet, Heimat und Fremde mit Büchern zu versorgen und so Anteil zu nehmen am geistigen Leben der Zeit.
Nie hat es der Hohen Schule an bedeutenden Lehrern und Schülern gefehlt. Unter den Theologen ragen außer Olevian und Piscator hervor Wilhelm Zepper († 1607), ein bedeutender Kirchenpolitiker und Theoretiker der theologischen Praxis; Georg Pasor († 1637), ein bahnbrechender biblischer Philolog; Johann Heinrich Alstedt († 1638), ein Mann von unendlichem Wissen. Wir könnten diese Namen mehren bis zum letzten großen Professor H. W. Lorsbach († 1816), der später als Orientalist in Jena mit Goethe befreundet war. Von den Juristen sei Johann Althusius erwähnt († 1638), ein Wegebahner der Rechtswissenschaft, und Ludwig Harscher v. Almendinger († 1827), ein geistvoller Lehrer des Staatsrechts. Herborns berühmteste Schüler sind Johann Buxtorf (hier 1585), der größte Kenner rabbinischer Schriftgelehrsamkeit, und Johannes Amos Comenius (hier 1611), eine der Leuchten der Pädagogik.
So sind denn aus dem Bunde von Forschung und Technik hervorragende Werke hervorgegangen: neben Drucken der Lutherbibel die erste vollständige deutsche Bibelübersetzung nach Luther (1602-1604 von Joh. Piscator), durch ihre reichen Beigaben das erste deutsche »Bibelwerk«. Ferner erschien hier das erste Wörterbuch zum griechischen Neuen Testament (1619 von Georg Pasor), die erste Grammatik des neutestamentlichen Griechisch (1655 von Georg Pasor), das erste Wörterbuch zur Septuaginta (1634 von Z. Rosenbach).
Die Philologie schuf in Herborn ein Lieblingsbuch der Gelehrten, die Sphinx des Pfarrers Joh. Heidfeld (seit 1600 oft gedruckt), ein lateinisches Rätselbuch, ein Dokument hohen Ranges zur Kultur- und Gelehrtengeschichte. Neben ihm steht die erste große Enzyklopädie Deutschlands, ein Riesenwerk von 2500 Folioseiten (1630 von Joh. Alstedt), die das ganze gelehrte Wissen der Zeit auf allen Gebieten zusammenfaßt. Die Heimat gedenkt des ersten nassauischen Geschichtswerks, Johannes Textors »Nassauische Chronik« (Herborn 1630), und der ersten Flora aus Frauenhand (Herborn 1777), in dem die gelehrte Botanikerin Catharina Dörrien in Dillenburg die Pflanzenwelt Oranien-Nassaus ausführlich darstellt.
Herborn ist die einzige Hochschule gewesen, die unser kleines Vaterland gehabt hat; ihr gebührt darum heute noch das dankbare Gedächtnis der nachgeborenen Geschlechter. Preisen wir es als freundliche Fügung, daß sie nicht eine Ruine ist, deren Gemäuer nur der Historiker mit den Gestalten früherer Zeit zu beleben vermag. Der Hauptturm, der immer ihre Stärke war, die theologische Fakultät, steht in Gestalt des Theologischen Seminars der evangelischen Landeskirche in Nassau noch fest. Der älteste Bau Herborns, das altersgraue Oranierschloß, das die Blüte und den Verfall der Hohen Schule geschaut und überdauert hat, beherbergt Jahr um Jahr die jungen Männer, die die Macht einer großen Tradition mit hinausnehmen in das brausende Leben der kirchlichen Gegenwart.